Die verstörte Weltmacht
D ie Krise in der Ukraine und die Auseinandersetzung mit Russland haben in Washington eine harte Kontroverse ausgelöst: über den Zustand amerikanischer Macht sowie die globale Rolle der Vereinigten Staaten. Die Entwicklungen der vergangenen Monate werden als schmerzliche bis bedrohliche Demonstration der Grenzen amerikanischen Einflusses wahrgenommen. Schließlich haben die Vereinigten Staaten den Konflikt weder verhindern, noch bislang beenden können, so die Kritiker. Neben einer angemessenen außenpolitischen Reaktion wird in den Vereinigten Staaten deshalb auch nach dem Schuldigen für die Misere gesucht.
Die Antwort auf die Frage „Who lost Ukraine?“ ist für Republikaner und konservative Analysten eindeutig: Der führungsschwache Präsident Barack Obama habe die Glaubwürdigkeit amerikanischer Macht besonders durch seine Syrienpolitik (die bis weit in die politische Mitte auf Kritik stößt) gefährlich untergraben und dadurch die Ukraine-Krise mit heraufbeschworen. Der Präsident habe „Gegner ermutigt und Verbündete demoralisiert“, wie der Economist es zusammenfasste. Hingegen verteidigen moderate und progressive Analysten Obamas Entscheidungen als schnell, angemessen und erfolgreich: Er habe Sanktionen verabschiedet, erfolgreich mit den Partnern in Europa kooperiert und verunsicherten Mittel-Ost-Europäern unter die Arme gegriffen. Aber auch Obamas Unterstützer sind alles andere als zuversichtlich und fordern ebenfalls, die außen- und sicherheitspolitische Strategie der Vereinigten Staaten grundsätzlich zu überdenken – allerdings mit einer anderen Stoßrichtung.
Russland – nur eine schwache Regionalmacht?
Der Ausgangspunkt der parteiübergreifenden Debatte ist die Frage, ob und wie umfassend die Sicherheitsinteressen der USA durch die Ukraine-Krise berührt werden. In der Frühphase der Krise betonten viele Fachleute noch, die Vorgänge in der Ukraine beträfen die amerikanische Sicherheit nicht wirklich. Russland sei bloß eine schwache und vom Energiesektor abhängige Regionalmacht – eine Sicht, die auch vom Präsidenten geteilt wurde. In den Augen vieler Experten stellen der „metastasierende Bürgerkrieg“ in Syrien und – langfristig – Chinas Beziehungen zu seinen Nachbarn eine viel größere Gefährdung dar. Mittlerweile besteht zwischen Demokraten und Republikanern aber Konsens darüber, dass sich die gewaltsame Verkleinerung des ukrainischen Territoriums durch Russland nachhaltig auf die Interessen der Vereinigten Staaten auswirkt. Die Stabilität der gesamten internationalen, regelbasierten Ordnung gilt als durch „Russlands eklatante Aggression“ kompromittiert. Die Amerikaner sehen sich als Garanten dieser Ordnung unmittelbar herausgefordert.
Doch wie sollen die Vereinigten Staaten, auf die sich im Krisenfall auch in der post-unipolaren Welt noch immer alle Augen richten, auf diese Herausforderung reagieren? Einigkeit herrscht trotz des bitteren Streits immerhin darüber, dass eine militärische Auseinandersetzung mit Russland auf jeden Fall vermieden werden soll. Auch eine weitere Aggression soll nicht provoziert werden. Allerdings gehen die Meinungen über die verhängten Sanktionen weit auseinander. Obamas Kritikern waren sie „zu langsam und nur reaktiv“; sie sollten zwar abschrecken, aber „bestrafen Russland nicht für das, was es schon getan hat“, so Stephen Hadley, der frühere Sicherheitsberater von George W. Bush. Republikanische Politiker forderten weit umfassendere, „sektorale Sanktionen“, wenn nötig auch unilateral. Politiker und Kommentatoren waren sich einig, dass es in dem Konflikt besonders auf amerikanische Führungsstärke ankäme. Europa werde sich der amerikanischen Position am Ende schon anschließen.
Obamas »rote Linie« in Syrien – und die Folgen
Obamas Unterstützer hingegen betonen, die verhängten Sanktionen hätten Wirkung erzielt. Härtere Sanktionen hätten ein geschlossenes Vorgehen mit Europa unterminiert und damit den Westen gespalten. Die bestehenden Strafmaßnahmen und die Drohung mit umfassenderen Sanktionen gelten nun als zentrales Instrument der amerikanischen Außenpolitik, da Wladimir Putin sein Verhalten bislang noch nicht ausreichend verändert habe. Die Bereitschaft zur Kooperation mit dem neugewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und der Rückzug russischer Truppen aus der Grenzregion wirken zwar deeskalierend, aber Präsident Obama unterstrich bei seiner kurzen Begegnung mit Präsident Putin am 6. Juni 2014, dass damit nicht alle Forderungen erfüllt seien: Russland müsse die Destabilisierung der Ukraine durch geduldete und geförderte Separatisten einstellen.
Obgleich die Ukraine mit der aktuellen Krise von der Peripherie ins Zentrum der Beachtung gerückt ist, bleibt der Ausgangspunkt der Strategie-Debatten stets die Syrienpolitik der Regierung Obama. Sie wird als Wendepunkt wahrgenommen. Aus Sicht seiner Kritiker hat Obama mit der folgenlosen Androhung von militärischen Konsequenzen – Stichwort „rote Linie“ – die Glaubwürdigkeit amerikanischer Macht nachhaltig beschädigt. Hätte er seinen Ankündigungen Taten folgen lassen, so die Argumentation, hätte dies abschreckende Wirkung gehabt – und Putin hätte womöglich länger überlegt, ob er durch die Annektierung der Krim und die Destabilisierung der Ukraine die internationale Ordnung infrage stellt. Dieses Argument wird von Obamas Kritikern auch für andere Regionen der Welt herangezogen: Um Destabilisierungen – etwa durch Chinas ungelöste Grenzkonflikte – zu vermeiden, sei es essenziell, dass die Vereinigten Staaten ihre Intentionen klar machen, zweifelsfreie Handlungsfähigkeit demonstrieren und sich nachhaltig engagieren. Eine ernst genommene, weil ernst gemeinte militärische Option müsse stets als Handlungsmöglichkeit zur Verfügung stehen. Dem halten Regierungsvertreter und Unterstützer des Präsidenten entgegen, dass militärische selten dauer-hafte politische Lösungen brächten – wie die Konflikte in Afghanistan, Irak und Libyen belegten.
Die Debatte über die richtige Reaktion auf internationale Krisen und der Konflikt mit Russland zeigen vor allem eines: Der Anspruch und die Erwartung, die globale Politik nachhaltig zu gestalten – etwa „die Ukraine zu retten“ und „Russlands Verhalten zu verändern“ – kollidieren mit der Erfahrung, nur begrenzten Einfluss auf die Ereignisse zu besitzen. Dabei stimmte die Annahme, eine weitgehende Kontrolle zu besitzen, nie mit der Realität amerikanischer Macht überein, weder im Kalten Krieg noch in den neunziger Jahren, die im Rückblick zunehmend verklärt werden. Die Tatsache eingeschränkter Macht wird von Präsident Obama pragmatisch in sein Kalkül einbezogen, ist aber für viele Politiker und Kommentatoren in Washington schwer erträglich – und wird oft mit unzureichender Führungsbereitschaft oder gar der Aufgabe amerikanischer Vormacht gleichgesetzt.
Kriegsmüdigkeit und Verunsicherung
In der angespannten Auseinandersetzung verbinden sich die noch nicht lange zurückliegende Erfahrung der unangefochtenen Vormachtstellung aus den neunziger Jahren mit dem politisch stark nachwirkenden Trauma der Terroranschläge und der Verunsicherung über den „Zustand“ amerikanischer Macht: Aller militärischen Übermacht zum Trotz konnte Washington seine politischen Ziele in Afghanistan und im Irak nicht erreichen. Die als erfolglos geltenden Kriege haben in der amerikanischen Bevölkerung Kriegsmüdigkeit und eine immer geringere Unterstützung für eine interventionistische Außenpolitik bewirkt. Zudem hat die amerikanische Wirtschaft – vom Präsidenten in seiner außenpolitischen Grundsatzrede am 29. Mai 2014 als „Schlüsselquelle amerikanischer Stärke“ bezeichnet – die Langzeitfolgen der katastrophalen Finanzkrise (einschließlich ihrer Auswirkungen auf den amerikanischen Haushalt) noch nicht überwunden. Zugleich verschiebt sich die ökonomische Macht sichtbar nach Asien.
All dies ergibt eine schwierige Mischung aus ungewohnten Einschränkungen und Unsicherheit über die Basis der eigenen Macht, während gleichzeitig der Anspruch fortbesteht, für Ordnung und Stabilität in der Welt verantwortlich zu sein. Angesichts großer Herausforderungen im In- und Ausland sieht sich Amerika von „endlosen Krisen“ umgeben, ohne sich lager-übergreifend auf die eigenen Prioritäten einigen zu können. Infolge der Ukraine-Krise wurde deshalb zunehmend darüber debattiert, dass man es sich nicht leisten könne, nicht zu intervenieren. Schließlich seien alle geopolitischen Ereignisse miteinander verflochten, und andernfalls würden alle Verbündeten und Gegner der Vereinigten Staaten einen gefährlichen Mangel an Entschlossenheit konstatieren. Doch die Krisen – wie im Fall der Ukraine – verweigern sich einer schnellen Lösung. Noch schlimmer: Selbst anhaltendes amerikanisches Engagement (wie zuletzt im israelisch-palästinensischen Konflikt) scheint folgenlos zu bleiben.
Die Wende nach Asien bleibt auf der Agenda
Die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright fasste den Ansatz im jüngsten Konflikt wie folgt zusammen: die Ukraine unterstützen, Russlands Kosten hochtreiben, die Nato stärken, und in Europa Flagge zeigen. Während die Ukraine mit wirtschaftlicher Hilfe rechnen kann und das Engagement in der Nato intensiviert wird, soll Russland kurz- und mittelfristig isoliert werden, ohne die Tür für eine konstruktive Zusammenarbeit zuzuschlagen. Von den Partnern in Europa erwarten die Amerikaner dabei vor allem eine Reform der Energiepolitik mit dem Ziel der „Energieunabhängigkeit“ von Russland und eine Steigerung der stetig gesunkenen Verteidigungsausgaben. Angesichts ihrer anhaltenden Haushaltsengpässe sind die Vereinigten Staaten nämlich immer weniger bereit, den Löwenanteil der Kosten im transatlantischen Bündnis zu schultern.
Das verstärkte Engagement der Vereinigten Staaten in Europa führt in Washington aber nicht dazu, die Strategie des Rebalancing to Asia auf den Prüfstand zu stellen, der Obama erst Anfang Mai mittels einer Reise nach Ost- und Südostasien Nachdruck verliehen hat. Auch in der Ukraine-Krise gelten Asien, der Mittlere Osten, der internationale Terrorismus sowie Cyber-Sicherheit als die wichtigsten Herausforderungen.
Anders als im Kalten Krieg lautet die schwierige Kernfrage heute: Wie kann man Abschreckung und Kooperation verbinden? Wie können die Angriffe auf die internationale Ordnung verhindert und zugleich Russland, China und weitere Staaten konstruktiv in das internationale System und die Bewältigung globaler Probleme eingebunden werden?
Seit langem fordern Kritiker wie Unterstützer des Präsidenten eine umfassende „Blaupause“ für die Ausübung amerikanischer Macht sowie eine klare Kommunikation mit den eigenen Bürgern. In einem Atemzug bezichtigen die republikanischen Kritiker Obama der außenpolitischen Schwäche und der innenpolitischen Tyrannei, ohne jedoch selbst eine alternative Blaupause vorlegen zu können. Auch verhöhnen sie ihn als naiv, weil er glaube, dass die Geopolitik des 19. Jahrhunderts heute keine Rolle mehr spiele. Andere aber sind zutiefst besorgt darüber, dass ein Politikansatz, der von geopolitischen Überlegungen vergangener Jahrhunderte ausgeht, den veränderten Realitäten des 21. Jahrhunderts einfach nicht gerecht werden kann.
Obamas Amerika setzt auf Multilateralismus
Mit seiner Rede vor der Militärakademie West Point am 29. Mai 2014 hat Obama die Diskussionsstränge konservativer wie progressiver Kritiker aufgegriffen und Amerikas Prioritäten definiert. Auf seine rechten Kritiker eingehend, ließ er keinen Zweifel an der Führungsrolle der USA als „unverzichtbare Nation“, die auf der Weltbühne anführen müsse, weil es sonst niemand tue. Für Verbündete und Gegner formulierte er amerikanische „wahre rote Linien“: „Die Vereinigten Staaten werden militärische Gewalt einsetzen, wenn nötig auch unilateral, wenn unsere Kerninteressen dies erfordern: wenn unser Volk bedroht wird; wenn unsere Lebensgrundlagen auf dem Spiel stehen; wenn die Sicherheit unserer Verbündeten in Gefahr ist.“
Jedoch könne militärisches Handeln nie die einzige oder primäre Komponente amerikanischer Führung sein. Auf seine linken Kritiker eingehend, betonte Obama deshalb zugleich die Bedeutung internationaler Organisationen und multilateralen Handelns als zentrale Elemente amerikanischer Politik und hob die internationale Zusammenarbeit im Fall der Ukraine und des Iran als Beispiele hervor. Was Amerika außergewöhnlich mache, sei die Bereitschaft, internationale Normen und Rechtsstaatlichkeit durch eigenes Handeln zu bekräftigen. Darüber hinaus definierte Obama den Einsatz für die Menschenwürde als Kernelement amerikanischer Führung. Damit reflektierte die Rede die zentrale Spannung der amerikanischen Außenpolitik: auf der einen Seite die Idee der Vereinigten Staaten als Status-quo-Macht, und auf der anderen Seite das Konzept einer „revolutionären Macht“, deren Stärke immer auch höheren Zielen dienen soll, als nur eigene Interessen durchzusetzen.
Die Rede war der Versuch, das vielfach eingeklagte Narrativ zu entwickeln, mit dem der Präsident dem verunsicherten Land Orientierung geben soll. Doch sie stieß kaum auf positive Resonanz. „Weitgehend uninteressant“, urteilte etwa die New York Times. Unterstützer zählten Versäumnisse wie die nicht erwähnte Handelspolitik auf, während konservative Kritiker sie als „frei von Werten“ und als weiteren Beweis für den „geschrumpften Ehrgeiz“ sahen, den sie Obama unterstellen.
In Wirklichkeit sagen diese Urteile wenig über die Rede und viel über die Bitterkeit des anhaltenden Machtkampfs in Washington aus, der vor den Kongresswahlen im November erneut stärker wird. Bei allem Ärger über Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen der amerikanischen Politik sollten Deutschland und Europa registrieren, dass Präsident Obama die maßvolle Mitte amerikanischer Politik repräsentiert und hält – trotz vieler innen- und außenpolitischer Krisen und der unversöhnlichen, oft hasserfüllten Ablehnung durch die republikanische Opposition. Unter Obama setzen die Vereinigten Staaten vor allem auf multilaterales Engagement und Zusammenarbeit, während die militärische Macht in Reserve gehalten wird. Er hat deshalb nicht nur Kritiker verdient, sondern auch Partner.