Die Rückkehr der Deutschland AG
Die derzeitige Krise ist global, und sie ist transformativ. Im Zuge ihrer Verarbeitung wird das Verhältnis von Markt und Staat sowie von globaler und nationaler Politik neu definiert werden. Die Krise wird die Unterschiede zwischen nationalen politischen Ökonomien weiter vertiefen und eine neue Form von globaler wirtschaftspolitischer Koordination auslösen. Sie wird die Thematisierung ungerechter Verteilungseffekte von unternehmensdominierten Marktprozessen ermöglichen und bietet Sozialdemokraten und Gewerkschaften eine Gelegenheit, ihre Gerechtigkeitsagenda zu revitalisieren. Sie wird jedoch weder die wirtschaftliche Globalisierung noch den Kapitalismus als grundsätzlich privatwirtschaftlich organisiertes Modell in Frage stellen.
Es gibt viele Missverständnisse über die Rolle der Regulierung in der Finanzkrise. Eines davon ist die Vorstellung, eine globale Regulierung hätte die Finanzblase verhindert. Es gibt jedoch keine Regulierung zur Vermeidung von Blasen. Riskantes Verhalten lässt sich nicht verbieten; das billige Geld der Federal Reserve war politisch gewollt und sollte gerade nicht unterbunden werden. Regulierung kann Märkte sowohl beschränken als auch ermöglichen. Ermöglichende Regulierung umfasst Eigentumsrechte, Gerichte, Schadensersatzansprüche, Gewährleistungspflichten sowie ein funktionierendes Vertrags- und Kartellrecht. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die internationale Regulierung der Finanzmärkte nicht in erster Linie der weiteren Marktschaffung dient und damit per se weitere Blasen und Exzesse verhindern könnte.
Damit ist das Kernthema der Krise nicht die marktermöglichende Regulierung der Finanzmärkte, sondern die Tatsache, dass im Zuge der Krisenüberwindung nach drei Jahrzehnten der zunehmenden Landnahme des Marktes in Wirtschaft und Gesellschaft die politische Rechnung aufgemacht wird: Regulierungen zur Begrenzung der Märkte kommen wieder auf die Tagesordnung. Welche Art von Markt braucht man an welcher Stelle? Welche Marktmechanismen helfen, Probleme zu lösen und welche verstärken Probleme? Das allgemeine Motto, dass Marktversagen selten und Staatsversagen die Regel sei, wird nicht mehr weiter gelten.
So bunt trieben es die deutschen Kommunen
Ein Beispiel sind die Marktmechanismen, die in die staatliche Daseinsvorsorge eingeführt wurden. Nicht nur kommen jetzt die krassen Auswüchse des Cross-Border-Leasings auf den Prüfstand, bei dem sich Kommunen mittels heute toxischer Finanzprodukte ihre eigenen Verkehrsbetriebe mit hohen Kosten fremdfinanziert haben, sondern auch alle anderen Formen des neuen Public Managements, mit denen privatwirtschaftlicher Sachverstand den behäbigen öffentlichen Sektor aufmischen sollte. Dazu zählen Public-Private-Partnerships, Teilprivatisierungen, Börsenfinanzierungen öffentlicher Betriebe, die Anwendung privatwirtschaftlich orientierter Buchhaltungsregeln und Bilanzierung, leistungsorientierte Vergütung und vieles mehr. Anstatt jede privatwirtschaftlich angehauchte Empfehlung der Unternehmensberater zu begrüßen, können sich jetzt Ministeriale und Kämmerer auf ihre Sorgfalts- und Prüfungsverantwortung berufen und einiges von dem ablehnen, was sich in der Praxis kaum bezahlt gemacht hat.
Aber auch im Privatsektor hat die finanzorientierte Bonanza ein Ende gefunden. Die enorme Erhöhung der Vorstandsgehälter der DAX-Unternehmen in den vergangenen 20 Jahren wird in diesem Tempo nicht weitergehen. Die finanzgetriebene Internationalisierung deutscher Unternehmen, die sich im Wesentlichen an amerikanischen Managementpraktiken orientierte, kommt zum Stillstand. Der Glaube, dass Wertpapiere langfristig zu höherer Verzinsung führen als andere Anlageformen, kann zumindest bezweifelt werden. Auch ist die Annahme fragwürdig, dass Finanzvorstände die besseren Unternehmenslenker sind. Oder dass im Unternehmen Management alles und Fachkompetenz nichts wert ist.
Peer Steinbrück hatte schon recht: In dem Maße, wie die fortschreitende Liberalisierung eine Dominanz des angelsächsischen liberalen Kapitalismus in der Weltökonomie zum Ausdruck brachte, ist die Krise in erster Linie eine Krise des angelsächsischen Kapitalismus. Dass in einer globalen und interdependenten Ökonomie jedoch die Krise der einen Kapitalismusvariante die anderen Varianten nicht unberührt lässt, erkannte die Bundesregierung in umfassendem Sinne offenbar erst im Laufe der Zeit.
Was war positiv am rheinischen Kapitalismus?
Die Krise des liberalen Kapitalismus führt besonders im Land des rheinischen Kapitalismus zur Besinnung auf die Werte dieser nichtliberalen Form der Marktwirtschaft, wobei das Signal zur Umkehr bereits lange vor der Finanzkrise ertönte, nämlich als Chrysler von der Daimler-AG abgestoßen wurde. Davor hatte schon der Zusammenbruch der New Economy der Börsenorientierung einen Dämpfer versetzt. Die Finanzkrise wird nun die im internationalen Vergleich eher zaghaften Schritte deutscher Unternehmen und deutscher Anleger in Richtung Börse zum Erlahmen bringen. Stattdessen versucht man, die positiven Seiten des deutschen rheinischen Kapitalismus wiederzubeleben: im Wesentlichen seine stabilisierenden und vertrauensbildenden Effekte innerhalb des deutschen Unternehmensnetzwerkes. Die ausgetrockneten globalen Vertrauens- und damit Finanzierungsressourcen sollen durch nationale ersetzt werden. Es ist auch ein typisch deutscher Reflex der Unternehmen, die Rolle des Staates nicht ausufern zu lassen und staatliche Kontrollen und Einblicke zu verhindern, indem sich die Firmen selbstorganisiert untereinander stabilisieren.
Steuerzahler finanzieren toxische Geschäfte
Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann, der für den Umbau der größten deutschen Bank zu einem globalen Investmenthaus verantwortlich ist, hat genau in diesem Sinne im Dezember 2008 vorgeschlagen, die Deutschland AG mit ihrer Verflechtung von Banken und Industrieunternehmen wieder aufleben zu lassen. Damit wird eine neue Ära der Deutschland AG eingeläutet. Gegen eine komplette Rückkehr zu alten Zeiten spricht, dass es in den frühen und späten neunziger Jahren zu viele regulative Änderungen in der Unternehmensführung und Kapitalmarktregulierung in Richtung Internationalisierung und Liberalisierung gegeben hat. Außerdem werden die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof weiter an der Liberalisierung der Deutschland AG arbeiten. Jedoch versuchen sowohl Unternehmen als auch die Bundesregierung unter den neuen Bedingungen, vergangen geglaubte Ressourcen aus ihrer alten vertrauten Welt der sozialen Marktwirtschaft neu zu mobilisieren. Und diese Ressourcen befinden sich – aller Globalisierungsrhetorik und -wirklichkeit zum Trotz – in der Krise in erster Linie auf der nationalen Ebene. DAX-Unternehmen beraten mit der Bundesregierung darüber, wie man den Schaden für die Unternehmen und die Volkswirtschaft klein halten kann. Der deutsche Steuerzahler wird dabei für die toxischen Geschäfte der Landesbanken aufkommen.
Im Ergebnis werden einzelne Mechanismen der Deutschland AG in einem neuen Umfeld reaktiviert, insbesondere das Elitenkartell aus Politik und Wirtschaft, das die Schicksale einzelner, für die deutsche Volkswirtschaft bedeutender Unternehmen wieder in die Hand nehmen wird. Auch die Gewerkschaften werden wieder dabei sein, da ihre Rolle bei der Befriedung verunsicherter Belegschaften in den kommenden Monaten an Bedeutung zunehmen wird. Wie schon in der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit in den späten sechziger Jahren die Konzertierte Aktion ausgerufen wurde und zur Zeit der Wiedervereinigung die Kanzlergespräche, gibt es auch diesmal einen Rückgriff auf tradierte nationale Muster der Krisenbewältigung. Die dabei mobilisierten Instrumente sind klassisch deutsch und markieren eine Wiederauferstehung des deutschen Korporatismus, wenngleich mit liberalisierungsgeschwächten Akteuren.
Diese Reaktion illustriert, dass trotz universeller wirtschaftlicher Trends – Globalisierung, die neue Bedeutung der Finanzwirtschaft, zunehmende Liberalisierung – Nationalstaaten auch heute ihre eigenen, spezifischen Mechanismen zur Krisenbewältigung haben. Diese sind nicht nur mit Tradition und mit Erfahrungswissen gestandener Politiker zu erklären, sondern auch mit den anhaltenden unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen entwickelter Volkswirtschaften. Während die britische Regierung als wichtigstes Konjunkturmittel die Reduzierung der Mehrwertsteuer einsetzte, um den Umsatz des Weihnachtsgeschäfts nicht zu gefährden, führte der Krisengipfel im Kanzleramt zu einer großzügig verstandenen Kurzarbeiterregel. Beides entspricht der Wirtschaftsdynamik beider Länder: der britischen Nachfrageorientierung und der Abhängigkeit Deutschlands von qualifizierten Mitarbeitern für seine exportorientierte Wirtschaft.
Was die europäische Koordination erschwert
Solche Unterschiede erschweren eine koordinierte Reaktion auf europäischer Ebene ungemein. Das Unvermögen, auf europäischer Ebene strategische Krisenbewältigung zu betreiben, hat daher weniger mit den unterschiedlichen Charakteren von Gordon Brown, Nicolas Sarkozy und Angela Merkel (oder Peer Steinbrück) zu tun, sondern vielmehr mit den unterschiedlichen politisch erforderlichen und wirtschaftlich naheliegenden Instrumenten der wichtigen Mitgliedsländer. Europa ist wirtschaftlich zu ausdifferenziert, als dass alle Länder die gleichen Instrumente zur Stimulierung ihrer Ökonomien anwenden könnten oder wollten. (Der Dissens zwischen den großen Ländern ist jedoch von Nachteil, weil er es den kleinen Ländern erlaubt, sich aus der Konjunkturpolitik ganz herauszuhalten.)
Krisen bergen aber auch Chancen. So ermöglicht die Teilabkehr von der liberalen Variante der Marktwirtschaft, die mit ihr verbundene wirtschaftliche Unsicherheit und soziale Ungleichheit zu thematisieren. Liberale Märkte führen nicht nur zu Blasen, Krisen und Fluktuation; sie sind auch verteilungspolitisch blind. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich im Zuge der Liberalisierung in fast allen Industrieländern die Einkommen gespreizt, und Einkommensfluktuationen haben zugenommen. In den Vereinigten Staaten ist es heute erheblich wahrscheinlicher als in den sechziger Jahren, dass sich das Einkommen eines Erwerbstätigen innerhalb von zehn Jahren halbiert.
Wie die Erfahrungen der skandinavischen Staaten zeigen, hat die zunehmende Einkommensungleichheit und Einkommensunsicherheit nicht so sehr mit der Globalisierung und der Notwendigkeit eines Niedriglohnsektors zu tun, sondern tatsächlich mit der voranschreitenden Liberalisierung. Diese Länder zeichnen sich aus durch gewerkschaftliche Tarifpolitik und aktivierende Arbeitsmarktpolitik, durch hohe, gleichmäßig verteilte Investitionen in Bildung und einen ausgebauten öffentlichen Sektor für soziale Dienstleistungen, durch hohe Beschäftigungsniveaus und starke Gewerkschaften – und sie haben auf diese Weise unter den Bedingungen der Globalisierung eine Form der modernen Marktwirtschaft erreicht, die soziale Balance mit Wettbewerbsfähigkeit vereint.
In dem Maße, wie jetzt öffentliche Investitionen konjunkturpolitisch eingesetzt werden, können und müssen Gewerkschaften an der Bewältigung der Krise beteiligt werden. Zugleich haben Sozialdemokraten und Gewerkschaften auch in Deutschland eine Chance, festgefahrene Probleme mit den Unternehmen neu zu bearbeiten und damit gleichzeitig eine skandinavisch orientierte sozialdemokratische Agenda zu fördern. Der Schutz qualifizierter Mitarbeiter bei einem vorübergehenden Konjunktureinbruch durch die Kurzarbeiterregel und neue Möglichkeiten zur Qualifizierung gehören gewiss dazu. Auch die Agenda 2010 hat den ersten Schritt in Richtung Skandinavien getan, in dem sie die Erwerbsquote nach oben gedrückt und viele Langzeitarbeitslose in den Markt integriert hat. Diese Menschen sind in der Rezession als erste von Arbeitslosigkeit bedroht. Für sie sollten erstens gezielte Subventionen von Sozialversicherungsbeiträgen eingeführt werden, um sie in Arbeit zu halten.
Öffentliche Investitionen wie in Skandinavien
Im zweiten Schritt müssen Sozialdemokraten bei den jetzt anstehenden Konjunkturprogrammen darauf achten, dass öffentliche Investitionen in Bildung, Ausbildung und soziale Dienstleistungen dem skandinavischen Vorbild folgen. Der neue Elitenkonsens zur Rettung der deutschen Unternehmen sollte auch skandinavische Elemente der Bildungs-, Familien-, Gleichstellungs- und Schulpolitik umfassen. Längst überfällige Modernisierungsschritte in der Bildungspolitik auf allen Ebenen – Kindergarten, Schule, Hochschule – können nun mit den Mitteln der Konjunkturpolitik vorangetrieben werden. In der Ausbildung sollte man nicht nur darauf achten, dass Unternehmen die jetzigen Investitionen in die Erstausbildung beibehalten, sondern man sollte die Bildungsinvestitionen auch in eine Modernisierung und Aufwertung schulischer, aber betriebsnaher Ausbildungskonzepte und der stärkeren Verzahnung von betrieblicher Ausbildung und Hochschulen leiten.
Rückbesinnung auf die deutsche Tarifpolitik
Drittens könnte die Reichweite der Tarifverträge, die in den vergangenen 20 Jahren deutlich geschrumpft ist, durch eine Rückbesinnung der Unternehmen auf die deutsche Tarifpolitik gestärkt werden. Betriebsräte und Gewerkschaften sollten die Gelegenheit nutzen, um neue Felder der Weiterbildung und des lebenslangen Lernens stärker zu besetzen. Damit würden schon einige Signale zur Einkommenssicherung und Bewahrung von Qualifikationen gegeben. Auch das ist Teil des skandinavisch-sozialdemokratischen Modells.
Die Rückkehr der Deutschland AG und die Abkehr vom liberalen Kapitalismus im Kontext eines investiven Konjunkturprogramms ist eine Reformgelegenheit in Richtung eines aktivierenden, aber – im skandinavischen Sinne – sozialdemokratischen Marktmodells. Eine Rückbesinnung auf alte Instrumente muss kein Fehler sein, wenn man sie mit einer Modernisierung des deutschen Modells verbindet und damit sowohl Wettbewerbsfähigkeit stärken wie auch ökonomische Unsicherheit und Ungleichheit eindämmen kann.