Partei der Ärzte und Hafenarbeiter?
Aber während die Christdemokraten - von einigen regionalen Erfolgen unter der Führung Wolfgang Schäubles abgesehen - alsbald der Implosion anheimfielen, trugen die Liberalen ihren Absturz alles in allem mit Fassung. Schon damals war es Guido Westerwelle, der als Generalsekretär den Takt vorgab: Man werde, kündigte er an, nun unverzüglich Opposition spielen - und "FDP pur"-Positionen einbringen, die im einstigen Koalitionskorsett allzu oft verloren gegangen waren. Und schon stürzte sich die 6,2-Prozent-Truppe, während die Union noch ihre Wunden leckte, in die Arbeit, ließ sich von der Rhetorik Schröders, Hombachs oder gar Lafontaines nicht weiter beeindrucken, sondern versetzte diesen alsbald so manchen Nadelstich. Freilich, die Zeit dafür war günstig: Die neue Regierung stolperte ja eher in ihre Verantwortung hinein, als dass sie klaren Kurs nahm. So war es für die Liberalen ein Leichtes, ihre Finger in rot-grüne Wunden zu legen und den Bürgern vor Augen zu führen, worauf sie sich eingelassen hatten.
Tosender Beifall für Westerwelles Zäsur
Indessen beschied sich die FDP nicht damit, das Kabinett Schröder im parlamentarischen Tagesgefecht an den Pranger zu stellen. Es war vor allem Westerwelle, der rasch erkannte, dass jenseits des taktischen Geplänkels nun die Stunde der Rundum-Erneuerung geschlagen hatte - einer Erneuerung, die zu einem bestimmten, nicht zu fernen Zeitpunkt dann auch personell Niederschlag finden sollte. Zielstrebig arbeitete der Generalsekretär darauf hin, den Parteivorsitz zu erringen - gegen Gerhard, gegen Brüderle oder Döring, aber vor allem gegen Möllemann. Und das war beileibe nicht einfach. Gestärkt durch ein fulminantes Ergebnis bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, meldete der einstige Vizekanzler wie selbstverständlich seinen Anspruch auf die Bundesspitze an - wahlweise auch auf die etwas irrlichternde Idee einer "Kanzlerkandidatur".
Schon auf dem Nürnberger Parteitag im Juni 2000 zeichnete sich allerdings ab, zu wessen Gunsten das Rennen ausgehen würde. Zwar landete Möllemann mit seiner zugleich kämpferisch und überlegt vorgetragenen "Strategie 18" mehr als einen Achtungserfolg. Wer aber die mit tosendem Beifall bedachte Abschlussrede Westerwelles hörte, dem war klar: Hier sprach der künftige Vorsitzende. Und der ließ an seiner Mission keinen Zweifel aufkommen: "Dieser Parteitag", so rief er den begeisterten Delegierten zu, "ist eine Zäsur in der Geschichte der Freien Demokratischen Partei".
Immer auf der kommunikativen Überholspur
Fortan war Westerwelle geschickt genug, die "Strategie 18" keineswegs für nichtig zu erklären. Er war gut beraten, den in seiner Angriffslust ungebremsten und nicht nur in Nordrhein-Westfalen populären Möllemann in die Spitze einer sich erneuernden Partei einzubinden. Und dabei auch das kommunikative Talent des Fallschirmspringers zu nutzen, dem eine freche Souveränität ja nicht abzusprechen war. Zumindest konnte damals als kühn gelten, wer eine Partei, die aus fast allen Landtagen herausgeflogen war, alsbald in der Nähe von 20 Prozent sah. Westerwelle jedoch, darin von Möllemann lernend, hatte verstanden, dass moderne politische Kommunikation nichts anderes ist als der ständige Kampf um Aufmerksamkeit.
Wer im Medienzeitalter angesichts einer nicht mehr zu durchdringenden Reizüberflutung überhaupt noch auffallen will, der muss - so predigten es fortan die Strategen im Thomas-Dehler-Haus - mit den Regeln brechen, Überraschungen produzieren und den Eindruck erwecken, auf der politisch-kommunikativen Überholspur nachgerade zu Hause zu sein. "18 Prozent", das ist zunächst einmal nicht viel mehr als ein Anspruch, ein vages Ziel, bedeutend weniger als eine Vision. Aber die ständige Postulierung dieses Ziels hat ihre Wirkung nicht verfehlt: Wer heute von der FDP spricht, dem kommen automatisch, ja fast zwangsläufig "die Achtzehn" in den Sinn, so als seien die Liberalen schon fest auf diese Marke abonniert.
Wohl mehr als für Möllemann hat die "18" für Westerwelle jedoch auch eine inhaltliche Grundierung über ihre kommunikative Wirkung hinaus: In den Augen ihres Chefs ist die neue FDP eine Partei "für alle im Volk". Gemeint sind damit "der Hafenarbeiter in Rostock ebenso wie der Taxifahrer in München oder der Bäckermeister in Passau", wie Generalsekretärin Cornelia Pieper erläutert. Man könnte hinzufügen: der junge Selbständige in Berlin, der leitende Angestellte in Köln oder die alleinerziehende, berufstätige Mutter in ... - wo auch immer in Deutschland. Es sind die "neuen Mittelschichten", die das Thomas-Dehler-Haus, die "Sinus"-Milieus fest im Blick, als neues Wählerpotential identifiziert hat, und deren Lebensgefühl man entsprechen will. Und diese Mittelschichten bestehen eben nicht nur aus den viel zitierten Ärzten und Apothekern, die der FDP ohnehin die Stange halten. Es sind die Protagonisten einer in Umwälzung befindlichen Arbeits- und Lebenswelt, die bei den Liberalen eine Heimat in Freiheit finden sollen, während andere noch immer der industriellen Massenbeschäftigung und ihren politischen und gewerkschaftlichen Entsprechungen hinterhertrauern. Zugespitzt: Matthias Machnig hat den "digitalen Kapitalismus" (mit) entdeckt - aber die FDP reklamiert, die Antworten darauf zu besitzen.
Aus dem Rheinhotel Dreesen ins Guidomobil
Das ist das eigentliche Ziel des neuen Vorsitzenden der FDP: die viel geschmähte Klientelpartei der "Besserverdienenden" umzuwandeln in eine dritte, liberale Volkspartei. Diese, so meint man bei der FDP, müsse fortan gleichberechtigt stehen können neben den in die Jahre gekommenen Dickschiffen aus Kreuzberg (SPD) und Tiergarten (CDU). Und sie müsse - Stichwort "Äquidistanz" - gleichen Abstand wahren zu denen, die angeblich nicht mehr die Kraft, die Frische, den Mut haben, Deutschland nach vorne zu bringen. Als Partei "für alle im Volk" will die FDP endlich aufsteigen in die Liga der (nicht mehr ganz so) Großen, will nicht mehr ewiger, manchmal auch lästiger Juniorpartner sein, sondern "auf Augenhöhe" mit essen vom Kuchen der Macht.
Auf dem Weg dorthin aber will und wird die FDP auch den letzten Zopf abschneiden, der die Liberalen zu Zeiten der Bonner Republik zu einer zwar einflussreichen, am Ende jedoch auch leicht betulichen Instanz hat werden lassen. Zu diesen Zöpfen gehörte ein Auftreten, das aufgrund der ministeriellen Erbhöfe der FDP immer auch etwas Staatstragendes hatte - ganz gleich, ob bei Genscher, Lambsdorff oder Kinkel. Als Deutschland noch von der Bonner Adenauerallee aus regiert wurde, waren die Liberalen gleichsam die Inkarnation der deutschen Außen-, Innen-, Justiz- und Wirtschaftspolitik. Gerade im Übergang von Schmidt zu Kohl verstand es die FDP, sich als Stabilitätsanker jener Republik zu positionieren, die in ihrer korporatistischen Schwerfälligkeit immer noch Wolfgang Koeppens "Treibhaus" glich. Die Bühne der liberalen Siegelbewahrer war insoweit - im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinne - der Ballsaal des "Rheinhotel Dreesen"; dort schob man sich gemächlich über das jeweilige koalitionäre Parkett.
Ganz anders in Berlin: Im 21. Jahrhundert präsentiert sich die FDP - sie hört es nicht mehr gern - im Container von "Big Brother". Und sie weiß das zu begründen: In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen nicht das Glück suchen, sondern den Spaß, will man auffallen, den Boulevard bedienen, einfach "näher "ran an die Bürger", wie Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Beerfeltz es unlängst beschrieb. Da bleibt wenig Raum für die nadelstreifige Attitüde der Altvorderen. Angesagt sind Guerilla-Marketing, eine medienstrategisch geplante Dauerpräsenz in allen einschlägigen Talkshows und Sommertouren im "Guidomobil". Ein kontinuierliches Medienereignis ist diese FDP - und löst damit nur jenes Versprechen ein, das Jürgen W. Möllemann auf dem Nürnberger Parteitag gegeben hatte: "Wir werden keine Langeweile haben".
Rexrodts Nachbarn vom Ludwigkirchplatz
So weit, so gut? Zu fragen bleibt zweierlei: Wieviel von ihrem Anspruch, Partei "für alle im Volk" zu sein, hat die FDP bislang erfüllt? Und, darüber hinaus: Ist das Bemühen, Volkspartei zu werden, eigentlich klug? Zunächst zur ersten Frage: Die Zwischenbilanz der "Strategie 18" ist so schlecht nicht. Bei den Landtagswahlen 2001 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz schnitt die FDP passabel ab, die Koalitionen mit der Union in Stuttgart sowie mit der SPD in Mainz konnten trotz leichter Stimmenverluste fortgesetzt werden. In Hamburg zogen die Liberalen im Windschatten von Ronald Barnabas Schill in den Senat ein. Beachtlich war das Abschneiden der FDP bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin: Hier holte Günther Rexrodt beinahe zehn Prozent. In Sachsen-Anhalt, unter Cornelia Pieper, wurden es jüngst gar 13 Prozent, freilich bei äußerst dürftiger Wahlbeteiligung und einem bekanntermaßen wankelmütigen Wählerumfeld.
Sind die neuen Mittelschichten damit bei der FDP angekommen? Ist der Weg in Richtung "18" unumkehrbar? Langsam, langsam. Gerade das Wahlergebnis in Berlin verdient nähere Betrachtung. Gewiss waren unter den zehn Prozent auch einige Krankenschwestern, Internet-Gründer oder sogar ein paar Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Wedding und Neukölln. Aber in der Hauptsache waren die Wähler der neuen FDP doch die alten, namentlich die Bürger aus dem Westteil der Stadt: Rexrodts Nachbarn vom Ludwigkirchplatz in Wilmersdorf. Was den Sprung von unter fünf auf fast zehn Prozent aber vor allem ermöglichte, war der Zulauf enttäuschter CDU-Anhänger, die sich von Diepgen und Landowsky betrogen, von Frank Steffel hingegen nicht angesprochen fühlten - ein "windfall profit" erster Güte, dem die FDP jetzt durch kompetente Parlamentsarbeit entsprechen muss. Neue Mittelschichten? Sofern es sie in Berlin gibt, haben die Liberalen sie jedenfalls nicht stärker an sich binden können als Wowereit, Steffel oder Gysi.
Warum zwei Volksparteien genug sind
Die andere Frage lautet: FDP und Volkspartei - passt das überhaupt zusammen? Brauchen wir eine neue, eine dritte Partei "für alle im Volk"? Und wenn ja, ist in der Mitte, zu der doch alles drängt, überhaupt noch Platz für sie?
Die Antwort heißt: Nein - und zwar gleich dreifach. Erstens: Die FDP ist auch weiterhin ihrer Programmatik nach keine Volkspartei. Zweitens: Wir brauchen auch gar keine weitere Volkspartei, denn zwei davon bieten schon hinreichend programmatische Schwammigkeit. Und drittens: Da diese beiden die Mitte für sich beanspruchen, ist für einen Dritten im Bunde ohnehin kein Stuhl mehr frei. Und das ist auch nicht schlimm. Denn die Chance der Liberalen besteht gerade nicht darin, sich einzureihen in die Phalanx jener politischer Tanker, deren Größe oftmals auch Trägheit bedeutet. Und nichts wäre unklüger, als in eine Umlaufbahn hineinkommen zu wollen, in der der Zwang zum Konsens, der Ausgleich der Flügel dazu führt, dass spannende, innovative Ideen bis zur Unkenntlichkeit verwässert werden. Volksparteien sind fast notgedrungen zahnlos. Und sie sind langsam. Die Liberalen sollten in unserem Land die Schnellen sein wollen - diejenigen, die Veränderung nicht nur predigen, sondern auch konkrete Vorschläge dafür entwickeln. Diejenigen, die im Konsens nicht nur das Verbindende, sondern auch das Hemmende erkennen. Diejenigen vielleicht, die nicht nur manches besser, sondern vor allem vieles anders machen wollen.
Mittig ist das FDP-Programm nicht
Zum Beispiel im Gesundheitswesen: Die Mehrheit der Deutschen verschließt sich noch immer der Erkenntnis, dass das paritätisch finanzierte Gesundheitswesen praktisch bankrott ist. Eine Volkspartei, die es an Haupt und Gliedern reformieren wollte, riskierte deshalb ihren Untergang. Einzig eine schnelle, flexible Reformpartei hätte den Freiraum, die Grundübel eines maroden Systems auch beim Namen zu nennen, ohne auf die Bollwerke der Besitzstandswahrer Rücksicht nehmen zu müssen. Wer Volkspartei werden will, begibt sich dieser Freiheit, wird verwechsel- und austauschbar. Schlimmer noch: Die Alleinstellung im politischen Meinungsmarkt ginge rasch verloren - und damit die Chance, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Fast scheint es, als habe die FDP dies auch erkannt: Denn wer sich das Wahlprogramm der Liberalen näher ansieht, bei dem drängt sich nicht der Eindruck auf, es mit einer Volkspartei zu tun zu haben. Mehr noch: Die Inhalte der neuen FDP, ihre politischen Ziele - sie sind nicht wirklich in der Mitte angesiedelt. Einige sind deutlich rechts von einer tief sozialdemokratisierten Union. Andere sind - Stichwort Wehrpflicht - jedenfalls nicht weniger progressiv als bei Teilen der SPD. Die liberalen Forderungen zur Bildungspolitik schließlich weisen dorthin, wo Konzepte zu diesem Thema auch hingehören - nämlich nach vorne. Natürlich haben "Herzensbildung und Nächstenliebe" (Guido Westerwelle) auch in einem liberalen Programm ihren Platz. Und natürlich hat auch die FDP, weil das gerade en vogue ist, etwas zur Familie, zur Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf, aufgeschrieben. Aber am überzeugendsten sind immer noch die Passagen zur Steuer- oder Arbeitsmarktpolitik. Denn genau dort zeigt sich jene liberale Profilschärfe, die eine Volkspartei aus lauter Rücksichtnahme nicht bieten kann.
Besser wäre schon, die FDP bliebe klein
Was unser Land mit Blick auf anstehende Herausforderungen braucht, sind - wir zitieren es gern - "Innovation und Gerechtigkeit". Volksparteien sind vor allem für die Gerechtigkeit da: Hier nehmen sich Union und SPD nicht viel. Innovation im umfassendsten Sinne des Wortes muss hingegen von den Kleineren, den Frechen, den Schnellen angeschoben werden. Eine FDP, die sich mit Selbstbewusstsein, aber ohne falschen Ehrgeiz zu ihnen zählt, wird mehr erreichen als eine liberale "Volkspartei". Das gilt übrigens auch - und gerade - für die vorstellbare Option einer sozial-liberalen Koalition.