Die Wurzeln des religiösen Extremismus

Der Psychologe Ahmad Mansour macht Vorschläge, wie die Deradikalisierung der »Generation Allah« gelingen kann

Islam, Integration, Identität – derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eines dieser Schlagwörter in den Medien steht. Die Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika, der Terror des „Islamischen Staates“ und die Flucht von Millionen Menschen nach Europa haben die hiesige Debatte über „den Islam“ polarisiert und radikalisiert. „Der Islam“ ist das Reizwort unserer Tage und bewegt viele Gemüter.

Die AfD hält den Islam für eine politische Ideologie und nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Pegida warnt gar vor einer „Islamisierung des Abendlandes“. Auch einige Medien setzen auf die Angstkarte: „Ist der Islam böse?“ fragte der Cicero im August 2014. „Damit hat der Islam nichts zu tun“, titelt der Focus im Januar 2015, darunter eine Kalaschnikow und ein großes „Doch!“.

Dabei ist „der Islam“ die große Unbe­kannte unserer Zeit, auch und gerade wegen seiner Vielfältigkeit. Wie groß der Wissensbedarf ist, belegt die Zahl der Bücher, die jedes Jahr auf Deutsch erscheinen. Besonders Migranten melden sich zu Wort, darunter Navid Kermani (Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime), Lamya Kaddor (Muslimisch – weiblich – deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam) und Hamed Abdel-Samad (Der islamische Faschismus).

Der persönliche Hintergrund dieser Autorenschaft vermittelt – unabhängig von ihrer politischen Einstellung – biografische Kompetenz, vor allem aber Authentizität und Glaubwürdigkeit in der Auseinandersetzung mit der Vielfalt dieser Religion. Zugleich erweitern diese Autoren religiöse und religionskritische Betrachtungen um politische, soziologische und pädagogische Aspekte und schlagen damit eine Brücke zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Warum fasziniert der »Heilige Krieg«?

Zu diesem Autorenkreis gehört auch der 1976 geborene Psychologe Ahmad Mansour. Der arabische Israeli lebt seit 2004 in Berlin. Politisch und pädagogisch setzt sich Mansour in seiner Arbeit mit dem Salafismus und dem (muslimischen) Antisemitismus auseinander. Mansour ist Gruppenleiter bei „Heroes – gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ und engagiert sich bei „Hayat“, einer Be­ratungsstelle für Personen und Angehörige von Personen, die sich salafistisch radikalisieren oder sich dem militanten Dschihadismus angeschlossen haben.

Mansour führt regelmäßig Schulungen mit der Polizei, Pädagogen und Sozialarbeitern durch. Zudem ist er Programme Director bei der European Foundation for Democracy, einer Denkfabrik in Brüssel. Von 2012 bis 2014 war Mansour Mitglied der Islamkonferenz. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Moses-Mendelssohn-Preis des Berliner Senats zur Förderung der Toleranz.

Mansours Buch Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen hat vergangenes Jahr eine beachtliche Medienresonanz erfahren. Dies liegt sicherlich auch am ­griffigen Titel, der neugierig macht und sich zugleich in die Tradition der verallgemeinernden Zuspitzung stellt: von Helmut Schelskys „skeptischer Generation“ über die „Generation Golf“ bis hin zur „Generation Y“. Zweifellos: Mit der Wahl dieses Titels hat der Verlag einen Coup gelandet. Dieser weckt aber auch entsprechende Erwartungen, was die Tiefe und Wissenschaftlichkeit der Analyse angeht.

Empirisch-wissenschaftlich ist das Buch allerdings gerade nicht angelegt. Der Titel berührt den Nerv vieler Menschen, die aus tiefer Angst und sicherlich auch einem wohligen Schauer heraus verstehen wollen, warum sich Jugendliche in Deutschland von Demokratie und Pluralität abwenden, zu radikalen Muslimen werden und in den „Heiligen Krieg“ ziehen. Zugleich verspricht der Titel Programmatik und Praxis, wenn er den Kampf mit dem Umdenken verbindet.

Der Autor war selbst Islamist

Zunächst: Wer ist die „Generation Allah“? Folgt man Mansours Definition, sind es nicht die terroristischen Jugendlichen, obwohl deren Dynamik und Bedrohungspotenzial nicht zu unterschätzen ist. Die Zahl der jugendlichen Terroristen ist allerdings nach wie vor sehr gering (zum Glück!). Als „Generation Allah“ betrachtet Mansour hingegen die weitaus größere Zahl der muslimischen „Jugendlichen, die vielleicht sogar den Salafismus ablehnen, deren Denken und mitunter auch ­Handeln aber nicht mit den Werten unserer Gesellschaft übereinstimmen und nicht mit der Demokratie vereinbar sind“.

Typisch für diese Jugendlichen sei, dass sie die Denk- und Lebensweisen eines Teils der (Groß-)Elterngeneration unreflektiert übernommen hätten und diese ins Ex­treme treiben würden: patriarchalische Familienstrukturen, der Glaube an das geschriebene Wort, Frauenfeindlichkeit und die Tabuisierung von Sexualität, Antisemitismus und Verschwörungstheorien sowie die Überzeugung, von der deutschen Gesellschaft nicht akzeptiert zu werden. Zentral ist für Mansour, dass es dabei immer auch um den Glauben der Jugendlichen geht: Religion sei „so etwas wie ihr persönlicher unantastbarer Gral“. Als „Generation Allah“ bilden diese muslimischen Jugendlichen die individuelle und strukturelle „Basis für den Radikalismus“, über den Mansour besorgt ist.

Der Autor nähert sich seinen anspruchsvollen Fragen in einer bunten Mischung aus Falldarstellungen, Praxisberichten aus seiner Arbeit mit muslimischen Jugendlichen, psychologischen, soziologischen und pädagogischen Analysen und teils appellierenden Konzepten. Dies ist durchaus abwechslungsreich und eingängig zu lesen, besonders dann, wenn Mansour Biografien von jungen Deutschen – mit und ohne Migrationsgeschichte – kurz und prägnant darstellt. Zudem schildert Mansour ausführlich, wie er als Jugendlicher selbst zum Islamisten wurde: Aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen im israelischen Tira, erfährt Mansour früh Enge und Gewalt; von seiner Familie fühlt Mansour sich missachtet. Nur die islamischen Geistlichen schenken ihm die nötige Aufmerksamkeit. Infolgedessen geht der junge Mansour immer häufiger in die Moschee – bis er am Ende vollständig indoktriniert ist. Erst das Studium in Tel Aviv und der Kontakt mit jüdischen Israelis ermöglichen es ihm, sich vom Islamismus zu lösen.

Versagen die Schulen auf ganzer Linie?

Das Prinzip, den Leser persönlich anzusprechen, verfolgt Mansour auch zu Beginn seines analytischen Teils. Mit Überschriften wie „Der Fremde an meinem Tisch – wenn Kinder sich radikalisieren“ stellt Mansour eine Brücke zu den Betroffenen her. Mansours Thesen zu den Ursachen von Radikalisierungsprozessen gehen über die gängigen Erklärungsansätze hinaus. Diese rücken zumeist entwicklungspsychologische Faktoren der Jugendkultur und die Folgen gescheiterter Integration in den Mittelpunkt.

Das fehlende Urvertrauen dieser Jugendlichen, ein unverarbeitetes Schamgefühl und ein zu starres Über-Ich sind Faktoren, die Mansour zufolge ebenso berücksichtigt werden müssten. Während er psychologisch erläutert, was durch radikalen Islamismus an Angst in patriarchalischen Strukturen kompensiert wird, betrachtet er soziologisch, wie diese ­Kompensation im Fall des radikalen Islamismus rund um die Kernfaktoren von Prestige, Macht, Status und Distinktion funktioniert. Spannend ist Mansours These, dass die besonders in traditionellen Strukturen bedeutsame Vaterfigur durch Migration, fehlende Sprachkenntnisse und Arbeitslosigkeit geschwächt wird. In der Folge suchen die Kinder oft nach einer Ersatzbefriedigung. „Wer wäre besser geeignet als die unanfechtbare Autorität der monotheistischen Religion? Gott und seine theologischen Vertreter, die Imame, eigenen sich als Vaterfiguren.“

Wenig überraschend ist hingegen Mansours Kritik an den pädagogischen Bedingungen in den Schulen: Probleme und Herausforderungen junger Muslime würden nicht schnell genug erkannt. Glaubt man Mansour, versagen die Schulen auf ganzer Linie. Die Islamisten würden sich hingegen Zeit für die Jugendlichen nehmen: Sie sprechen nicht nur die Sprache der Jugendlichen, sondern hören ihnen auch zu. Die Eindeutigkeit ihrer Wertebasis, ihr Sprach- und Dresscode und der Einsatz von Propagandavideos im Internet sprechen die religiösen Gefühle der Jugendlichen an.

Muss jetzt ein Bundesbeauftragter her?

Während Mansour bei den Falldarstellungen und im Analyseteil ein breites Spektrum an Differenzierungen und Zusammenhängen entfaltet, konzentriert er seine praktischen Forderungen im Kapitel „Prävention und Deradikalisierung – jetzt!“ zu stark auf den Bereich Schule. Von den Lehrkräften und Sozialarbeitern fordert er ein Umdenken im Handeln. Kritisch reflektiert er die Fallstricke einer Ihr-versus-Wir-Debatte und fordert stattdessen mehr Biografiearbeit, politische Gegenwartskunde, Islam als Unterrichtsfach, die Förderung von kritischem Denken und Sozialarbeit im Internet.

Allerdings verharren die Ausführungen im Allgemeinen. Man würde gerne mehr erfahren, wie Gegennarrative im Internet aufgebaut werden können. 20 Zeilen sind hier eindeutig zu knapp bemessen. Und die zehn Vorschläge, die Mansour abschließend bietet, sind nur wenig innovativ. Auch hier wüsste man gerne genauer, wie die Politik mit der „Generation Allah“ konkret umgehen sollte.

An die erste Stelle setzt Mansour die allfällige und fast wie eine Eigenbewerbung anmutende Idee eines Bundesbeauftragten für die Prävention und Bekämpfung ideologischer Radikalisierung im Kanzleramt. Die weiteren Forderungen reichen von mehr Elternarbeit in den Jugendämtern bis hin zur Aufforderung an die deutschen Muslime, eine innerislamische Debatte zu führen.

Konkret wird Mansour vor allem dann, wenn er seine pädagogischen und psychologischen Kompetenzen einbringen kann. Anschaulich wird dargelegt, warum Pädagogen dazu ausgebildet werden müssen, die Anzeichen einer ideologischen Verführung und Radikalisierung frühzeitig zu erkennen. Sensibilisierungskurse und Fortbildungen sollten für Pädagogen, ­Erzieher, Sozialarbeiter und Polizisten zunächst verpflichtend sein. Zudem fordert Mansour, die bisherige Projektstruktur in der Präventions- und Jugendarbeit zu reformieren. Bislang sei sie zu kleinteilig, inhaltlich willkürlich und nicht solide finanziert.

Es fehlt der Blick über den Tellerrand

Im Schlussteil wird deutlich, dass das Buch mehr Verdichtung und eine eindeutigere Struktur gut hätte vertragen können, um Raum für eine wissenschaftlich fundierte Analyse und die Diskussion von querliegenden Bezügen zu schaffen. Religiöser Extremismus und Neonazismus weisen mehr Parallelen auf, als ihre Protagonisten es wahrhaben mögen.

Anna Kuschnarowa, Autorin des Jugendromans Djihad Paradise, hat dazu einmal gesagt: „Da wir in einer sehr liberalen Gesellschaft leben, ist es für viele Jugendliche gar nicht so einfach, sich von ihren Eltern abzugrenzen. Heute ist es tendenziell so, dass man die Eltern mit extrem konservativem Verhalten provozieren und schockieren kann. Man kann Neonazi werden oder sich einer reaktionären Glaubensrichtung anschließen.“ Warum greift Mansour diese strukturellen Übereinstimmungen mit vermeintlichen Gegenwelten nicht auf und beleuchtet auch Aussteigerinitiativen wie „Exit Deutschland“?

Ein Blick über den Tellerrand hätte dem Buch gewiss gut getan und ein gewisses Maß an Selbstdistanz erkennen lassen. In manchen Passagen des Buches scheint es, als ob sich Mansour als einer von wenigen Muslimen in Deutschland begreift, der sich für das friedliche Mit­einander von Menschen unterschied­licher Herkunft und Religion engagiert. Deshalb verweist Mansour nur an wenigen Stellen auf andere Akteure und Bücher – etwa die Journalistin und „Hayat“-Leiterin Claudia Dantschke oder Titel wie Deutschland misshandelt seine Kinder.

Andere Projekte, wie die deutschlandweit erste Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer in Berlin, die der Psychologe Kazim Erdog˘ an leitet, werden nicht genannt. Da ist es nur konsequent, dass auf Quellenangaben und ein Literaturverzeichnis verzichtet wird. Dabei würden wissenschaftliche Quellen und Verweise auf andere Projekte zur weiterführenden Auseinandersetzung anregen.

Aufs Ganze gesehen empfehlenswert

So attraktiv der Wechsel von Fallbetrach­tungen, Analysen und programmatischen Kapiteln grundsätzlich sein mag, zum Ende hin verliert das Buch an Spannung. Eine Straffung des Textes im Zuge eines konsequenten Lektorats hätte dem Band gut getan. Ebenso hätte der Schreibstil des Autors mit seiner zum Teil sehr waghalsigen Mischung aus Umgangssprache und „Universitätsdeutsch“ eine Überarbeitung verdient. Oder wollte der S. Fischer Verlag anderen renommierten Verlagen nicht nachstehen und schnell ein eigenes Buch zum umsatzgängigen Markt der Islamtitel beisteuern?

Die Lektüre, wenn sie auch manchmal anstrengend ist, kann gleichwohl empfohlen werden, weil hier große und bewegende Zukunftsfragen anschaulich, offen und engagiert angegangen werden. Und letztlich ist es vor allem Mansours persönliches Engagement, das den Leser motiviert, sich auf seine Fragen einzulassen und seine Vorschläge weiterzudenken.

Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2015, 272 Seiten, 19,99 Euro

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