Wie es sich anfühlt, ein Problem zu sein
Ein Vater schreibt seinem 14-jährigen Sohn. Weil der Vater viel zu sagen hat, vielleicht auch, weil er Journalist ist, schreibt er keinen Brief, keine Email, sondern ein Buch von 240 Seiten. Ein Buch, das ein Dreivierteljahr nach seinem Erscheinen immer noch auf der Bestseller-Liste der New York Times steht, viele Wochen davon auf Platz 1.
Der Vater schreibt Sätze voller Liebe, Dankbarkeit, Pathos: „Die Wahrheit ist, dass ich Dir alles verdanke, was ich habe.“ Die meisten Sätze jedoch sind voller Gewalt und Dunkelheit: „Ich schreibe Dir in Deinem fünfzehnten Jahr …, weil dies das Jahr ist, in dem Du gesehen hast, wie Eric Garner zu Tode gewürgt wurde, weil er Zigaretten verkaufte; weil Du jetzt weißt, dass Renisha McBride erschossen wurde, weil sie Hilfe suchte, dass John Crawford niedergeschossen wurde, weil er sich in einem Kaufhaus die Waren ansah. Und Du hast gesehen, wie Männer in Uniform im Vorbeifahren Tamir Rice ermordeten, ein zwölfjähriges Kind, dass sie hätten schützen müssen, wie sie es mit ihrem Amtseid geschworen hatten. Und Du weißt nun, falls Du es vorher noch nicht wusstest, dass den Polizeieinheiten Deines Landes die Befugnis verliehen wurde, Deinen Körper zu zerstören.“
Ein Vater schreibt seinem Sohn. Der Vater und sein Sohn sind schwarz. Das Land, in dem sie leben, das Land, das der Vater Ta-Nehisi Coates seinem Sohn Samori beschreibt, die Vereinigten Staaten von Amerika, sind ein Land mit einer rassistischen Geschichte und Gegenwart: „In Amerika ist es Tradition, den schwarzen Körper zu zerstören – es gehört zum Kulturerbe.“ Ein Land, in dem Rassismus nicht auf einzelne Taten bösartiger Personen reduziert werden kann. Sondern ein Land, das auf einer rassistischen Illusion gegründet ist; dessen Grundstruktur rassistisch ist, weil seine Einwohner glauben, dass es „Rasse“ wirklich gibt, als abgrenzbares, unbestreitbares Merkmal der Natur. „Dabei ist Rasse das Kind des Rassismus, nicht dessen Vater.“
Fortschritt? Fehlanzeige!
Ein Vater schreibt seinem Sohn. Er erwähnt es nicht, aber er weiß natürlich, dass rund ein halbes Jahrhundert zuvor der schwarze Schriftsteller James Baldwin seinem Neffen einen ähnlichen Brief geschrieben hat, zum 100. Jahrestag von Abraham Lincolns Emanzipationserklärung: „Dieses unschuldige Land hat Dich in einem Ghetto abgesetzt, in dem du verenden sollst. Du wurdest genau dort geboren und hattest genau diese Zukunft zu gegenwärtigen, weil Du schwarz bist – und aus keinem anderen Grund. … Du wurdest in eine Gesellschaft geboren, die mit brutaler Klarheit und auf jede erdenkliche Weise buchstabiert hat, dass Du ein wertloses menschliches Wesen bist.“
Das ist die ernüchternde Antwort auf eine Frage, die W. E. B. du Bois schon 1903 in The Souls of Black Folk thematisiert hatte: „Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein?“ Du Bois konstatierte in der Einleitung zu seinem berühmten Text, es sei diese Frage, um die sich alle herumdrückten, die immer zwischen ihm und der „anderen Welt“ stehe, „between me and the other world“. Ta-Nehisi Coates borgt sich den Buchtitel von du Bois (ohne es zu erwähnen) und beantwortet dessen Frage für unsere Zeit. Die Antwort fällt genauso deprimierend aus wie 1903 oder 1963. Fortschritt? Fehlanzeige!
Länger versklavt als frei
Ein Vater schreibt seinem Sohn. Aber er schreibt natürlich uns allen. Er will, dass sein Sohn weiß, dass wir alle wissen: Es ist immer und unausweichlich der schwarze Körper, auf dem alles mit großer Gewalt landet – die Peitschenhiebe, die Schlagstöcke, die Polizeikugeln –, es ist immer der Körper selbst, der leiden muss. So fühlt es sich nämlich nach wie vor an, ein Problem zu sein. Coates meint es wörtlich, wenn er schreibt: „Rassismus ist eine Erfahrung, die an die Eingeweide geht.“ Er ermahnt seinen Sohn: „Vergiss niemals, dass wir in diesem Land länger versklavt waren als wir frei sind.“ Und: „Du kannst nicht vergessen, wie viel sie von uns genommen haben und wie sie unsere Körper selbst verwandelt haben in Zucker, Tabak, Baumwolle und Gold.“
Ein Vater schreibt seinem Sohn. Er schreibt öffentlich, aber es bleibt ein persönlicher Brief und wird kein akademisch angehauchtes Buch. Sonst hätte der Autor erwähnt, dass diese Verwandlung der schwarzen Körper in Kapital und Waren schon oft beschrieben worden ist. In einem akademischeren Essay hätte Coates, den nicht nur eine Kindheit in den Straßen von Baltimore, sondern auch Jahre an der Howard University geprägt haben, Bestätigung, Widerhall und Widerspruch in den Überlegungen anderer Autoren gesucht und gefunden. Warum das abstrakte Gewaltmonopol des Staates als Knüppel auf den Körpern bestimmter Menschen landet, warum Politik am Ende direkt auf den Leib zielt, dazu findet sich viel Bedenkenswertes in Giorgio Agambens Studie Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Über Agamben wäre Coates zwangsläufig bei Michel Foucault gelandet, seinem Konzept der Biopolitik oder der Studie Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses.
Auch andere werden kleingehalten
Dass Strafjustiz und Gefängnissystem der Vereinigten Staaten zu den Instrumenten gehören, mit denen die einen über die anderen herrschen, ist nicht zu übersehen und ohne Foucaults Hilfe zu erkennen. Aber eine Beschäftigung mit Foucault und anderen hätte vielleicht Coates’ Sinne geschärft für die Frage, ob es nicht ähnliche Herrschaftsinstrumente und -techniken gibt, mit denen andere ebenfalls so klein gehalten werden, dass sie ihren fairen Anteil am Kuchen nicht bekommen. Dass die weiße Mehrheit gefangen ist im Traum von perfekten Häusern mit schönen Rasenflächen, das zementiert eben nicht nur die Rassentrennung in den USA, wie Coates schreibt. Es hat auch Tausende weiße Mittelstandsfamilien in den Ruin geführt, während die Finanzjongleure der Wall Street nach kurzer Pause besser dastehen als zuvor.
Der »Neger« muss nicht schwarz sein
Dass Ta-Nehisi Coates als schwarzer Amerikaner an seinen Sohn Samori schreibt, führt zu Beschränkungen. Die Beschränkungen sind teils bewusst gewählt – sie sind Teil der Botschaft und teils dem literarischen Format geschuldet. Aber sie beschränken sowohl die Tiefgründigkeit der Analyse als auch die Breitenwirkung des Buches. Weil Coates „als Schwarzer“ schreibt, fehlt die Perspektive der Personen, die anderen unterdrückten und ausgebeuteten Gruppen der amerikanischen Gesellschaft angehören. Weil Coates „als Amerikaner“ schreibt, fehlt die globale Perspektive, was nicht zuletzt für sein eigenes Anliegen bedauerlich ist. Welche zusätzliche Wucht hätte sein Werk bekommen, wenn Coates eine Verbindung hergestellt hätte zu dem, was beispielsweise der aus Kamerun stammende Weltbürger Achille Mbembe zu sagen hat?
In seiner Kritik der schwarzen Vernunft, für die ihm 2015 der Geschwister-Scholl-Preis verliehen wurde, stellt Mbembe die These auf, dass die Gefahren, denen früher ausschließlich die schwarzen Sklaven ausgesetzt waren, künftig das Schicksal aller untergeordneten Menschengruppen sein werden, unabhängig von der Hautfarbe. Diese „tendenzielle Universalisierung der conditio nigra“ ist für Mbembe einer der prägendsten Faktoren unserer Zeit. „Der Neger von heute ist nicht mehr nur ein Mensch mit afrikanischen Wurzeln, sondern eine untergeordnete Kategorie der Menschheit, ein überflüssiger … Teil, der für das Kapital kaum einen Nutzen darstellt.“
Was würden syrische Väter schreiben?
Ein Vater schreibt seinem Sohn. Ihre Beziehung ist einzigartig. Aber vieles in ihrer Beziehung und ihrem Leben ist es nicht. Andere Väter, andere Mütter teilen die Erfahrungen von Erniedrigung, aussichtslosem Kampf und Gefangensein in einer sozialen und historischen Konstellation, aus der es kein Entrinnen gibt. Sie lieben ihre Kinder mit der gleichen Hingabe und sorgen sich aus genauso guten Gründen um deren Zukunft. Es ist ein sehr persönliches Buch eines bestimmten Vaters an seinen einzigartigen Sohn. Es ist zugleich ein wichtiger Beitrag zu der Auseinandersetzung der Amerikaner über die Zukunft ihres Landes, über den Rassismus, den es auch unter dem ersten schwarzen Präsidenten noch gibt, über die Frage, ob #blacklivesmatter vom Schlachtruf zur allseits akzeptierten Selbstverständlichkeit werden kann. Wer sich für diese Auseinandersetzung interessiert, wer sich für Amerika ernsthaft interessiert, sollte dieses Buch lesen.
Weil es ein politisches Buch ist, das Fragen stellt: nach der nationalen Identität und Zusammengehörigkeit, nach Gründungsmythen und -lügen eines Landes, nach institutionalisiertem Rassismus und gewohnheitsmäßiger Gewalt. Zwischen mir und der Welt ist aber auch ein Buch, das zur aktuellen Debatte in Deutschland passt. Und wenn es nur zu Gedankenexperimenten anregt: Was schreibt der syrische Vater seinen Kindern, mit denen er vor dem Bürgerkrieg aus ihrer Heimat geflohen ist? Was schreibt eine Mutter, die in Deutschland zu den Abgehängten gehört, ihren Kindern, deren Aussichten auf Erfolg in Schule und Beruf durch den sozialen Status ihrer Eltern geschmälert werden?
Ein Vater schreibt seinem Sohn. Er schreibt uns allen. Vielleicht sollten auch wir alle unseren Kindern schreiben, selbst dann, wenn wir zur Gruppe der Privilegierten in unserem Land und auf dieser Welt gehören. Sollten uns keine dunklen und mahnenden Worte einfallen, blieben immer noch die Sätze voller Liebe, Dankbarkeit und Pathos. Wäre nicht das Schlimmste.
Ta-Nehisi Coates, Zwischen mir und der Welt, Berlin: Hanser 2016, 240 Seiten, 19,90 Euro