Christliche Erfindung Liberalismus
Dieser Autor versteckt sich nicht. Man muss nur die ersten zwei von fast 400 Seiten lesen, um festzustellen, dass die Frage, mit der er im ersten Satz das Buch eröffnet, für ihn eine rhetorische Frage ist: „Ist es noch sinnvoll, über ‚den Westen‘ zu sprechen?“ Ja, lautet Larry Siedentops klare Antwort, es gibt „den Westen“, auch wenn die Menschen in den Ländern des Westens dies zum großen Teil selbst nicht mehr wahrhaben wollen. Gesellschaftliche Entchristianisierung und Globalisierung hätten lediglich den Blick verstellt auf die wahren Grundlagen des Abendlandes. Gerade vor dem globalen Hintergrund werde aber deutlich, dass sich der Westen in einem Wettbewerb der Glaubenssysteme und Überzeugungen befinde, unter anderem mit dem islamischen Fundamentalismus oder dem krassen Utilitarismus, der Chinas Übergang vom marxistischen Sozialismus zum Quasi-Kapitalismus präge.
Sorge ums Seelenheil jedes Einzelnen
Was also ist „der Westen“? Oder, wenn Richard David Precht das Buch geschrieben hätte: Wer sind wir – und wenn ja, wie viele? Siedentops Antwort: Wir sind viele, vor allem aber viele Einzelne. Denn es ist die „Erfindung des Individuums“, die den Westen zum Westen macht. Sie ist nach seiner Lesart die bahnbrechende Leistung der westlichen Geistes- und Kulturgeschichte und der eigentliche Ursprung des westlichen Liberalismus.
Und wer hat’s erfunden? Nicht etwa, wie viele denken, die Philosophen der Renaissance, die nach dem „finsteren“ Mittelalter die Antike wiederentdeckten; auch nicht die politischen Denker der Neuzeit wie Thomas Hobbes oder John Locke, die Siedentop nur auf den letzten Seiten des Buches kurz erwähnt, nachdem schon alles gelaufen ist. Nein, die Helden in Siedentops Geschichte sind andere: Paulus, der „größte Revolutionär der Geschichte“, Augustinus, Gregor VII., William von Occam, vor allem aber eine Vielzahl von Rechtsgelehrten, Theologen und Philosophen, die zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert den „tiefen“ Grund dafür legten, dass das Individuum zur „organisierenden sozialen Rolle“ wurde. Aus der frühchristlichen Sorge um das Seelenheil jedes Einzelnen erwächst in dieser Erzählung die Überzeugung, dass es in allen Menschen etwas der Gesellschaft Vorgelagertes gibt, einen individuellen Freiraum des Gewissens und der Entscheidung („conscience and choice“), der dann eindeutige Folgen hat für die Frage, wie sich die Ausübung von Herrschaft in Kirche und Gesellschaft noch begründen lässt – nur noch im liberalen Sinne, unter Rückgriff auf die Freiheit und Gleichheit jedes Einzelnen und mit der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre.
Der westliche Liberalismus als christliche Erfindung, das ist die eigentliche Pointe von Siedentops Geschichte. Eine Pointe, die nach seiner Überzeugung viele vor ihm verpasst haben, weil sie den Liberalismus mit Säkularismus gleichgesetzt und letzteren als Glaubensfeindlichkeit missdeutet haben. Dabei hätten Liberalismus und Säkularismus die gleichen religiösen Wurzeln. Und die durch sie geprägte westliche Kultur werde zusammengehalten durch gemeinsame Glaubensüberzeugungen. Eine von Siedentops Kernthesen lautet: „Der Liberalismus beruht auf den moralischen Annahmen, die vom Christentum zur Verfügung gestellt werden.“ In seiner Analyse liefert das christliche Gottesbild die Grundlage, um dem Individuum zunächst einen moralischen Status zu geben und Jahrhunderte später dann auch einen sozialen Status, der mit anderen Rollenverständnissen bricht. Im christlichen Westen ist die primäre soziale Einheit nicht die Familie oder der Stand (wie noch in der antiken Polis), auch nicht die Gemeinschaft eines auserwählten Volkes (wie im Judentum) oder die Gemeinschaft der Gläubigen (wie die islamische Umma), sondern das Individuum.
Die Sprengkraft des Liberalismus bleibt
Das alles sind nicht bloß akademische Gedankenspiele. Schon in den Jahrhunderten ihrer Entstehung im Mittelalter dienten diese christlich-liberalen Denkfiguren mit ihrer Fokussierung auf das Individuum dazu, praktische Probleme der päpstlichen und weltlichen Herrschaftsausübung zu lösen, zum Beispiel um feudale Zwischenstrukturen zugunsten der Zentrale auszuhebeln. Dass dies zumindest im weltlichen Bereich langfristig unbeabsichtigte Nebenwirkungen hatte, steht auf einem anderen Blatt.
Bis heute entfaltet der Individualismus politische Sprengkraft. Das lässt sich besonders deutlich dort ablesen, wo er auf die Spitze getrieben wurde, zum Beispiel im Großbritannien der achtziger Jahre. „There is no such thing as society!“, lautete Maggie Thatchers berüchtigte Rechtfertigung für ihre brachialen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen. Es gibt keine Gesellschaft, sondern nur Individuen, die ihre Interessen verfolgen.
Nach Siedentops Lesart (der sie nicht erwähnt) hätte es Thatcher damit übertrieben. Weil man den moralischen Gehalt des liberalen Säkularismus verkennt, so formuliert er es im Epilog seines Werkes, sei die Versuchung groß, einer von zwei „liberalen Häresien“ zu erliegen: entweder der Verkürzung des Liberalismus auf einen kruden Utilitarismus oder dem Rückzug ins Private. Beide Irrwege betonten die Freiheit zulasten der Gleichheit und beraubten den Liberalismus seines moralischen Wertes, der Wechselseitigkeit, die darin bestehe, uns in anderen wiederzuerkennen und die anderen in uns. In diesem Punkt kann man Siedentop ebenso zustimmen wie hinsichtlich seiner Grundthese: Der Westen ist ein Produkt des Christentums, und wir Menschen in der westlichen Welt wären nicht die, die wir sind, wenn es die geschichtliche Entwicklung des christlichen Abendlandes nicht gegeben hätte.
In allen Punkten überzeugend ist sein Werk dennoch nicht. Das liegt maßgeblich an einer Stilfrage, die inhaltliche Konsequenzen hat. Siedentop hat sich für eine „große Erzählung“ entschieden, die seinem eigenen Bekenntnis nach „mehr Interpretation als Quellenforschung“ umfasst. Vom Schwung dieser Erzählung ließe man sich eigentlich gerne mitreißen – wenn da nicht beständig der Zweifel nagte, ob es nicht etwas zu schwungvoll und glatt dahingeht. Siedentop verweist zwar gelegentlich auf die langen Zeiträume und die Brüche der Entwicklung, aber in der Summe gewinnt man doch den Eindruck einer geradezu zwangsläufigen Entwicklung von den Briefen des Apostel Paulus bis zum Liberalismus der Neuzeit. Etwas mehr Textarbeit wäre auch bei einer Jahrhunderte umfassenden Geistesgeschichte möglich gewesen, und den einen oder anderen Beleg für manche Interpretation hätte man sich doch gewünscht. So aber bleibt es beispielsweise bei der reinen Behauptung, dass der Klerus im 6. und 7. Jahrhundert seine Autorität mit Überzeugungen begründete, die erstens von der Stadtbevölkerung geteilt wurden und zweitens nicht mehr auf die Familie oder die gesellschaftliche Klasse abstellten, sondern auf die Ansprüche des Individuums.
Der offensichtliche Wunsch, den Fluss der Erzählung aufrecht zu erhalten, führt zu Merkwürdigkeiten wie der, dass die Legende über die Wahl des Heiligen Ambrosius zum Bischof von Mailand im Jahr 374 ohne weitere Rechtfertigung als historisches Beispiel für die Nichtexistenz fester Wahlregeln herangezogen wird. Und er führt zu offensichtlichen Widersprüchen, etwa wenn der Autor erst betont, welche Wirkungen die Wahl eines Abtes durch die Mönche in der karolingischen Welt haben konnte, weil sie jemanden aus bescheidenen Verhältnissen in eine herausragende Position im Reich katapultieren konnte – nur um dann wenige Zeilen später als „Beleg“ Alcuin anzuführen, den Karl der Große 797 zum Abt von Tours gemacht habe.
Aber war das auch wirklich so?
Hier zeigt sich das Dilemma der meisten großen Erzählungen. Sie beeindrucken durch ihre Weite, sie lassen manches in neuem Licht erscheinen, sie führen einem vor Augen, dass manches, was man als gegeben hingenommen hat, nicht schon immer da war, sondern irgendwann gemacht wurde. Aber sie fordern auch beständig zum Widerspruch heraus, im Kleinen wie im Großen: War das wirklich so? Lässt sich das belegen? Könnte es nicht auch anders gewesen sein? Könnte man diese große Geschichte nicht auch völlig anders erzählen?
Siedentop ist viel zu gescheit, als dass er das nicht selbst gesehen hätte. Er hat sich trotz der Gefahren für die große Geschichte entschieden, weil ihm der Preis für die Alternative zu hoch erschien: ganz auf den Versuch zu verzichten, die langen Linien einer historischen Entwicklung zu identifizieren und zu verfolgen. Das Ergebnis gibt ihm letztlich Recht, denn es lässt sich wahrlich schlechteres über ein Buch sagen, als dass es stellenweise zum Widerspruch und insgesamt zum Nachdenken anregt.
Larry Siedentop, Inventing the Individual: The Origins of Western Liberalism, London: Allen Lane 2014, 448 Seiten, 23,30 Euro