Die Wirklichkeit einholen
Wie nähert man sich der Dramatik dessen, was geschehen ist, und der gedanklichen Dimension, die für Analyse und erste Folgerungen nötig ist? Vielleicht zunächst durch einen Blick auf Europa. Bei weitem nicht alle Regierungsparteien sind abgestraft worden - und bei weitem auch nicht alle sozialdemokratischen Parteien.
Das deutsche Desaster steht zwar durchaus nicht allein, aber in der Spezifik der erkennbaren Parallelen ist es doch ein bedenkliches Unikum: Vergleicht man das Abschneiden sozialdemokratischer Parteien, so hat die SPD einen historischen Einbruch erlebt wie sonst nur noch die britische Labour Party unter Tony Blair. Schaut man auf die Falltiefe von Regierungsparteien, so drängen sich Vergleiche vor allem mit den noch weniger gefestigten Demokratien der neuen Mitgliedsländer in Mittel- und Osteuropa auf.
Tony Blair und die Labour-Party haben ohne Zweifel vor allem für die Irak-Politik des Premiers und deren Folgen bezahlt. Blair hatte sich zum Vorreiter des Krieges und zum Propagandisten fadenscheiniger Kriegsgründe gemacht; er hatte sein Land aus der traditionellen special relationship mit den Vereinigten Staaten in die Falle eines offenbar nicht gewinnbaren Krieges geführt - für den äußerst kurzfristigen Preis einer herausgehobenen Rolle in einer alsbald zerfallenden "Koalition der Willigen", die Großbritannien wiederum von anderen europäischen Kernmächten zu isolieren drohte. Blair hatte also in einer existenziellen Frage in verschiedener Hinsicht eine dysfunktionale Politik - noch dazu in zunehmendem Konflikt mit dem eigenen Volk - betrieben. Und Gerhard Schröder? Auf den ersten Blick gibt es keine Parallele. In Sachen Irak-Krieg ohnehin nicht. Und die "Agenda 2010", die Hartz-Reformen? Auf den ersten Blick sind sie es, die den Zusammenbruch auslösten. Aber warum?
Die Bundestagswahl 2002 haben die SPD und Gerhard Schröder nicht nur wegen des Hochwassers gewonnen, sondern auch, weil sie im Wahlkampf zunehmend auf eher linke Inhalte setzten: Vermögenssteuer, keine Teilnahme am Irak-Krieg... Damit wurde die PDS auf ihrem eigenen Terrain überflüssig gemacht - doch kaum wurden die eher links-sozialen, "lafontainistischen" Themen auch nach dem Wahlerfolg weiter verfolgt, wiederholte sich, was bereits nach 1998 mit dem tatsächlichen Oskar Lafontaine geschehen war: Die SPD stürzte in der politischen Stimmung ab. Der Verlust an Zustimmung steht nicht nur am Ende der "Agenda 2010" - er war auch ihr Ausgangspunkt. Am Anfang lernten der Bundeskanzler und die seinen: Man kann in Deutschland mit linken Themen zwar Wahlen gewinnen, aber nicht regieren. Jetzt lernen sie, dass auch der Umkehrschluss stimmt: So, wie dieses Land regiert werden muss, kann man keine Wahlen gewinnen.
Aber Halt! Gibt es zu dieser Art von Regieren wirklich keine Alternative? Ist sie wirklich fehlerfrei? Ist sie nur "handwerklich schlecht gemacht" und fehlt ihr wirklich nur die überzeugende Vermittlung?
Zunächst: Hier wird nicht bestritten, dass tief greifende Reformen in Deutschland anstehen - auch am Arbeitsmarkt, auch in den Sozialsystemen. Es wird zudem nicht bestritten, dass dies keine Reformen im Sinne einer Volksbeglückung der siebziger Jahre sein können. Hier wird auch vorausgesetzt, dass Reformen mit Einschnitten, mit Rückbau, mit Belastungen einhergehen müssen - und dass mögliche Erfolge bescheidener ausfallen, als sich viele Beteiligte und Betroffene wünschen, und dass sie erst zeitverzögert eintreten werden.
Das ist weitestgehend auch Mehrheitsmeinung in Deutschland - die allerdings relativiert wird durch die begrenzte Bereitschaft, sich dem auch individuell zu unterwerfen. Doch dazu später. Hier ist zunächst die Frage zu stellen, ob nicht diesseits von Handwerk und Vermittlung in der Politik Ursachen für die grundsätzliche Verweigerung von Zustimmung und Legitimation liegen. Dabei hilft es nicht weiter, fachmännisch die einzelnen Reformen zu beleuchten. Die Suche nach der Antwort muss früher ansetzen - bei der Frage, was eigentlich mit diesem Land los und was denn zu tun ist.
Im Kern steht Deutschland vor sieben zentralen Problemen - gewissermaßen tief greifenden und anhaltenden Störungen im vertrauten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell:
Erstens: Die wirtschaftliche Wachstums- und Strukturkrise der zurückliegenden Jahre sowie die Herausforderungen der zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtung.(1) Werner Abelshauser hat die Ambivalenzen dieser Vorgänge in dieser Zeitschrift kürzlich bereits erhellend analysiert.(2) Zwei Fragen sind dennoch unbeantwortet: Liegt die Lösung im Bruch mit dem spezifischen deutschen Wirtschaftsmodell - oder in seiner Wiederbelebung und Anpassung an veränderte Bedingungen? Und: Wie viel Ausgliederung nach Mittel- und Osteuropa sowie in andere Teile der Welt verträgt die deutsche "Innovationsmaschine"? Braucht eine globalisierte deutsche Wirtschaft noch ein Standbein in Deutschland selbst - und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus?
Zweitens: Die verfestigte hohe Massenarbeitslosigkeit. Sie wird - Schwankungen eingerechnet - weiter auf einem hohen Niveau verharren und weiterhin ernste finanzielle, volkswirtschaftliche und kulturell-mentale Auswirkungen haben.
Drittens: Die verhaltene Entwicklung der Löhne und Gehälter(3) geht mit der tendenziellen Abkoppelung vom Bruttoinlandsprodukt einher - und damit auch mit einer solchen Abkopplung der sozialen Sicherungssysteme vom BIP.(4)
Viertens: Der demografische Wandel, der sich bereits real vollzogen hat, und seine "demografischen Echos" werden die Reproduktion der Gesellschaft über zunächst einige Jahrzehnte nachhaltig stören und damit vor allem die umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme herausfordern - aber nicht nur sie.
Fünftens: Ostdeutschland ist nicht wirklich umfassend in die Bundesrepublik integriert - zwar in die Verfassungsordnung, und im Grundsatz in das politische, wirtschaftliche und soziale System, aber es ist im Wesentlichen eine Empfänger-, keine Geberregion. Das Interesse am Osten reduziert sich auf die Begrenzung der Kosten.
Sechstens: Das Bildungssystem - maßgeblich geprägt von einer Vermischung von Rudimenten traditioneller bürgerlicher Schule mit Strukturen und Inhalten der 68er Reformauffassungen - ist vor allem strukturell und inhaltlich nicht in der Lage, in der notwendigen Breite die Ressourcen für die beginnende Wissensgesellschaft zu mobilisieren und zu entwickeln.
Siebtens: Die Krise der öffentlichen Finanzen - im Spannungsfeld von galoppierender Verschuldung, Grenzwerten der Euro-Zone und der Tabuisierung von Einnahmeverbesserungen.
Aus diesem Gesamtkanon greift die Schröder-Regierung seit dem Ende ihrer ersten Amtszeit vor allem das Thema Massenarbeitslosigkeit heraus. Das ist zunächst nachvollziehbar, denn dies ist für die überwiegende Mehrheit der Deutschen mit großem Abstand das Thema Nummer Eins. Schwieriger wird es schon, die Reduzierung des Themas auf die Arbeitsmarktpolitik und ihre Randgebiete nachzuvollziehen. Sicher, es geht auch um Existenzgründungen und Brücken in den ersten Arbeitsmarkt und es geht um Entlastungen aller Art für die Unternehmen, die dann freier investieren und auch einstellen können. Aber ist das wirklich der Schlüssel zum Problem?
Der Diskurs über die Arbeitslosigkeit ist gespalten und vielfach überlagert. Das wird zunächst daran ersichtlich, dass die Arbeitslosen und auf andere Weise sozial Marginalisierten in diesem Diskurs keine eigenständige Rolle spielen. Ihr Problem besteht nicht allein darin, dass sie kaum organisiert und kaum organisierbar sind. Ihr Problem beginnt damit, dass sie nicht als Individuen mit Gesicht und Schicksal, sondern über ihre große Zahl als Symbol für die Größe der Gefahr wahrgenommen werden, selbst arbeitslos zu werden und zu bleiben. Das faktisch verhandelte Thema lautet also "Arbeitslosigkeit", nicht "die Arbeitslosen". Wird über die Reduzierung der Arbeitslosigkeit geredet, soll vor allem den noch Beschäftigten die Angst genommen werden - angenehmer Nebeneffekt ist die Tatsache, dass Menschen wieder in Lohn und Brot kommen.
Vertretungslücken suchen sich ihre Vertretung
Spiegelbildlich stellt sich die Lage für die Arbeitslosen selbst dar: Ihre Interessen können sich naturgemäß nicht in erster Linie auf die Ausgestaltung ihres Zustandes, sondern müssen sich auf die Überwindung ihrer Lage richten - also besonders darauf, wieder in Arbeit zu kommen. Für die Frage nach Arbeitsmarktchancen aber haben die Akteure des Arbeitsmarktes (Wirtschaft, Gewerkschaften, Politik) die Deutungsmacht - und nicht die zeitweise oder ganz heraus Gedrängten. Alles in allem kommen die Arbeitslosen somit in eine Lage, in der sie sich dem zunehmenden Widerwillen von Unternehmen und Arbeitsplatzbesitzern gegenüber den Sozialkosten beugen und - für den größeren Teil von ihnen zeitweilige - Verschlechterungen der Alimentierung sowie die Zunahme des Drucks beugen (müssen), einen beliebigen neuen Job anzunehmen. Die Notwendigkeit, die Ausgestaltung der eigenen sozialen Lage ins Zentrum zu rücken, ergibt sich hingegen umso schärfer für den harten Kern der Arbeitslosen - die Langzeitarbeitslosen und die Sozialhilfeempfänger. Sie allerdings sind eben kaum politisch vertreten. Gleichzeitig wird auf sie - wohl gerade wegen dieser Schwäche - im Zuge der Hartz-Reformen der größte tatsächliche Druck ausgeübt.
Das mag, taktisch und kurzfristig gedacht, probat erscheinen und in der Sache manche Umstellung sinnvoll machen - in isolierter Form hat sich dieser Ansatz für seine Protagonisten politisch eher als kontraproduktiv erwiesen: Der Versuch, mit den schmerzhaften Reformen dort anzusetzen, wo es die schwächste Lobby und die verwickeltsten Interessenüberlagerungen gibt, schlägt alsbald auf die Urheber zurück. Auf der einen Seiten formiert sich die Lobby - auch auf den Straßen; Vertretungslücken suchen sich ihre Vertretung. In diesem Fall, so die Lehre des Wahlsonntags im Juni, beginnend bei der PDS.
Und wenn es stimmt, dass die Angst vor der Massenarbeitslosigkeit die Angst vor dem eigenen Absturz in die Arbeitslosigkeit ist und dass eine rein arbeitsmarkt-bezogene Reform die strukturellen Probleme der Wirtschaft nicht löst, dann rückt einerseits der Auslöser der Angst nicht durch sinkende Arbeitslosenzahlen in die Ferne und andererseits potenziert die Vergrößerung der Fallhöhe diese Angst weiter - bis hin zur Ablehnung von Reformansätzen, die viele vor der "Agenda 2010" noch befürworteten oder sogar forderten.
Der Gedanke macht deutlich, was auch an anderen Aspekten ausargumentiert werden kann: Die Störungen stehen nicht für sich, sondern sind auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Sie sind für keine politische Kraft selektiv zu behandeln. Es handelt sich zudem um politisch kaum steuerbare oder - wenn überhaupt - nur auf nationalstaatlicher beziehungsweise zwischenstaatlicher Ebene und unter Einbeziehung global aktiver, nicht-staatlicher Akteure zu bearbeitende Herausforderungen.
Diese hohe Barriere einerseits, die Komplexität des Problems andererseits, beides verbunden mit der Verunsicherung einer Bevölkerung, die die Gemengelage zwar erahnt, aber nicht überschaut, die ihre überforderten Politiker sieht und sie bei irreversiblen, auf jeden einzelnen durchschlagenden Veränderungen am Vertrauten ertappt - dies alles produziert jene Atmosphäre des Abstrafens und Atomisierens jener, die scheinbar aus bösem Willen und "handwerklicher Unfähigkeit" das tun, was sie tun. Und daran erstarkt eine Tendenz in der Bevölkerung, sich von demokratischen Grundüberzeugungen zu verabschieden, um die eigene Radikalisierung, die sich aus der erschütterten persönlichen Lebenssituation erklärt, ungehemmter ausleben zu können.
Darauf trifft einerseits die Union, andererseits der sich formierende Links-Populismus - scheinbar in der üblichen Logik des Parteinwettbewerbs und der Wahlkampfmethodik. In Wirklichkeit jedoch ist die Demokratie im Mark berührt.
Auf sicherem Grund das fertige Gebäude verschönern - das geht nicht mehr
Einer der weitsichtigsten politischen Sätze der letzten Zeit wird derzeit in politischen Fernseh-Talkshows kolportiert. Theo Waigel soll es gewesen sein, der Angela Merkel gesagt habe, sollte sie jetzt Kanzlerin werden, stünde sie mit ihrer Partei in vier Jahren genauso da wie der heutige Kanzler mit der seinen - angesichts der Aufgaben und Blockaden im Lande könne das gar nicht anders sein. Sicher: Auf die "Störungen" des Systems ist die Union nicht besser vorbereitet als die SPD. Auch sie hat keinen Zauberstab und das eine, entscheidende Ende, von dem aus der Gordische Knoten zu entwirren ist, hält auch sie nicht in Händen. Sie hält sich für besser - und sie wird derzeit für besser gehalten. Das war etwa die Situation, in der sich 1998 Gerhard Schröder befand.
Und doch steht die Union anders da: Sie ist die Partei, die die alte Bundesrepublik und auch die neue Bundesrepublik nach 1989 aufgebaut hat. Der Wechsel zu Brandt beziehungsweise zu Schröder wurde jeweils in einer Zeit möglich, als die Stimmung sagte: "Jetzt haben wir etwas geschafft, jetzt sollen mal die anderen versuchen, auf sicherem Fundament das fertige Gebäude zu verschönern... Mal sehen, ob nicht doch mehr rauszuholen ist." Gerhard Schröder bediente 1998 genau das: Nicht alles anders, aber vieles besser machen. Er hat die Logik von Kohl fortgesetzt, auch dort, wo der es nicht mehr wagte. ?Das ist schlecht", sagen die einen - "es ist schlecht gemacht", sagen die anderen. Vorwürfe wie diese sind immer richtig und falsch gleichermaßen. Den Erdrutsch in der politischen Stimmung des Landes erklären sie nur bedingt.
Zu erinnern ist an etwas anderes: Wenn es um das Grundsätzliche geht, wenn es darum geht, Fundamente zu errichten, wendet sich der deutsche Wähler gern der vermeintlich sicheren Seite zu - den Konservativen. Das war im Zuge der deutschen Einheit so. Das war in der Gründungs- und Aufbauphase der Bundesrepublik so. Das war eigentlich schon seit Bismarck so. Und es könnte jetzt wieder so kommen - jetzt, da die Menschen verstehen, wie grundsätzlich der Umbruch in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft ausfällt und ausfallen muss.
Scheinbar war es in der - gescheiterten - Weimarer Republik nicht so. Damals führte die SPD zumeist die Regierungen, und es waren die Konservativen - sowohl die wilhelminischen wie große Teile der bürgerlichen Konservativen und Rechten -, die sich der Verantwortung für die Demokratie verweigerten. Der linken Mitte fehlte - nach den gezielten Attentaten der frühen zwanziger Jahre (Rathenau, Erzberger) und nach dem Tod Stresemanns - nicht nur das notwendige Personal, sondern vor allem die notwendige Konsistenz und Kooperationsfähigkeit: die Integrationskraft der SPD nach Noske nachhaltig geschwächt, die KPD auf Konfrontationskurs gegen die "Sozialfaschisten" und allüberall Abspaltungen vom linken Rand der Sozialdemokratie. Das Scheitern von Weimar unter der SPD könnte also auch als eine bestätigende Erfahrung im Nationalgedächtnis sedimentiert sein, wonach man eben in Gründungs- und Aufbauphasen in Deutschland eher auf die Konservativen oder Bürgerlichen zurückgreifen muss.
Die aktuelle Krise der einen Partei ist die nächste der anderen
Fraglich ist allerdings, ob die Zeit für eine strategische Machtübernahme durch die Union schon reif ist. Das hat nichts mit deren Personalspielen zu tun, nicht einmal mit ihrer kaum hinreichenden konzeptionellen Vorbereitung. Es gibt - empirisch nachweisbar - einen klaren Konflikt zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den politischen wie wirtschaftlichen Eliten: nicht um die Notwendigkeiten von Reformen an sich, sondern um ihre Radikalität und um die Verteilung der Belastungen und der Chancen. Das betrifft alle - nicht nur die SPD. Erkennbar auch die Union, erlebbar im Streit zwischen Merkel und Stoiber, zwischen den derzeit in der CDU Dominierenden und der CSU, im abwartenden Abtauchen anderer Protagonisten - von Koch bis zu den Sozialausschüssen.
Im Grunde kann vor diesem Hintergrund niemand unter den politischen Konkurrenten im Moment wirklich wollen, dass die SPD jetzt abtritt, denn sie ist das Labor, in dem die Experimente in dieser Hinsicht ausgeführt werden. Weil der Ausgang ungewiss ist, wollen andere Parteien nicht auch noch darin verschlissen werden. Das ist taktisches Kalkül und zugleich ein Irrtum. Denn es werden nicht Parteien im Sinne von Vereinigungen verschlissen, sondern eben politische Richtungen. Konkret eine: die aus der sozialdemokratischen Tradition kommende. SPD und eben auch PDS aber brodeln heftig im Erlenmeyer-Kolben - ich bleibe bei meiner These vom Herbst 2003, wonach man an den Krisen der einen Partei die nächste Krise der anderen studieren kann. Die chemische Reaktion ist in Gang gesetzt, sie wird auch weiter gehen, wenn der Brenner (der Regierungsmacht) darunter weggenommen wird.
Das Problem besteht in den Dimensionen und in den Wirkungen der derzeitigen Krise von Mitte-Links in Deutschland. Denn bislang hat die konservativ-bürgerliche politische Ausgestaltung von Gründungsperioden funktioniert, weil es eine starke demokratische Links-Opposition in Politik und Gesellschaft gab. Und genau das wird jetzt gefährdet - durch den zerstörerischen Verlauf des Experiments am Mitte-Links-Teil der Gesellschaft, durch die damit verbundene Implosion der politischen Identität der einstigen sozialdemokratischen Traditionsmilieus, durch die Gefahr einer links-fundamentalistischen und neokommunistischen Hefe links von der SPD - in ihren Absprengseln bis hinein in die PDS.
Noch hat sich der Linkspopulismus politisch nicht konstituiert - und auch die PDS nimmt seine Stelle nicht ein. Zwar hat sie zur Europa-Wahl einen bundespolitischen Protestwahlkampf geführt, sich zugleich aber den durch die Regierungsbeteiligungen im Land Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern gesetzten Grenzen gestellt und - mehr noch - in Thüringen klar für einen Regierungseintritt gekämpft. Zudem hat sie in ihrem neuen Parteiprogramm - bei allen Schwächen und weniger deutlich, als in der Programmdiskussion zuweilen formuliert - auch gezeigt, dass sie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und freies Unternehmertum durchaus als Basisinstitutionen moderner, freiheitlicher Gesellschaften versteht und in ihren sozialistischen Traum integriert.
Der Traum von der neuen Linkspartei nach altem Muster
Genau wegen dieser mehrheitlich eingegangenen Bindung auch der PDS an Realpolitik richten sich seit Monaten Bestrebungen von Unzufriedenen aus SPD, Gewerkschaften und auch PDS darauf, eine neue Linkspartei ins Leben zu rufen - eine Linkspartei, die nicht durch die Härten des politischen Lebens seit den späten neunziger Jahren gezeichnet ist und deren politischer Gestaltungsanspruch, wenn er denn überhaupt gegeben ist, sich in den Träumen ergeht, die man schon Mitte der siebziger Jahre nicht mehr durchsetzen konnte. Damit aber wird es ebenso wenig getan sein wie mit dem Versuch, die Probleme des Landes "als Ergebnisse falscher, neoliberal geprägter Politik und Krisenprozessen und Widersprüchen" aufzuzeigen, "die die kapitalistische Ökonomie aus sich heraus hervorbringt" - so aber das erste Strategiepapier der "Wahlpolitischen Alternative". Vor 114 Jahren schrieb Friedrich Engels einen auch heute immer wieder lesenswerten Brief an Josef Bloch, in dem er sich ausführlich gegen eine Verballhornung und Simplifizierung des historischen Materialismus wandte und sehr pointiert warnte: "Es wird schwerlich gelingen, ... den Ursprung der hochdeutschen Lautverschiebung, die die geographische, durch die Gebirge .... gebildete Scheidewand zu einem förmlichen Riss durch Deutschland erweiterte, ökonomisch zu erklären, ohne sich lächerlich zu machen."
Doch vielleicht ist die Sache ernster, wenn angesichts der vielfältigen Blockaden und blockierten Ressourcen - einer Situation, die in gewisser Weise an die Grenzen des Ancien Régime und den Vorabend der französischen Revolution erinnert - in der Linken jetzt wieder die Systemfrage in den Vordergrund gerückt wird. Revolutionäre Situationen sind Bewährungsproben, nicht immer Chancen für die Linken. Bei weitem nicht immer hat die Linke diese Bewährungsproben bestanden; Jahrzehnte des Totalitarismus und letztlich der Zusammenbruch waren die Folgen. Nicht immer hat die Linke die Bewährungsproben mit vertretbaren Mitteln bewältigt - denkt man etwa an die blutige Geschichte der deutschen November-Revolution. In Zeiten von Zusammenbruch und Mangel war die Linke besonders gefährdet - und oft genug ihretwegen auch die Gesellschaft.
Wo eigentlich bleiben die früheren SPD-Wähler?
Allein bei der Europa-Wahl vom vergangenen Juni mit ihrer historisch niedrigen Wahlbeteiligung hat die SPD im Vergleich zur Bundestagswahl 2002 über zehn Millionen Wählerinnen und Wähler verloren, die nicht bei anderen demokratischen Parteien angekommen sind - ganze 270.000 SPD-Wähler von 1999 konnte links neben ihr die PDS binden. Für die PDS ein respektables Ergebnis, für die Demokratie insgesamt ein Achtungszeichen.
Wo eigentlich bleiben die früheren SPD-Wähler? Mit Sicherheit nicht in den siebziger Jahren. Hamburg gibt einen Fingerzeig auf die Integrationsmöglichkeiten gegenüber rechten und linken Populisten: Die dortige Wahl 2001 war die Wahl weg von der SPD - die Wahl 2004 die Wahl hin zur Union. Einmal mit, einmal nach Schill und seiner rechtspopulistischen ?Rechtsstaatlichen Offensive". Schill war 2001 die notwendige Brücke - heraus aus der sozialdemokratisch-grünen beziehungsweise der parteipolitisch definierten Mitte-Links-Dominanz und hin zum ?anderen Ufer", dem aufgeklärt bürgerlichen Lager.
Kooperation und Konflikt mit Schill waren der notwendige Katalysator für die Wählbarkeit und das Image Ole von Beusts. Die CDU - weg von der drögen Patrizier- und Bürgerpartei der elitären, aber minoritären bürgerlichen Milieus und hin zur modernen, offenen Großstadtpartei - nimmt Abschied vom prüden und restriktiven Mief der deutschen Konservativen vor allem aus der süddeutschen Fläche. Das Symbolthema Homosexualität hat diesen Wandel beglaubigt. Durch seine Schill-Koalition hatte von Beust in der Sache Offenheit nach rechts signalisiert - und zugleich in der Auseinandersetzung mit Schill Handlungs- und Entscheidungsstärke bewiesen, was der eher rechte Wähler gerne sieht.
Allerdings steht man auf der rechten Seite vor einer anderen Herausforderung als links - und zwar aufgrund der Themen, die die Rechtspopulisten besetzen: innere Sicherheit, Ausländer, Nationalismus. Zwar knüpfen auch die Rechtspopulisten an die existenziellen Nöte der Menschen an, gehen auf die Verunsicherungen und Entwurzelungen ein, auf die Modernisierungsverlierer, die Aufgescheuchten, Verunsicherten, Verängstigten - aber sie tun es nicht direkt, sondern eben über ihre Themen. Sie geben scheinbar einfache Antworten - aber nicht unmittelbar, sondern abgehobener, ideologisierter. Hinzu kommt: Die Felder der inneren Sicherheit, auch der Asylpolitik, gehören zu den wenigen verbliebenen Räumen, in denen Staat und Politik tatsächlich noch Gestaltungsräume besitzen und Ressourcen akquirieren können, die andere (Wirtschaft, Zivilgesellschaft etc.) nicht akquirieren können und auch nicht wirklich beanspruchen. Staat und Politik haben hier ein Monopol, können sich also als handelnde Kraft darstellen.
Der linke Populismus und Fundamentalismus, der Sozialkonservatismus, der Traditionalismus etc. greifen demgegenüber viel direkter an - dort, wo die Bürgerinnen und Bürger in Heller und Pfennig, in Euro und Cent täglich erfahren, was ihnen geschieht. Sie greifen zudem auf einem Terrain an, wo Staat und Politik kaum zusätzliche Ressourcen mobilisieren können. Man muss den Blick über die tatsächlich konzernfreundliche Steuerpolitik hinaus öffnen und auf den dramatischen Rückgang der Ressourcen in den nächsten Jahrzehnten schauen, auf die demografische Entwicklung, auf die Verschuldung, die absehbaren Belastungen der sozialen Sicherungssysteme.
Die Verständigung darüber hat bei der demokratischen Linken gerade erst angefangen, die Parteien aber bei weitem noch nicht erreicht - während ihre Spitzenpolitiker unter höchstem Druck damit beginnen, das Land auf diese Herausforderungen einzustellen. Daneben werden intellektuelle Verweigerung und Rückwärtsgewandtheit unter dem Deckmantel der Radikalisierung schick: "1989 ist die große historische Alternative zum Kapitalismus weggefallen", erklärte in diesem Frühjahr etwa Robert Menasse. "Man kann nur zurück an den Punkt, wo man nichts anderes ist als ein Ketzer und Häretiker."(6)
Der Ausfall der Intellektuellen und die Tatsache, dass die Demoskopen an ihre Stelle treten, führen dazu, dass zu einseitig und damit falsch gefragt wird - und auf diese Weise auch nicht mehr nachgefragt und in Frage gestellt. Viele sähen sich als Verlierer der "Agenda 2010", gab ein führendes Meinungsforschungsinstitut kürzlich zu Protokoll. 60 Prozent der Deutschen meinten, die Reformen hätten ihnen persönlich eher Nachteile gebracht, Vorteile registrierten dagegen nur drei Prozent. Unter den Rentnern zählen sich sogar 73 Prozent zu den Reform-Opfern.
Die Reformen, vor denen Deutschland steht, lassen sich aber nicht nach den individuellen Vor- und Nachteilen bewerten - tut man es, kommt man zu so absurden Ergebnissen wie dem, die heutigen Rentner seien die großen Verlierer. Tatsächlich sind die künftigen Rentner, die heute um die 40 Jahre alt sind, die großen Verlierer - und zwar sowohl des bestehenden Rentensystems wie der jetzigen Reform. Ihnen wird es auf alle Fälle schlechter gehen. Doch nicht sie ziehen auf die Straßen - nein, die jetzigen Rentner tun es. Das ist auch ein Beleg für die kürzlich im Editorial von Heft 2/2004 der Berliner Republik entwickelte These von der politisch-mentalen Spaltung der Generationen. Vor allem aber ist es ein Beleg für die Kurzsichtigkeit und Kurzatmigkeit der Auseinandersetzung mit den Reformen.
Die Linie ist nicht mehr erkennbar - und das macht die Leute verrückt
Was wirklich gefragt ist - und nicht hinreichend geliefert wird -, ist nicht "bessere Vermittlung", sondern politische Führung. Inhaltliche Führung. Allein der Anspruch, beispielsweise der SPD die strukturelle Mehrheitsfähigkeit zu sichern (Matthias Machnig), genügt dem noch nicht - mag er auch noch so geschickt, flexibel und zeitweise erfolgreich erhoben werden. Stimmenmaximierung ohne inhaltliche Konsistenz garantiert bestenfalls kurzfristig Erfolge - und führt in die Gefahr umso tieferer Abstürze. Das hat auch die PDS erfahren. Wer eine Partei ohne Inhalt entwirft, legt die Basis für Beliebigkeit, für extreme inhaltliche Pendelschläge, für politische Unausgewogenheit mit nachhaltigen Folgen. Kommt dann Spitzenpersonal mit einem eher situativ ausgerichteten Politikstil hinzu, mag man diesen zwar wunderbar als modern begründen können. Aber die Linie ist nicht mehr erkennbar - und das macht die Leute verrückt. Und es schaukelt das Problem hoch: Dieser Politikstil reagiert dann wieder auf die extremen Pendelausschläge im öffentlichen Bewusstsein. Im Grunde aber wurzelt dies alles darin, dass die Linke intern keine Klarheit darüber besitzt, wie die Welt eigentlich ist, wie sie sich entwickelt und was das für die Politik bedeutet. Alle spielen ein Spiel gegeneinander, Verwirrung wird zum System.
Was fehlt, das sind die Maßstäbe und die Kriterien für die Bewertung von Reformen, auch das Bewusstsein für die Grenzen von Wohltaten einerseits - und von Belastungen andererseits. Bürger und Politik schielen mit wachsendem Argwohn aufeinander, trauen einander nicht über den Weg und verlieren in dieser bösen Fixierung aufeinander das Gemeinwesen, seine Perspektiven und die politisch noch schwachen Generationen aus den Augen. Zugleich muss man zuschauen, wie sich unter den Bedingungen des entfesselten globalisierten Kapitalismus auf neue Weise eine schmalere und reichere Oberschicht und eine breitere, wesentlich kärger als in den goldenen Jahrzehnten lebende Unterschicht herausbildet - und wie beide schärfer als bislang erlebt gegeneinander abgegrenzt sind.
Die Lage und die Kräfteverhältnisse in dieser frühen und rohen Phase des globalisierten und deswegen gleichwohl entfalteten Kapitalismus gleichen jenen in der frühen, rohen und gleichwohl entfalteten Phase des nationalstaatlich organisierten industriellen Kapitalismus. Es geht schlichtweg um die Grenzen, über die hinaus die Unterschichten nicht aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden dürfen. Und es geht um ihre Integration in die Gesellschaft. Es hat gut fünfzig Jahre gedauert vom Bewusstwerden der sozialen Frage als gesellschaftliches Problem (in der britischen Pauperismus-Debatte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts) bis zur Herausbildung zukunftsfähiger sozialstaatlicher Strukturen in den entwickelten kapitalistischen Ländern Europas. Die Linke hat sich in dieser Zeit konstituiert, Einfluss gewonnen und ausgeübt. Sie hat sich parlamentarisiert. Und internationalisiert. Aber sie war weit davon entfernt, das soziale Thema für sich monopolisieren zu können.
Wir stehen jetzt vor einer ähnlichen Entwicklung. Der Prozess soll sich schneller vollziehen, zu besseren Ergebnissen für die Menschen führen, bei stärkerem Einfluss der Linken, ohne die sozialen Verwerfungen und Verelendungen des 19. Jahrhunderts. Darum geht es. Das scheint wenig. Doch wenn es gelingt, ist es viel. Und wird vielen Menschen helfen. Gelingen wird es nicht, indem abstrakte linke Modelle in die Gesellschaft implantiert werden. Gelingen wird es nur auf dem Weg des politischen Wettbewerbs um die Bewältigung der aktuellen Störungen im Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell - in ihrer Gesamtheit, konzeptionell durchdacht, nicht willkürlich, selektiv, taktisch. Wir leben in einer offenen, dynamischen Gesellschaft - wird das System gestört, strebt es danach, diese Störungen zu verarbeiten. Vieles ist dabei noch offen. Und das heißt: beeinflussbar.
Anmerkungen:
(1) Während das reale Bruttoinlandsprodukt in Deutschland von 1992 bis 2003 insgesamt um 13,6 Prozent wuchs (durchschnittlich 1,2 Prozent pro Jahr), konnten die anderen 14 EU-Staaten im selben Zeitraum ihre gesamtwirtschaftliche Leistung um rund 27 Prozent (2,2 Prozent pro Jahr) steigern. Dies wird vor allem mit den Belastungen durch die deutsche Einheit in Verbindung gebracht, weist aber auch auf strukturelle Defizite hin. Zwar zählt Deutschland nach wie vor zu den leistungsstärksten Industriestaaten weltweit, es gerät jedoch ins Hintertreffen auf dem Markt für internationale Dienstleistungen sowie bei modernen Bürogeräten, Telecom-Produkten und anderen IT-Komponenten.
(2) Werner Abelshauser, Hopp oder topp. Die Innovationsmaschine der korporativen Marktwirtschaft, in: Berliner Republik, 1/2004, S. 48-57.
(3) der gesunken; zuvor lagen bereits die jährlichen Zuwächse unter dem jeweiligen Vorjahresniveau.
(4) Auch deswegen sind die Sozialbeiträge 2003 insgesamt stärker gestiegen als die Löhne und Gehälter (Arbeitnehmerseite: 1,8 Prozent; Arbeitgeberseite: 1,6 Prozent).
(5) In: Die Zeit, Nr. 11/2004.