Die Zäsur
In den erstaunten Kommentaren zum Ausgang der Bundestagswahl am 18. September 2005 ist sehr viel auf die angebliche Unberechenbarkeit des Wählers und das Versagen der Demoskopie hingewiesen worden. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass das Wählerverhalten auch Züge einer bemerkenswerten Stabilität und Kontinuität trug. Vergleicht man nämlich das Abschneiden der beiden „Blöcke“ miteinander – also des bürgerlichen Lagers von Union und FDP auf der einen und des linken Lagers von SPD, Grünen und PDS/Linkspartei auf der anderen Seite – so haben sich die Wähleranteile im Vergleich zur Bundestagswahl 2002 nur minimal verschoben.
Die bürgerlichen Parteien erzielten 2005 45,0 Prozent gegenüber 45,9 vor drei Jahren, die linken kamen auf 51,0 Prozent gegenüber 50,9 Prozent 2002. Die Kontinuität ist dabei in den neuen Bundesländern um nichts geringer als in den alten. Im Westen lagen die beiden Lager 2005 und 2002 mit 47,7 beziehungsweise 48,3 Prozent für die Bürgerlichen und 48,8 beziehungsweise 48,7 Prozent für die Linke nahezu gleichauf, während sich die strukturelle Hegemonie der Linken in Ostdeutschland weiter verfestigt hat (61,0 beziehungsweise 61,3 Prozent gegenüber 33,2 beziehungsweise 34,7 Prozent für die bürgerlichen Parteien).
Auf der parlamentarischen Ebene wäre die Linkspartei in der alten Bundesrepublik mit ihren 4,9 Prozent an der Sperrklausel knapp gescheitert, so dass Union und FDP hier eine klare Regierungsmehrheit gehabt hätten. Insofern ist es nicht falsch zu sagen, dass auch diese Bundestagswahl im Osten entschieden worden ist. Berücksichtigt man allerdings das gesamte Stimmenpotenzial der Linken, so zeigt sich, dass die bürgerlichen Parteien auch im Westen seit 1994 über keine Mehrheit mehr verfügen. Um die Wahlen zu gewinnen, hätten Union und FDP aus dem Lager von Rot-Grün und dem der Nichtwähler gesamtdeutsch Wähler in einer Größenordnung von etwa drei Prozentpunkten zusätzlich rekrutieren müssen. Dass ihnen das nicht gelungen ist, dürfte in erster Linie mit der verfehlten Wahlkampfstrategie von CDU und CSU zusammenhängen, gegen deren ökonomisch verengtes und stark neoliberal akzentuiertes Programm sich die SPD erneut erfolgreich als Schutzmacht der kleinen Leute profilieren konnte. Statt den sozialstaatlichen Sicherungsbedürfnissen ihrer eigenen und der von Rot-Grün enttäuschten Wählerklientel wenigstens symbolisch entgegenzukommen, zog die Union mit einem Reformkonzept in die Wahlauseinandersetzung, das sich auf den Feldern Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssysteme und Steuern von den Vorstellungen des Wunschkoalitionspartners FDP kaum unterschied. Dadurch gelang es ihr nicht, die für eine Mehrheitsbildung des bürgerlichen Lagers notwendige breite Wählerkoalition zusammenzubringen.
Damit wendet sich der Blick zu den Wählerbewegungen innerhalb der beiden Blöcke. Hier hat sich die Aufmerksamkeit der Kommentatoren primär auf das schwache Abschneiden der Union und die Stimmenverschiebungen im bürgerlichen Lager gerichtet, die der FDP einen – von den Demoskopen nicht vorhergesehenen – Zuwachs von 2,4 Prozent bescherten. Wie die Wahlanalysen zeigen (und auch die Nachwahl in Dresden noch einmal nachdrücklich demonstriert hat), handelte es sich dabei überwiegend um Unionswähler, die mit der Stimmabgabe für die Liberalen ihre Präferenz für eine schwarz-gelbe Koalition ausdrücken wollten – ein Effekt, der durch die aufkommende Debatte über die Große Koalition in der letzten Wahlkampfwoche zweifellos befördert wurde. Viele dieser Wähler dürften ihr Verhalten im Nachhinein bereut haben. Nicht nur, dass die von ihnen gewünschte Regierung nicht zustande kam. Durch die entgangenen Stimmen wurde auch die Position der Union gegenüber der SPD so stark geschwächt, dass sie dieser bei den Verhandlungen über eine Große Koalition auf „gleicher Augenhöhe“ begegnen musste und – trotz knappen Stimmenvorsprungs – nicht einmal mehr den Anspruch auf die Kanzlerschaft unwidersprochen erheben konnte. Diesen Anspruch hätte man ihr kaum streitig machen können, wenn das Unionsergebnis nicht „künstlich“ zu niedrig ausgefallen wäre.
Hier liegt der Unterschied zur Wählerbewegung im anderen, linken Lager, die in der Wahlberichterstattung wohl nur deshalb ein so schwaches Echo ausgelöst hat, weil sie erwartet worden war und von den Wahlforschern auch einigermaßen zutreffend vorausgesagt wurde. Dabei handelt es sich hier um die eigentliche Zäsur dieser vorgezogenen Bundestagswahl, die das Parteiensystem in der Bundesrepublik auf längere Sicht verändern und damit auch die Modalitäten der Koalitions- und Regierungsbildung nachhaltig beeinflussen wird. Als Bundeskanzler Schröder und SPD-Parteichef Müntefering ihren Neuwahlcoup nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verabredeten, hatten sie ja nicht nur gehofft, die Union auf dem falschen Fuß zu erwischen. Ihre Absicht war es vor allem, die Abspaltungstendenzen am linken Parteiflügel zu bekämpfen und das sich abzeichnende Bündnis von WASG und PDS zu vereiteln. Zumindest dies sollte gründlich misslingen. Dass die Neuwahlankündigung das Zusammengehen der Linken beschleunigte, anstatt es herauszuzögern, war aus Sicht der Sozialdemokraten schon schlimm genug. Kaum erträglich war aber, dass die neue Konkurrenz ausgerechnet vom früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine mit angeführt wird, auch wenn es diesem nicht gelang, eine nennenswerte Zahl von prominenten Überläufern in die Linkspartei hinüberzuziehen. Am Ende musste die SPD froh sein, dass sich die Absetzbewegung ihrer Wähler zur PDS/WASG in Grenzen hielt und sie mit 34 Prozent einigermaßen glimpflich aus der Bundestagswahl herauskam. Das unerwartet schwache Abschneiden der Union und ihre eigene Aufholjagd ließen bei den Sozialdemokraten das Gefühl aufkommen, sie seien die Gewinner der Wahl. Dabei sind sie – strukturell betrachtet – die eigentlichen Verlierer.
Ein neues Parteiensystem entsteht
Unabhängig von der gewaltigen organisatorischen Herausforderung, die der eben erst eingeleitete Zusammenschluss von WASG und PDS birgt, stellt das Linksbündnis für beide Seiten eine klassische Win-win-Situation dar. Denn während es der SPD-Abspaltung in den alten Ländern nur mit Hilfe der im Osten fest etablierten Postkommunisten gelingen konnte, gleichsam „huckepack“ ins Parlament getragen zu werden, bedeutet das Zusammengehen mit der WASG für die reformorientierten Teile der PDS um Gregor Gysi und Lothar Bisky die Erfüllung ihres lange gehegten Wunsches, endlich im Westen anzukommen und die Stigmatisierung in der alten Bundesrepublik zu überwinden. An politischen Gelegenheiten dürfte es der neuen Gruppierung ohnehin nicht mangeln. Als einzige Kraft, die sich dezidiert gegen die Sozialstaats- und Arbeitsmarktreformen stellt, kann die nun gesamtdeutsche PDS/Linkspartei – im Westen wie im Osten – ein Protestpotenzial von tatsächlichen oder vermeintlichen Modernisierungsverlierern ansprechen, das von den etablierten Parteien nicht mehr erreicht wird. Ohne ein solches Angebot würde sich der Protest vermutlich in die Nichtwahl flüchten oder andere, rechtspopulistische und rechsextremistische Kanäle suchen, wie es in vielen europäischen Ländern heute gang und gäbe ist. Aus demokratiepolitischer Sicht liegt in der Existenz einer weiteren linken Oppositionspartei also nicht nur ein Schaden. Für die Regierungsbildung und das Regieren selbst könnte sich die neue Kraft allerdings als Problem erweisen, wenn der Reformprozess durch sie erschwert oder verzögert wird.
Eine dauerhafte Etablierung der PDS/Linkspartei würde für die Parteienlandschaft eine einschneidendere Zäsur bedeuten als das Aufkommen der Grünen in den achtziger Jahren und das Hinzutreten der postkommunistischen PDS im Zuge der deutschen Einigung. Die Gründe liegen auf der Hand. Während die Grünen in das Parteiensystem voll integriert wurden, indem sie als möglicher Koalitionspartner für die Sozialdemokratie zunächst in den Ländern und seit den neunziger Jahren auch im Bund zur Verfügung standen, war die PDS auf der Bundesebene bisher zu schwach, um die Bildung einer Regierung nach dem vertrauten Muster einer kleinen Koalition zu vereiteln. Die Bildung einer solchen Koalition gelang zwar schon bei den Bundestagswahlen 1994, 1998 und 2002 jeweils nur um Haaresbreite, indem die siegreiche Partei eine größere Zahl von Überhangmandaten einheimsen konnte. Dies veranlasste aber weder die politische Klasse noch die akademische Öffentlichkeit, über die Notwendigkeit alternativer Regierungsformate intensiver nachzudenken und sich auf diese ernsthaft einzulassen. Umso befremdlicher war der Diskurs, der am Abend des 18. September unvermittelt über das Land hereinbrach, als auf einmal alles denkbar war und kein Tabu mehr heilig schien – von der schwarz-gelb-grünen „Jamaika“-Koalition bis hin zur israelischen Lösung einer rotierenden Kanzlerschaft. Selbst über die Möglichkeit einer lediglich geduldeten Minderheitsregierung wurde munter schwadroniert – ganz als hätte es das „Magdeburger Modell“ oder die heftige Debatte um die Rolle des SSW nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein nicht gegeben.
Nüchtern betrachtet lassen sich nach der Etablierung der Linkspartei drei Szenarien künftiger Koalitions- und Regierungsbildungen vorstellen. Das erste Szenario lautet, dass es der SPD und den anderen Parteien gelingt, die Wähler der Linken mittel- und längerfristig zurückzugewinnen. Dieses Szenario erscheint aufgrund der Verwurzelung der PDS in den neuen Ländern und des vorhandenen Protestwählerpotenzials nicht sehr wahrscheinlich.
Angleichung der Parteiensysteme in Ost und West?
Wenn die neue Konkurrenz also nicht so einfach zum Verschwinden gebracht werden kann, besteht – zweitens – die Möglichkeit, sie durch Einbeziehung in die eigenen Bündnisüberlegungen politisch zu integrieren. Obwohl eine solche Zusammenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin schon längst Realität ist, darf die Parallele zu den Grünen, deren Regierungsfähigkeit im Bund ebenfalls über die Länderebene angebahnt wurde, hier nicht überstrapaziert werden. Einerseits sind die Postkommunisten in Ostdeutschland mit einem Stimmenanteil von rund 25 Prozent ein Machtfaktor, der bei der Regierungsbildung in den dortigen Ländern beachtet werden muss – wie übrigens auch die Erfahrungen aus anderen Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas beweisen. Andererseits lassen sich die inhaltlichen Differenzen mit der PDS auf der Landesebene leichter überbrücken als im Bund, wo über die großen Linien der Politik entschieden wird. Hier müsste die Linke nicht nur auf den außenpolitischen Grundkonsens einschwenken, um als Regierungspartner akzeptiert zu werden, sondern auch von jenen sozialpopulistischen Positionen in der Wirtschaftspolitik abrücken, denen sie einen Großteil ihrer Wählerunterstützung verdankt. Dafür gibt es zurzeit noch kein Indiz. Eine Zusammenarbeit mit der PDS/WASG kann daher aus Sicht der Sozialdemokraten allenfalls eine Perspektive für die nächste oder übernächste Legislaturperiode sein.
Scheidet also auch dieses Szenario als unrealistisch aus, bleiben als Alternativen der Regierungsbildung zum jetzigen Zeitpunkt nur die Große Koalition oder ein Dreierbündnis aus SPD, Grünen und FDP („Ampel“) beziehungsweise Union, FDP und Grünen („Jamaica“). Die zuletzt genannten Kombinationen würden – zumal in der Variante einer Minderheitsregierung – an die Verhältnisse in Skandinavien erinnern, wo solche zentristischen Koalitionen gang und gäbe sind. In der Bundesrepublik hingegen stellen sie, wie man an den wenigen erfolglosen Beispielen auf Länderebene ablesen kann, einen parlamentarischen Fremdkörper dar. Der Hauptgrund dafür liegt in der bipolaren Natur des Parteienwettbewerbs, die ein Zusammengehen der Grünen mit den beiden bürgerlichen Parteien bisher überhaupt nicht und Ampelkoalitionen nur in zwei Fällen (Bremen und Brandenburg) zugelassen hat, wo sie prompt scheiterten.
Dass die alternativen Regierungsformate in den Ländern nicht ausprobiert wurden, hängt dabei auch mit der unterschiedlichen Situation in Ost und West zusammen: In den neuen Ländern konnten CDU, SPD und PDS die Koalitionen aufgrund der Schwäche der kleinen Parteien bislang weitgehend unter sich ausmachen. In den alten Ländern, wo die Postkommunisten über den Status einer Splitterpartei nicht hinausgelangt waren, bestand dagegen weiterhin die Möglichkeit, kleine Zweierkoalitionen (mit FDP oder Grünen) zu bilden. Der Ausgang der Bundestagswahl zeigt, dass sich diese Strukturen nun in beiden Landesteilen aufzulösen beginnen: Im Osten sorgt das Wiedererstarken von Grünen und Liberalen dafür, dass sich die heutige Drei-Parteien-Struktur zu dem Fünf-Parteien-System zurückentwickelt, das bereits in der Nachwendezeit bestand. Und im Westen könnte sich das System durch die PDS/WASG ebenfalls zu einer Fünf-Parteien-Struktur erweitern. Die Wahlen haben also auch zu einer tendenziellen Angleichung der Parteiensysteme in den alten und neuen Bundesländern geführt.
Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg als Testfälle?
Einstweilen kam die Ampelkoalition nach dem 18. September als Regierungsalternative überhaupt nicht in Betracht, weil sie von der FDP kategorisch ausgeschlossen wurde. Auch das Testen von schwarz-grün-gelben oder Minderheitsregierungs- und Neuwahlszenarien hatte für Union und SPD eher die Funktion einer Drohkulisse, um in den Verhandlungen über eine Große Koalition für die eigene Seite möglichst viel herauszuholen. Doch all dies ändert nichts daran, dass die Bundestagswahl für die künftige Koalitionsbildung in Bund und Ländern eine tief greifende Zäsur darstellt. Allein die Art und Weise, wie nach dem Wahlgang über die neuen Farbenkonstellationen öffentlich räsonniert wurde, dürfte es den beteiligten Akteuren in Zukunft schwer machen, in das alte Block- und Lagerdenken zurückzufallen. Die im Frühjahr bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden dafür ein erster Testfall sein.
Vorerst noch gibt es zur Bildung einer Großen Koalition im Bund jedenfalls keine Alternative. Bleibt die Frage, wie sich diese auf die künftige Entwicklung des Parteiensystems auswirken wird. Gewiss stellt es keine gute Voraussetzung für eine funktionierende Zusammenarbeit dar, wenn ein solches Bündnis aus purer Not zustande kommt – hier liegt ein bedeutender Unterschied zur Situation im Jahre 1966, als die erste und bisher einzige Große Koalition auf Bundesebene gebildet wurde. Zwar zeigen die Erfahrungen aus den Ländern, dass auch erzwungene Große Koalitionen durchaus passable Regierungsleistungen vorweisen können. Auf die Bundesebene lässt sich das aber nicht unbedingt übertragen. Zum einen sind die politischen Probleme hier konflikthaltiger. Zum anderen finden während der Legislaturperiode ständig Landtagswahlen statt, in denen sich die Regierungsparteien als Kontrahenten begegnen würden. Um Blockaden zu vermeiden und mehr als nur Minimalkompromisse zustande zu bringen, müssten die Partner also bereit sein, über ihren Schatten zu springen und das Wettbewerbsmoment möglichst weit zurückzuschrauben. Ob das gelingt, ist keineswegs ausgemacht. Es dürfte entscheidend von der personellen Konstellation der Zusammenarbeit abhängen.
Auf dem Weg zu mehr Konsens und Kooperation
Das andere gravierende Problem der Großen Koalition besteht darin, dass sie nahezu zwangsläufig zu einem Erstarken der politischen Ränder führt. Größter Nutznießer des (durch den Zwischenwahleffekt der Landtagswahlen beförderten) Sanktionswahlverhaltens dürfte die Linkspartei sein – keine besonders gute Voraussetzung, um dem Populismus abzuschwören und sich ideologisch zu mäßigen. Im Extremfall könnte das zu einer Situation führen wie in der Vergangenheit beim österreichischen Nachbarn: Die Große Koalition müsste über das Jahr 2009 hinaus weiter regieren, weil eine neue Mehrheit politisch oder arithmetisch nicht entsteht. Ob es dazu kommt, hängt natürlich auch vom Auftreten der Grünen und der FDP ab, die beim Zusammengehen der Großen ebenfalls vom Oppositionseffekt profitieren könnten. Dies würde wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass mit einer der beiden großen Parteien ein anderes Zweier- oder Dreierbündnis gebildet werden kann.
Ob das Zusammengehen von Union und SPD den Spielraum für Reformen erweitert oder verringert, ist eine Frage, die sich letztlich nur empirisch beantworten lässt – theoretisch können für beide Möglichkeiten gute Argumente angeführt werden. In jedem Fall aber stünde auf der Habenseite einer Großen Koalition, dass sie durch die Zurückdrängung des gegnerschaftlichen Prinzips einen kooperativeren Regierungsstil etablieren würde. Dies wäre nicht nur mit Blick auf die Mitregierung des Bundesrates zweckmäßig, sondern hätte auch auf der parlamentarischen Ebene positive Konsequenzen. So könnte etwa der Mehrheitsdogmatismus gelockert werden, der die Abgeordneten bislang zur strikten Einhaltung der Fraktionsdisziplin verpflichtet hat. Die Entscheidungsprozesse würden sich auch insgesamt wieder mehr in den Bundestag verlagern, der dadurch als politische Bühne gegenüber Regierung und Medien an Bedeutung gewinnen könnte. Eine stärkere Konsensorientierung im Entscheidungsverhalten wäre zudem eine ehrliche Antwort darauf, dass die programmatischen Positionen der etablierten Parteien unter den Bedingungen des heutigen Regierens ohnehin keine dramatischen Unterschiede mehr aufweisen. Welchen Sinn ergibt es da, wenn sich die Akteure allein aus Gründen des Machtgewinns oder -erhalts spinnefeind gegenübertreten? Die Bildung neuer und anders zusammengesetzter Koalitionen, die das flüssiger werdende Parteiensystem der Bundesrepublik erzwingt, setzt voraus, dass man diese Logik zumindest ansatzweise durchbricht. Die Große Koalition könnte auf diesem Weg ein wichtiger Zwischenschritt sein.