Die Roadshow der Zuversicht
Schenkt man dem britischen Wochenblatt The Economist Glauben, dann ist Deutschland "the sick man of the European Union" - der kranke Mann Europas. Keine sehr schmeichelhafte Einschätzung, die uns da zuteil wird. Aber wohl doch, in vielem, eine zutreffende: Gemessen am durchschnittlichen Wachstum des Bruttosozialprodukts seit 1996, ist die Bundesrepublik mit 1,1 Prozent hinter dem Mittelwert der Euro-Länder (2,2 Prozent) arg ins Hintertreffen geraten. Bei einer anhaltend schwachen Binnenkonjunktur und unsicheren Aussichten auf die Entwicklung der Weltwirtschaft ist nicht absehbar, wann die gegenwärtige Stagnation allmählich wieder in eine Aufwärtsbewegung übergehen wird.
Das Testat des Krankseins bezieht sich aber, weit über den Wachstumsvergleich hinaus, vor allem auf die strukturellen Defizite unserer Volkswirtschaft. Ob Krankenversicherung oder Rente, ob Arbeitsmarkt oder Bildungswesen: Keine der Grundsäulen, die für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft entscheidend sind, wirkt noch wetterfest angesichts der dramatischen Umfeldveränderungen, deren Zeuge wir seit einigen Jahren geworden sind und auch weiterhin bleiben werden. Bundeskanzler Schröder brachte es in seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 auf den Punkt: "Unsere Sozialsysteme sind seit 50 Jahren in der Struktur praktisch unverändert geblieben" - und müssen deshalb, so darf man weiterlesen, an Haupt und Gliedern erneuert werden; nicht nur im Kleinen, sondern zwingend auch in ihren Strukturen.
Weil das so ist, hat der Kanzler uns einen der weitestreichenden Reformansätze beschert, die in der deutschen Politik je entwickelt wurden: die Agenda 2010. Allen Unkenrufen seitens der parlamentarischen Opposition, der Interessengruppen und der Publizistik zum Trotz: Hinter dem eher unscheinbaren, bescheiden nach "Tagesordnung" klingenden Label der Agenda verbirgt sich ein Umbauprogramm, nach dessen schrittweiser Abarbeitung - die allerdings Jahre in Anspruch nehmen wird - wir diese Gesellschaft, dieses Land nicht mehr wiedererkennen werden. Wir werden unser Rentensystem nicht mehr wiedererkennen, weil die gesetzliche Versorgung der heute schon Alten auf ein eher symbolisches Maß sinken wird, während die Jungen gut beraten sind, sich privat abzusichern. Wir werden unser Gesundheitssystem nicht mehr wiedererkennen, weil es mit der bisherigen, umlagefinanzierten Vollversorgung demnächst fast gar nichts, mit dem Prinzip der privaten Auto- oder Haftpflichtversicherung jedoch immer mehr zu tun haben wird. Und auch auf dem Arbeitsmarkt werden wir uns die Augen reiben angesichts eines Zwangs zur Flexibilität und Mobilität, der nicht nur manchen Gewerkschaftsfunktionär wehmütig an die lebenslange Zugehörigkeit zu ein und demselben Betrieb zurückdenken lassen wird.
So einfach gesagt, so schwer zu machen
Wandel also allenthalben, der in Summe einer Revolution gleichkommt - einer Umwälzung der bestehenden Verhältnisse: Das ist die Perspektive, vor der wir stehen. Und derentwegen Gerhard Schröder zu Recht folgert: "Entweder wir modernisieren - oder wir werden modernisiert". So einfach ist das. Aber eben auch so schwer.
Schwer ist die Steuerung eines Reformprozesses von dieser Tragweite in Deutschland zum einen deswegen, weil es in unserem komplexen, zunehmend unbeweglichen politisch-föderalen System für die jeweiligen Gegenkräfte ein Leichtes ist, einen Gesetzentwurf bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern. Statt des großen Wurfes bleibt dann oft nur der - alle Einfluss-gruppen halbwegs befriedigende - Formelkompromiss, den die Volksvertreter mit einem seufzenden "Besser als gar nichts" passieren lassen. Schwer ist das Durchziehen von Reformen aber auch deshalb, weil die viel zitierte "Vierte Gewalt" der Medien als veröffentlichte sowie Volkes Stimme als öffentliche Meinung, sich ein Durchziehen eben nicht bieten lassen.
Vor diesem Hintergrund ist Gerhard Schröder - und auf ihn kommt es zunehmend an - in den nächsten Monaten, vielleicht auch Jahren, an einer Front gefordert, die ihm zuletzt mehr Schwierigkeiten bereitet hat, als man gerade bei ihm vermutet hätte: die Front der politischen und gesellschaftspolitischen Kommunikation. Zwar deuten Umfragen inzwischen darauf hin, dass eine wachsende Mehrheit der Deutschen den Zwang zu grundlegenden Reformen anerkennt. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass die Agenda als der einzig richtige Weg gilt. Und ebensowenig kann Schröder davon ausgehen, dass die Deutschen mehrheitlich der Auffassung sind, nur er könne ihnen den Weg in eine bessere Zukunft weisen.
Vor Gerhard Schröder liegt deshalb ein langer Weg des Erläuterns, des Vermittelns und Beschwörens; ein Weg unermüdlicher Überzeugungsarbeit. Ein Weg auch, der den einstigen Fernsehkanzler zum Umsteuern zwingt. Weniger Medien, mehr Marktplätze - das könnte eine der Korrekturen sein, die jetzt vorgenommen werden müssen.
Welche Grundregeln der Kommunikation könnte, welche sollte der Kanzler befolgen, damit der vor ihm liegende Weg sein Königsweg wird? Zunächst: Ein Patentrezept gibt es mit Sicherheit nicht. Denn selbst die klügsten Auguren können nicht wissen, welche externen Schocks die nächsten Monate und Jahre bringen werden - in Wirtschafts-, Handels- oder Währungsfragen, in Natur und Umwelt, an den Krisenherden dieser Welt. Die nächste Rezession, eine neuerliche Flut, ein Krieg - all dies kann den klügsten Plan zunichte machen, der durchdachten Kommunikation die Grundlage entziehen. Insoweit wird es auch künftig auf die Improvisation ankommen. Dies darf aber kein Alibi für fehlende Strategie sein. Am Anfang des Ausrollens der Agenda in Richtung Gesamtbevölkerung hat ein Kommunikationskonzept zu stehen. Und dieses könnte auf mindestens fünf - gar nicht so komplizierten - Säulen ruhen. Diese seien in den nächsten Absätzen beschrieben.
Erstens: Ehrlich bleiben, ehrlich werden
Der Kanzler hat den Deutschen in seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 in bemerkenswerter Offenheit gesagt, dass es - bei allen bleibenden Vorzügen - im Grunde schlecht steht um unser Land. Das ist anzuerkennen. Trotzdem hat man zuweilen den Eindruck, dass uns die Wahrheit über die Misere nur scheibchenweise vermittelt wird. Wie ist es sonst zu erklären, dass die jeweils jüngste Steuerschätzung die Konzepte der Bundesregierung über den Haufen zu werfen scheint, ja geradewegs als willkommener Anlass für chaotisch wirkende Kurskorrekturen genommen wird? Sitzen in den zuständigen Häusern nicht genügend hoch qualifizierte Volkswirte und Finanzexperten, die absehen können, wie tief das Loch in den öffentlichen Haushalten ist beziehungsweise sein wird? Warum werden wir immer noch in dem Glauben gelassen, die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung könnten bei 13 Prozent gehalten werden, während es doch in Wahrheit schwierig sein wird, ihren Anstieg in Richtung 15 Prozent noch aufzuhalten? Und warum sagt niemand den jungen Menschen klar ins Gesicht, dass sie sich besser heute als morgen von der Vorstellung verabschieden sollten, sie würden im Alter eine halbwegs zumutbare gesetzliche Rente beziehen?
Vertrauen der Menschen in das Handeln, aber auch in die Worte der Regierenden - das ist die Voraussetzung für nachhaltige Politik. Wir können uns keine Verklausulierungen (und auch keine "Kakophonie"!) mehr leisten. Was wir brauchen, ist ein schonungsloser Kassensturz. Und wenn Hans Eichel gegenwärtig nicht die Position hat, diesen abzuliefern - dann muss es eben der Kanzler tun. Er höchstpersönlich muss jeden von uns in die Tiefe der Haushaltslöcher blicken lassen, um sagen zu können: "Seht, wo wir nach Jahrzehnten des Schuldenmachens gelandet sind. Entweder laden wir das bei unseren Kindern ab - oder wir ziehen jetzt die Notbremse".
Als hilfreich und ermutigend könnte sich in diesem Zusammenhang ein gelegentlicher Blick über die Grenzen erweisen: Im Schweden Göran Perssons ist es gelungen, die Defizitquote von 12 Prozent auf nahezu Null zu reduzieren; die Arbeitslosigkeit sank infolge einer rigorosen Spar- und Reformpolitik von 15 auf vier Prozent. Und an Direktinvestitionen aus dem Ausland mangelt es auch nicht. Der Benchmark zeigt: Nichts ist unmöglich!
Zweitens: In die Fläche gehen
Gerhard Schröders Bühne war lange Zeit das Fernsehen. Der Charmeoffensive des Blauäugigen erlagen Moderatoren wie Zuschauer bis weit ins vergangene Jahr hinein selbst dann noch, als der in die Haifischkragen seiner Hemden eingezwängte Kanzler bereits angestrengt zu wirken begann. Spätestens seit dem Imageeinbruch der Jahreswende 2002/2003 ist aber klar: Der gelegentliche Fernsehauftritt, das gesetzte, abgelesene Wort oder das höfliche Bedienen einer Anne Will - all dies reicht nicht mehr aus, um die Deutschen von der Richtigkeit der Regierungspolitik zu überzeugen. Wenn der Kanzler die Menschen gewinnen will, muss er zu ihnen gehen; die innerparteilichen Regionalkonferenzen weisen in die richtige Richtung, können aber nur der Anfang gewesen sein. Gefordert ist jetzt eine flächendeckende Roadshow in die Zentren, aber auch in die Winkel dieser Republik - dorthin, wo man oftmals nur den Kopf schüttelt über das, was in Berlin fabriziert wird. Einst waren es die mittelalterlichen Könige, die unter Inkaufnahme von viel Mühsal durchs Land zogen, um ihren Untertanen näher zu kommen. Untertanen gibt es nicht mehr - den Zwang, die Menschen direkt anzusprechen, die Begegnung mit ihnen zu suchen, umso mehr. Und das heißt konkret: Dieser Kanzler muss in die Betriebe, in die Schulen, auf die Plätze gehen, um in einfachen, klaren Worten zu erklären, was es mit der Agenda auf sich hat. Warum es zu ihr keine Alternative gibt. Und dass es infolge ihrer Realisierung durchaus wieder bergauf gehen kann. "Campaigning" wandelt sich mithin von der wahlkampfbezogenen Ausnahme zum gouvernementalen Regelzustand. Ein Wandel, der eigentlich ganz im Sinne dieses Kanzlers sein müsste - vorausgesetzt, ihm bleibt die Zeit dafür.
Drittens: Partner suchen
Vieles kann ein Kanzler alleine schaffen. Bei einem Reformansatz vom Ausmaß der Agenda 2010 jedoch wird er ohne Partner scheitern. Das ist schon die Lehre der ersten Monate nach der Regierungserklärung vom 14. März: Die Gewerkschaften nicht zum Partner zu haben kann selbst bei abnehmender Bedeutung der organisierten Arbeitnehmerschaft gefährlich werden. Es geht aber bei weitem nicht nur um die Gewerkschaften. Über 600.000 Parteimitglieder sind die geborenen Multiplikatoren für das Programm der SPD; man muss sie aber auch mobilisieren. Noch wichtiger freilich wird es sein, Partner außerhalb des eigenen Lagers zu finden: in den Verbänden, den Unternehmen, den großen, parteiübergreifenden Bürgerorganisationen; in Stiftungen, Vereinen und natürlich auch in den Redaktionen. Was der Kanzler braucht, ist ein Netzwerk an Unterstützern; ein Geflecht überzeugter Befürworter; und besser noch, da aktiver: einen Kreis aus Botschaftern, die neben ihm und an seiner Statt für die Agenda werben. Verona Feldbusch und Alice Schwarzer, so war unlängst zu lesen, machen schon mal mit. Das ist klasse. Aber der Kreis darf noch erweitert werden: um Verbandschefs, die das gesellschaftliche Ganze im Auge haben. Um Mittelständler, die aus eigener Erfahrung wissen, was die Stunde geschlagen hat. Um Sportler, die helfen, den Gedanken einer Leistungsgesellschaft zu transportieren. Und übrigens auch um Intellektuelle und Leitartikler, die endlich aufhören, im Geist der siebziger oder achtziger Jahre zu schwelgen. Partner zu finden, die das Anliegen der Agenda mit- und die Elemente der Agenda in die Bevölkerung tragen - das ist, was einer ambitionierten Reformkommunikation zum Erfolg verhelfen kann.
Viertens: Mit Themen kommen
Wenn wir in Deutschland über Reformen reden, dann reden wir - siehe oben - über Rente und Gesundheit, über Bildung und Arbeitsmarkt. Das ist auch richtig und wichtig. Denn auf diesen Gebieten sind nun einmal die stärksten Verkrustungen anzutreffen. Also muss auf diesen Gebieten aufgeräumt, neu sortiert, reformiert werden. Aber wir wollen ehrlich sein: Im Grunde hängen uns diese Themen zum Halse heraus. Irgendwie kann es keiner mehr hören. Man schlägt morgens die Zeitung auf, und wieder heißt es: Neues Loch im Staatshaushalt. Rente vor dem Kollaps. Krankenversicherung bittet zur Kasse.
All dies muss in unsere Köpfe hinein, ja. Denn wir wollen (siehe Punkt 1) Ehrlichkeit. Aber in unseren Köpfen ist Platz für mehr! Dass die Sozialsysteme, im Rückspiegel betrachtet, "seit fünfzig Jahren unverändert" geblieben sind, ist die eine Sache. Dass aber die kommenden fünfzig, und schon die kommenden fünf Jahre sehr dramatische, aber auch sehr spannende, Zuversicht spendende Veränderungen bringen werden - das ist die andere. Und von diesen Veränderungen, aus denen Chancen resultieren, muss der Kanzler auch sprechen. Mit diesen Chancen muss er wuchern. Mit diesen Themen muss er kommen. Welche Themen sind das?
Es sind, um nur drei zu benennen: die ungeheuren Möglichkeiten der digital vernetzten Welt; die Potentiale der Lebenswissenschaften und der Nachhaltigkeit; sowie die fulminanten ökonomischen und kulturellen Stärken eines erweiterten Europa. Drei Quellen, aus denen wir neue, ungeahnte Kraft schöpfen können: So wird das "Internet der Dinge" (statt nur: der Computer) nicht nur volkswirtschaftliche Produktivität und betriebliche Effizienz steigern, sondern auch das private Leben durch neue Angebote, kürzere Wege und geringere Kosten angenehmer machen. Deutschland ist in der Nutzung des Internet keineswegs hintenan; und doch sind die Möglichkei-ten, beispielsweise in der Verwaltung (E-Government) oder dem Gesundheitswesen (E-Health) noch keineswegs ausgeschöpft. Darauf sollten wir mehr volkswirtschaftliche Ressourcen, aber davor noch unsere Aufmerksamkeit lenken - eine zukunftsgewandte Aufgabe, die dem Kanzler gut zu Gesicht stünde.
Dasselbe gilt für die Potentiale der Lebenswissenschaften (life sciences) und der Nachhaltigkeit: In der Chemie- und Pharmaindustrie ist Deutschland ohnehin bestens positioniert. Künftig geht es darum, durch modernste Medizintechnik, Biotechnologie und den dosierten, verantwortungsbewussten Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft zu einem neuen, nachhaltigen Gleichgewicht zwischen Mensch, Natur und Technik zu gelangen. Hier kann Deutschland aufgrund vorhandener Forschungskapazitäten eine weltweite Vorreiterrolle einnehmen. Voraussetzung ist allerdings, dass wir die "vitale Gesellschaft", wie der Bundesverband der Deutschen Industrie es nennt, auch wirklich wollen. Und dass kein geringerer als der Kanzler sie propagiert.
Schließlich, aber eigentlich ganz am Anfang, Europa, die Erweiterung der EU: ein mutiges, ein gigantisches Projekt. Ein Vorhaben, das die Handlungs-fähigkeit und die Belastbarkeit der europäischen Insti-tutionen bis aufs Äußerste testet - weswegen es im Gebälk, siehe Konventverhandlungen, zuweilen mächtig knarrt. Ein Vorhaben aber auch, dass gerade für Deutschland enorme Zukunftschancen mit sich bringt - ökonomisch, sicherheitspolitisch, kulturell. Diese Chancen gilt es zu nutzen. Der Kanzlerschaft Gerhard Schröders fehlt bislang eine erkennbare europäische Signatur. Ihr fehlt die Leidenschaft, mit der Gleichgesinnte aus dem Kreis europäischer Sozialisten - Delors, Gonzalez - früher für Europa kämpften. Noch kann auch ein Gerhard Schröder zum Europäer mutieren. Aber er muss es aus Überzeugung wollen. Und er muss uns, den Menschen in Deutschland, mit sehr viel mehr Herzblut als bislang vermitteln, warum der europäische Weg der richtige ist.
Fünftens: Eine Vision anbieten
Vielleicht ist es von einem Pragmatiker, wie Schröder ihn gerne gibt, viel verlangt. Aber in einem Umfeld der Verunsicherung, der Ort- und Orientierungslosigkeit sind Visionen gefragt: Die Politik muss aufzeigen, was morgen kommt. Sie muss erläutern, wofür wir uns eigentlich anstrengen. Sie muss ein Bild zeichnen von der Welt, auf die wir zusteuern. Ansätze sind beim Kanzler durchaus erkennbar. So will er, dass aus Deutschland wieder ein "Zentrum der Zuversicht" wird (Regierungserklärung, 14. März 2003). Ein "modernes, gerechtes Deutschland in einem starken Europa" (Sonderparteitag, 1. Juni 2003) - das ist, was Gerhard Schröder vorschwebt. Und dafür will er alle verfügbaren Kräfte, über die dieses Land verfügt, mobilisieren.
Die Zielbeschreibung geht in die richtige Richtung. Sie könnte aber noch weiter reichen. Letztlich steuern wir zu auf eine Gesellschaft, in der Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich nicht mehr neben, sondern nur noch durch Leistung und den Willen zu anhaltender Erneuerung hergestellt werden können. Auch das Verständnis dessen, was gerecht ist, wird sich wandeln: Gerechtigkeit wird zunehmend als Chancen- und Generationengerechtigkeit, weniger als Verteilungsgerechtigkeit verstanden werden. Im "modernen, gerechten Deutschland", das Gerhard Schröder vorschwebt, werden wir nicht nur mehr und härter arbeiten, sondern auch ein bedeutend größeres Maß an Eigenverantwortung tragen müssen. Erhebt der Sozialstaat heute noch den Anspruch der Statussicherung, so wird er sich künftig mit dem Ziel der Existenzsicherung bescheiden müssen - auch das wird die Gesellschaft prägen, auf die wir zusteuern. Aber es ist genau diese - und nur diese - Gesellschaft, in der sich dem Einzelnen dauerhaft mehr Entfaltungs-, mehr Darstellungs- und letztlich auch mehr Wohlstandsperspektiven eröffnen, als Deutschland sie derzeit bieten kann.
Am Horizont allen Strebens steht möglicherweise das, was man als "Gesellschaft im Gleichgewicht" bezeichnen könnte; ein ziviles Gesamtsystem, in dem die Vielzahl gegenwärtiger Dissonanzen - zwischen Jungen und Alten, Großindustrie und Kleinbetrieben, Begabten und Benachteiligten, Inländern und Zugezogenen - sich auflöst zugunsten eines starken Geflechts aus Gemeinsinn und Verantwortung. Jeder von uns hat zu diesem "neuen Gleichgewicht" seinen individuellen Beitrag zu leisten; aber jeder soll davon dann auch seinen Vorteil haben. Unser aller Auftrag ist es, diese Balance schrittweise herbeizuführen. Gerhard Schröders Mission wird es werden, sie zu propagieren - durch umsichtige und nachvollziehbare, dann aber auch mitreißende, ansteckende Kommunikation. Gelingt ihm dies, dann wird der "kranke Mann", von dem eingangs die Rede war, nur eine vorübergehende Erscheinung gewesen sein. Hoffen wir, dass es so kommt.