Weiterbildung schafft Zukunft
Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie waren schon immer Bildungs- und Aufstiegsbewegungen. Im 19. Jahrhundert entstanden die Arbeiterbildungsvereine. Bis zur Weimarer Republik stand die gesellschaftliche, soziale und politische Bildung der Arbeiter im Mittelpunkt. Dieser Kampf um gleiche Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten durch Bildung hat viel erreicht: die Abschaffung des Schulgeldes in Volksschulen 1888, die Einführung des Dualen Systems 1897, seit 1908 dürfen Frauen studieren, die Schulpflicht von zwölf Schuljahren gibt es seit 1918. Es war Willy Brandt, der das Bafög im Jahr 1971 eingeführt hat. Und nachdem 2005 viele konservative Landesregierungen Studiengebühren durchgesetzt hatten, brauchte es mehrere Landtagswahlen mit Regierungswechseln, bis 2013 / 14 auch im letzten Bundesland die Studiengebühren wieder abgeschafft wurden.
Weiterbildung muss für alle möglich sein
Doch wie verhält es sich heute mit der beruflichen Weiterbildung? Ungefähr die Hälfte aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nimmt im Laufe des Berufslebens an einer beruflichen Weiterbildung teil, 70 Prozent davon gehen allerdings nur wenige Tage. Dabei gilt: Je höher die Qualifikation und je größer der Betrieb ist, desto mehr berufliche Weiterbildung findet statt. Zudem gibt es, was die Chancen auf eine qualifizierte Weiterbildung betrifft, eine bedenkliche soziale Schieflage. Frauen, Migranten und Ältere haben deutlich weniger Zugänge zu Weiterbildung.
Notwendig wäre eine breite Struktur, die Weiterbildung für alle ermöglicht. Denn die voranschreitende Digitalisierung und die sich stetig verändernden Qualifikationsprofile in einer turbulenter werdenden Arbeitswelt erfordern eine allgemeine Anhebung des Qualifikationsniveaus und die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit. Dies kann nicht nur Aufgabe der Tarifvertragsparteien sein, sondern muss auch von der Politik gefördert werden.
Ein stark selektiver Zugang zu beruflicher Weiterbildung stellt nicht nur das Recht auf Bildung infrage, sondern auch unser Wohlstandsmodell. Als Exportnation und Wirtschaftsmotor in Europa benötigt Deutschland die besten Fachkräfte, um im Wettbewerb bestehen zu können. Genau deshalb gehört die berufliche Weiterbildung in den Fokus der politischen Auseinandersetzung. Doch die Widerstände sind weiterhin groß. Dies erlebt zurzeit auch die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg, wo ein Bildungszeitgesetz endlich fünf Tage Freistellung pro Jahr für berufliche, politische und ehrenamtliche Weiterbildung vorsieht. Auch in Thüringen hat sich die neue Landesregierung auf ein entsprechendes Gesetz geeinigt. Damit bleibt nur noch Bayern im Obligo. In der Debatte bestimmen allerdings weder die bildungspolitischen noch die volkswirtschaftlichen, sondern leider überwiegend die betriebswirtschaftlichen und taktischen Argumente die Diskussion.
Die Idee der SPD heißt Arbeitsversicherung
Dabei hat die Weiterbildung in Deutschland umfassende Reformkonzepte verdient. Für die sozialdemokratische Weiterbildungsarchitektur der Zukunft steht hierbei das Konzept der Arbeitsversicherung im Zentrum. Schon die Projektgruppe „Arbeitsversicherung“ des SPD-Parteivorstands, die von 2007 bis 2009 tagte, sah einen Rechtsanspruch auf eine lebensverlaufsbegleitende Bildungs- und Qualifizierungsberatung sowie Kompetenzfeststellung vor. Eine erweiterte Konzeption der Arbeitsversicherung war dann Bestandteil des SPD–Wahlprogramms 2013, wo es im Kapitel „Gute Arbeit in einer modernen Gesellschaft“ heißt: „Die Arbeitsversicherung stellen wir auf drei Säulen: den bestehenden sozialrechtlichen Anspruch auf Qualifizierung durch die Arbeitsmarktförderung der Bundesagentur für Arbeit im Falle von Arbeitslosigkeit, einen gestärkten arbeitsrechtlichen Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber auf Sicherung und Erhalt der Qualifikation und einen neuen individuellen Rechtsanspruch auf Weiterbildung und Qualifizierung, über den die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst entscheiden.“
Im Kern soll die Arbeitsversicherung die Beschäftigungs-fähigkeit im Erwerbsleben erhalten und ausbauen. Sie hat einen präventiven statt reaktiven Charakter. Zwar geht die SPD nicht so weit wie der Arbeitsmarktforscher Günter Schmid, dessen Modell ein Volumen von 16 Milliarden Euro vorsieht. Aber die SPD hat erkannt, dass eine breite Beteiligung bei Weiterbildungsmaßnahmen notwendig ist, um Deutschlands Zukunft zu sichern. Auch im Koalitionsvertrag der Großen Koalition 2013 ist unter der Überschrift „Weiterbildung ausbauen“ das Ziel formuliert, lebenslanges Lernen zu fördern. Dies zu konkretisieren wird eine Herausforderung. Ein erster Schritt könnte der Aufbau von Bildungsstützpunkten mit lokalen Netzwerken sein, die als Anlaufstellen für eine umfassende Qualifizierungsberatung und -planung fungieren. Dies wäre eine gute Unterstützung besonders für klein- und mittelständische Unternehmen, die häufig keine eigenen Abteilungen mit langfristiger Personalplanung haben.
Weitergehende Veränderungen im Bereich beruflicher Weiterbildung brauchen zudem Vorbilder und gute Praxisbeispiele. Deshalb sind die gewerkschaftlichen Initiativen, die jetzt vom DGB wie von den Einzelgewerkschaften ergriffen und kämpferisch angegangen werden, mehr als notwendig. Sie sind Garanten dafür, dass sich etwas ändert. Mit seinem Prämienkonzept für die berufliche Weiterbildung von Arbeitslosen bereitet der DGB den Weg für einen schon lange überfälligen Tabubruch. Dabei geht es um die Idee einer Fortbildungsprämie für Arbeitslose, wenn sie eine Ausbildung erfolgreich nachholen. Was für die Anerkennung von intellektuellen Spitzenleistungen schon lange selbstverständlich ist, nämlich Preise, Prämien und Stipendien, soll damit endlich auch ein Mittel der Anerkennung für die Lern- und Lebensleistungen von Menschen werden, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen heraus einen besonderen Lern- und Bildungserfolg erreicht haben. Der nachgeholte Schul- oder Berufsbildungsabschluss ist für einen erwachsenen Menschen eine wirklich große Leistung. Und eine solche Prämie soll natürlich auch dabei helfen, die Einkommenslücken zu schließen und damit eine Ausbildung zusätzlich attraktiv zu machen.
Die IG Metall fordert eine Weiterbildungsteilzeit
Die SPD-Bundestagsfraktion hat diesen Ansatz 2013 im Antrag „Sofortprogramm – 2. Chance auf Berufsausbildung“ für junge Erwachsene aufgegriffen, und in Thüringen findet dazu aktuell ein Modellversuch statt. Es ist gut, wenn diese Ideen des DGB nun in der Bundesagentur für Arbeit diskutiert werden und hoffentlich auch ihren Niederschlag in der Allianz für Aus- und Weiterbildung finden, die sich für die Jahre 2015 bis 2018 unter einmaliger Beteiligung der Gewerkschaften neu konstituiert hat. Das Ziel muss sein, möglichst vielen Menschen eine Ausbildung zu ermöglichen, und sei es auch noch im höheren Alter. Eine (duale) Ausbildung bleibt nun einmal in jedem Lebensabschnitt die beste Vorsorge gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit.
Von vergleichbarer Qualität ist der Vorstoß der IG Metall, im Rahmen ihrer Tarifrunde 2015 für 3,7 Millionen Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie Teilzeitmodelle für Weiterbildungszeiten zu fordern. Die Idee dahinter: Arbeitnehmer sollen sich im Betrieb freistellen lassen können, damit sie bei gleichzeitigem Lohnausgleich beispielsweise eine Ausbildung, eine Aufstiegsfortbildung oder auch eine akademische Weiterbildung absolvieren können. Perspektivisch soll eine solche Weiterbildungsteilzeit dazu führen, dass Arbeitnehmer zwei Jahre in Vollzeit arbeiten, um dann im dritten Jahr Bildungsabschlüsse nachzuholen oder einen Bildungsaufstieg vorzubereiten. Die Einzelheiten – von der Kostenübernahme bezahlter Freistellung bis zu angesparten Zeitguthaben – sind hier noch genauso auszuhandeln wie die Form der Beschäftigungsgarantie nach einer externen Weiterbildung. Bei den Metall-Arbeitgebern ist die Bereitschaft, diesen Weg mit der Gewerkschaft zu gehen aus kurzsichtigen Gründen noch nicht sehr groß gewesen. Aber die IG Metall hat nicht nachgelassen und zumindest einen Teilerfolg errungen. Das Thema ist und bleibt also auf der Tagesordnung.
Bildung schafft Freiheit und Aufstieg
Vergleichbares hat bereits die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie verhandelt, nämlich einen Tarifvertrag zur Lebensarbeitszeit und Demografie. Demnach können über einen betriebsspezifischen Demografie-Fonds lebensphasenorientierte Modelle zur Arbeitszeitgestaltung finanziert und damit Brücken für Weiterbildung gebaut werden.
Positive Beispiele geben auch engagierte und innovative Arbeitgeber, die sich der Frage nach lebensphasenorientierten Arbeitszeiten stellen. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Firma Trumpf in Ditzingen. Die dortigen Mitarbeiter können ihre individuelle Arbeitszeit alle zwei Jahre neu festlegen, bis zu 1 000 Stunden in einem extra Konto ansparen und bis zu zwei Jahre lang die Hälfte des Gehaltes beziehen, um in einem anschließenden Sabbatical das Gehalt in gleicher Höhe weiter zu erhalten. Diese Zeiten können aber auch für Weiterbildung in Anspruch genommen werden.
Die SPD tut gut daran, diese Entwicklungen und Auseinandersetzungen nicht nur mit Sympathie und politischer Unterstützung zu begleiten, sondern beharrlich an der Vertiefung ihrer Konzepte für die Weiterbildung zu arbeiten. Alle wissen es: Die Grundbildung muss dringend ausgebaut werden. Rund 7,5 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland machen nachhaltige Anstrengungen im Rahmen der beschlossenen Alphabetisierungs-Dekade erforderlich. Mögliche tarifliche Erfolge und Absicherungen von Weiterbildungsrechten müssen dringend mit Leistungsgesetzen verbreitert und mit öffentlich geförderten Programmen abgesichert werden. Ein weiteres politisches Großprojekt ist die Modernisierung des so genannten Meister-Bafög – des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes für Meister, Techniker und Fachwirte – hin zu durchlässigerer beruflicher Bildung und einer Erweiterung in Richtung der zunehmend relevanter werdenden Gesundheitsberufe. Diese Initiativen würden sich in eine sozialdemokratische Weiterbildungsarchitektur der Zukunft einfügen. Deren Fixpunkte bleiben aber die Konzepte einer umfassenden Arbeitsversicherung für berufliche Weiterbildung und ein verbindliches Förderungsgesetz für die Erwachsenenbildung.
„Bildung. Macht. Zukunft“ hat die IG Metall ihren Jugendaktionstag 2014 überschrieben. Darin klingt die alte gemeinsame Erfahrung der Arbeiterbewegung an: Bildung schafft Freiheit und Aufstieg, und sie gibt Zukunft. Mit dem gewerkschaftlichen wie politischen Kampf für mehr Weiterbildung können SPD und Gewerkschaften jetzt an diese erfolgreiche Tradition anknüpfen und sie in die Wissensökonomie und Bildungsgesellschaft der Zukunft übersetzen.