Ein lichter Tempel aus Glas

Vertreter wirtschaftlicher Interessen genießen keinen guten Ruf. Dabei sind Lobbyisten keineswegs "Ritter der Finsternis", sondern werden im politischen Prozess zunehmend gebraucht. Entscheidend sind Transparenz und klare Regeln

Zu den Beständen der Neuen Nationalgalerie in Berlin zählt ein Bild, welches viele von uns noch aus dem Geschichtsunterricht kennen: George Grosz’ „Stützen der Gesellschaft“. Das im Jahr 1926 entstandene Gemälde zeigt dadaistisch verzerrte Figuren – einen Geistlichen, einen Fabrikanten, einen Militär –, die sich die noch junge, schwächelnde Weimarer Republik ruchlos unter den Nagel gerissen haben. Die Botschaft ist klar: Der Staat ist fest in den Händen straff organisierter Interessengruppen. Und diese, so darf man das Bild interpretieren, treiben das Gemeinwesen über kurz oder lang mindestens in den Ruin, wenn nicht gar in den Krieg. An den Betrachter gerichtet, heißt dies: Hüte Dich vor Einflüsterern, Strippenziehern oder Geldgebern jeglicher Couleur. Sie wollen das Beste nur für sich selbst – der Staat hat ihren Zielen zu dienen.

Im Vergleich zu der gereizten Stimmung in den zwanziger Jahren, als das Donnergrollen der Totalitarismen von links und rechts schon unüberhörbar war, bewegen sich die politischen Debatten unserer Zeit in ruhigem Fahrwasser. Gleichwohl stoßen besonders Versuche der Wirtschaft, sich aktiv in politische Prozesse einzubringen, bei vielen Parlamentariern auf wachsende Ablehnung.

Ein entsprechender Reflex war in jüngerer Zeit wiederholt in der Sozialdemokratie zu beobachten: So verkündete Generalsekretär Hubertus Heil im März 2006, man werde sich bei den Verhandlungen zur Gesundheitsreform „nicht von Lobbygruppen des Gesundheitswesens umblasen lassen“. Einige Wochen später mahnte Fraktionschef Peter Struck, in kaum einem Bereich gebe es so viele Lobbyisten wie im Gesundheitswesen. SPD und Union sollten sich deshalb „unterhaken“ und „standhaft sein“. Als die Union in den Schlussverhandlungen im Januar 2007 eine weiterreichende Vergemeinschaftung der Privaten Krankenversicherung gerade noch verhindern konnte, grollte Struck: „Lobbyinteressen finden bei unserem Koalitionspartner eben mehr Gehör.“ Das SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles wiederum sah den Moment gekommen, der Privaten Krankenversicherung zu gratulieren: „Sie hat die beste Lobbyarbeit in Berlin. Und sie hat einen parlamentarischen Arm, der heißt CDU/CSU“.

Der Wirtschaft schlägt Skepsis entgegen

Die verschiedenen Einlassungen zeigen eines: Die Versuche der Wirtschaft, die Gesetzgebung mitzugestalten, werden zunehmend mit Skepsis betrachtet. Dabei geben sich Parlamentarier, aber auch Zeitungskolumnisten und Talkshow-Moderatoren wenig Mühe, die zuweilen heftig geführte Kontroverse über den Einfluss der Lobbyisten auf die Politik zu versachlichen. Im Gegenteil: Gerade auf der öffentlichen Bühne kommt es inzwischen gut an, die Verantwortlichen für die anhaltende Strukturschwäche weniger bei Regierung oder der Opposition, sondern außerhalb der parlamentarischen Arena zu suchen. Zu hohe Preise für Strom und Gas? Bitte wenden Sie sich an die Energieversorger. Die haben den Markt, so heißt es, gleichsam oligopolistisch unter sich aufgeteilt. Kein Tempolimit trotz Klimakatastrophe? Das kann nur am massiven Gegendruck der Automobilindustrie liegen. Und warum muss ich für meine Gesundheit immer mehr Geld auf den Tisch legen? „Damit die Pharma-industrie ihre Gewinnmargen halten kann.“

Angesichts dieser zunehmend verzerrten, von den Medien – übrigens nicht nur den als progressiv geltenden – noch verstärkten Wahrnehmung, ist in der Lobbyismus-Debatte vor allem eines gefragt: mehr Nüchternheit. Natürlich stimmt es, dass nahezu jede Branche darum bemüht ist, sich mit ihren spezifischen Anliegen in die Gesetzgebungsprozesse einzubringen. Und wer lange sucht, wird dabei möglicherweise auf Fälle stoßen, bei denen die Grenze zwischen der Artikulation legitimer Interessen und der Gewissensfreiheit des Abgeordneten gemäß Artikel 38 Grundgesetz nicht durchgehend respektiert wurde. Richtig ist auch, dass dem politischen Betrieb in Deutschland jene historische Phase, in der für die „Pflege der politischen Landschaft“ viel Geld in die Hand genommen wurde, noch immer tief in den Knochen steckt. Deshalb ist es wichtig, dass Lobbying sich nicht im rauchverhangenen Hinterzimmer, sondern möglichst transparent abspielt.

Sind die Treuhänder käuflich?

Vollkommen zu Recht hat EU-Verwaltungskommissar Siim Kallas eine entsprechende Initiative gestartet. Nur durch klare und nachvollziehbare Spielregeln für den Umgang zwischen Industrievertretern und Parlamentariern oder Regierungsbeamten kann den Bürgern die Sorge davor genommen werden, dass die Treuhänder ihres politischen Willens käuflich sind. Vergleichbare Regeln sind im Prinzip auch in Deutschland denkbar, solange sie nicht über das Ziel – also die Unterbindung unzulässigen Verhaltens oder gar krimineller Energie – hinausschießen. Wenig zielführend erscheint an dieser Stelle das Ansinnen, sämtliche Einkünfte von Lobbyisten für jedermann offenzulegen. Keinem anderen Berufsstand wird eine derartige Selbstentäußerung zugemutet.

Hilfreicher wäre es, wenn die Politik (einschließlich der Sozialdemokratie) klarmachen würde, dass Lobbyisten keine „Ritter der Finsternis“ sind, sondern legitimierte Mitspieler im politischen Prozess, die zunehmend gebraucht werden: Die moderne Gesetzgebung hat eine Komplexität erreicht, die kein Beamter oder Abgeordneter alleine bewältigen kann. Gleichzeitig neigt der Staat dazu, sämtliche Lebens- und Wirtschaftsbereiche zu regulieren. Damit steigt zwangsläufig die Gefahr, dass Gesetze verabschiedet werden, bei deren Ausgestaltung der Sachverstand der betroffenen Branchen nicht in ausreichendem Maße zu Rate gezogen wurde.

Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Seit dem Spätsommer 2006 wird in Deutschland auf den bislang von der Mineralölsteuer befreiten Biodiesel in Reinform eine Steuer erhoben. Dadurch schmilzt der Preisvorteil dieses Brennstoffs an der Tankstelle merklich zusammen. Die Folge: Autofahrer haben kaum noch einen Anreiz, auf den alternativen Kraftstoff umzusteigen oder ihm treu zu bleiben. Der Bundesfinanzminister wollte mit der schrittweisen Einführung einer Steuer auf Biodiesel absehbare Steuerausfälle minimieren. Dem stehen die Interessen vieler mittelständischer Biokraftstoffhersteller entgegen, deren Absätze zurückgegangen sind. Dies hätte mit einem gründlicheren Abgleich der Interessen vielleicht vermieden werden können.

Die Anhörung als Ritual

So stellt sich die Frage, wie die Industriezweige, die von einem Gesetzentwurf besonders betroffen sind, stärker eingebunden werden können. Immerhin ist die parlamentarische Anhörung fest im Gesetzgebungsprozess verankert. Und in Einzelfällen können Anhörungen dazu führen, dass ganze Kabinettsbeschlüsse noch einmal zur Disposition gestellt werden. Dies erleben wir derzeit beim Streit um die Urheberrechtsreform: In mehreren Anhörungen von Urhebern, Verwertern und Geräteherstellern wurde keine Einigung erzielt – der Prozess zieht sich unnötig in die Länge.

Von diesem Beispiel einmal abgesehen, erweist sich das Instrument der Anhörung allzu oft als Ritual. Um Überraschungen auszuschließen, wird die Rollenverteilung im Vorfeld minutiös abgestimmt. Ausgewählten Experten wird schon im Vorfeld mitgeteilt, wann welcher Abgeordnete sie zu welchem Teilaspekt eines Gesetzentwurfs befragen wird. Entsprechend punktgenau können jene Branchenvertreter, die gute Kontakte ins Ausschusssekretariat oder zu den Berichterstattern haben, sich auf die Anhörung vorbereiten, um dann ihr vorformuliertes Statement abzulesen.

Da die meisten Anhörungen dementsprechend berechenbar sind, ist dieses parlamentarische Mittel über die Jahre sichtbar abgestumpft. Moderner und effektiver erscheinen dagegen die Konsultationsverfahren, die die EU-Kommission einberuft, wann immer sie ein Vorhaben größeren Ausmaßes in die Wege leitet. Aus Sicht der Wirtschaft ist dabei von Vorteil, dass ihre Vertreter bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, in der Regel bei der Vorlage eines Grünbuches, in die entsprechenden Gremien entsendet werden dürfen.

So will die Kommission beispielsweise in der zweiten Jahreshälfte 2007 ein Grünbuch zur Verbesserung des Stadtverkehrs vorlegen. Vorab sind alle Betroffenen – von den Mobilitätsanbietern bis zum interessierten Bürger – im Rahmen einer offenen Konsultation aufgefordert, ihre Vorstellungen einzubringen und sinnvolle Maßnahmen vorzuschlagen.
Ein solches Verfahren stellt sicher, dass ein betroffener Industriezweig sich nicht durch ein Gesetz oder eine Richtlinie übergangen fühlt. Zugleich kommt nicht der Verdacht auf, dass Kommissionsbeamte oder EU-Parlamentarier sich hinter verschlossenen Türen von Branchenvertretern bedrängen oder vom Kurs abbringen lassen. Denn es gehört zum Wesen der Konsultationen, dass sie so transparent wie möglich ablaufen. Hinzu kommt: Anders als bei Anhörungen sitzen Gesetzgeber und Wirtschaft nicht nur einmalig für wenige Stunden zusammen, sondern treten in einen regelrechten Prozess der sachorientierten Zusammenarbeit ein – mit dem erklärten und höchst sinnvollen Ziel einer „better regulation“, für die sich besonders Industriekommissar Günter Verheugen stark macht.

Zu klären wäre also, inwieweit die in Brüssel bereits erprobten und etablierten Konsultationsmethoden auf Deutschland übertragbar sind. Längst hat die Politik auch hier damit begonnen, den Unternehmen und Stakeholdern neue Plattformen anzubieten, auf denen sie ihre Standpunkte einbringen können.

Ideologische Konfrontation hilft nicht weiter

So lud schon der damalige Kanzler Helmut Kohl, als es um den wirtschaftlichen Aufbau der neuen Bundesländer ging, vorzugsweise Verbandsvertreter, aber auch ausgewählte Unternehmer regelmäßig zur „Kanzlerrunde“ ein, um über Maßnahmen für eine solide Reindustrialisierung an Oder, Elbe und Spree zu beraten. Gerhard Schröder, ohnehin kein Freund allzu starrer Grenzen zwischen Wirtschaft und Politik, pflegte quer über Branchen und Parteivorlieben hinweg den teils formalisierten, teils bewusst informellen Dialog mit ausgewählten „Bossen“, etwa aus der Energie- oder Automobilindustrie.
Auch Angela Merkel konzentriert sich auf Schlüsselbranchen, mit denen sie Konferenzen veranstaltet, etwa den IT-Gipfel am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam im Dezember 2006. Die Unternehmen werden in die Vorbereitungen solcher Treffen intensiv eingebunden. Niemand will sich nachsagen lassen, Programme in die Welt zu setzen, die nicht von der jeweiligen Industrie mitgetragen würden. Die Beispiele zeigen, dass der Dialog zwischen Wirtschaft und Politik in Deutschland mancherorts durchaus reibungs- und emotionslos funktioniert. Wo dies der Fall ist, setzt sich ganz offenkundig die Erkenntnis durch, dass Politik noch bessere Ergebnisse (sprich: Gesetze) zu produzieren vermag, wenn sie sich des Know-hows und der Branchenkenntnis der Wirtschaft bedient. Vor diesem Hintergrund kann sogar die zuletzt heftig umstrittene Entsendung von Industrievertretern in Bundesministerien sinnvoll sein – vorausgesetzt, die Legislative und die Öffentlichkeit werden darüber informiert.

Konfrontation, zumal wenn sie ideologisch motiviert ist, hilft wenig, um für den Standort und die hier lebenden und arbeitenden Menschen das Beste herauszuholen. Öffentliche Anschuldigungen, denen zufolge die jeweils anderen Parteien der Lobby hörig seien, dienen lediglich der Vergiftung des politischen Klimas.

Partnerschaft, Kooperation und Wissenstransfer zwischen Wirtschaft und Politik können hingegen neue, kreative Ansätze in der Gesetzgebung hervorbringen – zum Nutzen der Gesellschaft. So liegt es nahe, in die Ausarbeitung von Maßnahmen zur Förderung von Existenzgründungen erfolgreiche Jungunternehmer und deren Kapitalgeber einzubeziehen; sie wissen, wie der Markt „tickt“ und welche Rahmenbedingungen erforderlich sind, damit es noch mehr Gründungen gibt.

Auf einem anderen Gebiet, dem Luftverkehr, haben Bundesregierung, Flughäfen und Fluggesellschaften eine Vertrauenspartnerschaft etabliert – als Basis für einen nachhaltigen Ausbau der globalen Wettbewerbsposition. Bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme könnte ein ähnlicher Weg der konstruktiven Zusammenarbeit und des Austauschs aller Beteiligten beschritten werden. Aufgabe der Politik und jedes einzelnen Abgeordneten ist es, auf die richtige Balance zwischen Brancheninteressen und dem Gemeinwohl zu achten. Zugleich kann und muss auch die Wirtschaft ihren Beitrag leisten: Politische Einflussnahme sollte nach Möglichkeit so transparent sein wie Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie – bekanntlich ein „lichter Tempel aus Glas“.

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