Die Zeitkrise des Politischen

Politik hat immer weniger Zeit, um Entscheidungen zu treffen, die ihrerseits eine immer längere Wirkungszeit haben und immer längerer Phasen der Implementierung bedürfen. Die Folge ist eine Rücknahme des Gestaltungsanspruchs der Politik: "Muddling through" und die Vordringlichkeit des Befristeten ersetzen langfristige Strategien

Strategiefähigkeit bedeutet in der Politik zumeist eine „Nichtwissensbasiertheit“. Mit dem nichtgewussten Wissen sollte ein politischer Spitzenakteur umzugehen wissen. Strategiefähigkeit bemisst sich an der Fähigkeit zur Antizipation von Erwartungsunsicherheit. Strategiefähigkeit beruht folglich auf der Verfügbarkeit von Orientierungswissen für offene Problemsituationen. Zum Orientierungswissen oder Wissen als Handlungsvermögen können folgende Fähigkeiten gehören: die Balance von Informalität und Formalität sowie punktuelle Be- und Entschleunigung.


Erfolgreiches strategisches Management (im Sinne eines Machterhalts bei gleichzeitiger Problemlösung) eines  Spitzenakteurs der Regierung setzt eine Steuerungsbalance zwischen Formalität und Informalität voraus. Von einer gelungenen Balance ist die Funktionalität der Strategie abhängig. Wer sich im „Schatten der Formalität“ auskennt, verzeichnet strategische Steuerungsgewinne. Informalität kann auch mit Praktiken beziehungsweise Praxisgemeinschaften im Sinne von Etienne Wenger gleichgesetzt werden. Nur wer die Praktiken (tacit knowledge) kennt, kann sich behaupten. Zu den Mustern des Regierens für strategische Momente gehört ganz offensichtlich die Auseinandersetzung mit dem „Schatten der Formalität“.

Strategische Momente können individuelle Akteure in Regierungszentralen nutzen, wenn sie sich die informellen Parallel-Strukturen aneignen. Mit den Rhythmen des Regierens, den Aufstiegs- und Fall-Szenarien, verändert sich der „Schatten der Informalität“. Beim Regierungswechsel verstärken sich die Tendenzen, informell zu kommunizieren, ebenso wie sich Machterosionen gegen Ende der Amtszeit auch dadurch nachweisen lassen, dass Informalität dysfunktional geworden ist. Handeln für offene Problemsituationen bedeutet insofern unter strategischen Gesichtspunkten, dass ein Akteur immer davon ausgehen sollte, in einer Regierungszentrale mehrere Informalitätskontexte nebeneinander vorzufinden. Im Wissen um diese Kontexte und in deren Verbindung  kann strategisches Regieren gelingen.

Der Rohstoff Zeit ist elementar für jede Strategie

Neben der Balance von Formalität und Informalität spielen Zeitstrukturen für ein politisches Strategiemanagement eine besondere Rolle. Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte die Zeitbedingungen für Regierungshandeln in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. November 2005 folgendermaßen: „Das Amt des Bundeskanzlers verlangt eine unglaubliche Komplexität von Entscheidungen und Einschätzungen pro Zeiteinheit“. Der Rohstoff Zeit ist elementar für jede Strategie. Zeitarmut ist eine wichtige Einschränkung von Strategiefähigkeit. Politische Planung und Strategiebildung setzt die Antizipation von Zeitstrukturen und zeitlichen Dynamiken voraus. Zeitstrukturen sind wiederkehrende, zum Teil rechtlich fixierte Handlungsgelegenheiten und Entscheidungssituationen, zum Beispiel Legislaturperioden, Wahlkampfphasen, parlamentarische Entscheidungsverfahren, Regierungserklärungen, Parteitage et cetera. Zeitliche Dynamiken vergrößern oder verkleinern über kurz- bis mittelfristige Zeitspannen die Handlungskorridore einer Regierung. Abhängig von medialen Themenkonjunkturen, der Meinungsbildung in Partei und Koalition oder dem Problemdruck auf einem Politikfeld öffnen oder verschließen sich „Gelegenheitsfenster“: Entscheidungsprozesse beschleunigen oder verlangsamen sich, demoskopische Zustimmungswerte sinken oder steigen, die Folgebereitschaft in Partei und Parlament wird stärker oder schwächer.

Die kaum zu unterschätzende Herausforderung für politische Strategien besteht darin, Zeitstrukturen und zeitliche Dynamiken zusammenzuführen: Es gilt abzuschätzen, wann im Verlauf der Legislaturperiode Problemlösungsstrategien ihre erhoffte Wirkung entfalten und wie lange jene Phase andauert, in der die politischen „Übergangskosten“ eines neuen Programms (etwa Schwierigkeiten bei der Implementation oder Akzeptanzprobleme bei den Adressaten) die zu erwartenden „Gewinne“  übersteigen. Die Antizipation von zeitlichen Dynamiken ist zudem für die erfolgreiche Kommunikation und Durchsetzung der Regierungspolitik von großer Bedeutung. Das gilt für Zeitpunkte, von denen an bestimmte Probleme und Themen relevant werden. Zeitstrukturen und zeitliche Dynamiken eröffnen ferner Gelegenheitsfenster für die Verankerung eigener Agenden im öffentlichen Bewusstsein oder für die Initiierung und beschleunigte Verabschiedung von Gesetzgebungsprojekten.

Politik hat immer weniger Zeit, um Entscheidungen mit immer längerer Wirkungszeit und immer längeren Implementationsphasen zu treffen, was man als „Gegenwartsschrumpfung“ (Hermann Lübbe) bezeichnen kann. Hartmut Rosa konnte zeigen, wie solche Desynchronisationen entstehen und welche Probleme daraus für die Politik folgen. Denn die „Eigenzeiten“ der Politik mit mannigfachen institutionalisierten Zeitstrukturen der politischen Willensbildung, Entscheidungsfindung und Entscheidungsimplementierung passen nicht mehr zu den Rhythmen, dem Tempo der sozialen Entwicklungen anderer Bereiche. Demokratische Politik ist nur beschränkt beschleunigungsfähig. Die Zeitkrise des Politischen führt zur Rücknahme des Gestaltungsanspruchs der Politik. Politik ist nicht mehr Schrittmacher sozialer Entwicklungen, sondern reagiert auf die Vorgaben der schnelleren Systeme. Strategien des muddling through, die sich an den Vordringlichkeiten des Befristeten orientieren, treten an die Stelle gesellschaftsgestalterischer politischer Strategien.

Das zentrale Problem heißt Beschleunigung

Zeit ist ein gewichtiger strategischer Faktor für das Regierungshandeln, und der Verzicht auf die Antizipation von Zeitstrukturen und -dynamiken käme einem Verzicht auf politische Planung gleich. Gleichwohl stellt der Faktor Zeit eine zunehmend größere Herausforderung für politische Planung und Politikformulierung dar. Das zentrale Problem ist die stetig ansteigende Beschleunigung von Veränderungsprozessen in Ökonomie und Gesellschaft. Technologische Innovationen beschleunigen den ökonomischen Strukturwandel und verkürzen damit die Zeiträume zwischen notwendigen sozial- oder wirtschaftspolitischen Anpassungsleistungen. Zudem steigt mit der Geschwindigkeit technologischer Innovationen der Bedarf nach neuen rechtlichen Rahmenbedingungen. Dies hat wiederum zur Folge, dass sich die Politik dem Druck ausgesetzt sieht, immer mehr Entscheidungen zu treffen, deren Wirkungen weit in die Zukunft reichen und damit Pfadabhängigkeiten erzeugen, die nur sehr schwer wieder zu korrigieren sind. Nicht zuletzt setzt die Beschleunigung der Medienberichterstattung, die zu einer Vermittlung von Nachrichten in „Echtzeit“ geführt hat, politische Akteure unter täglichen „Kommunikationsstress“. Die zur Verfügung stehenden Reaktionszeiten für die eigene Positionsbestimmung und anschließende  „Sprachregelungen“ werden kürzer. Das mediale „Themenhopping“ erschwert nicht nur eine zumindest annährend konsistente Kommunikation, sondern belastet die politische Planung mit Nebenschauplätzen. „Kommunikationsstress“ erzeugt zudem die Abnahme von Parteiloyalitäten und die Zunahme von „Spät-Entscheidern“ im Elektorat, deren Wahlentscheidung auch von kurzlebigen Stimmungen abhängig sein kann.

Abnehmende Erwartungssicherheit – sowohl im Hinblick auf die Entwicklung von Politikfeldern und die Wirkung politischer Programme, als auch im Hinblick auf mediale Themenkonjunkturen oder demoskopische Stimmungen – ist ein nur schwer zu überwindendes Hindernis für erfolgreiche politische Planung im Sinne einer realitätsnahen Antizipation von zeitlichen Dynamiken. Hinzu kommt, dass sowohl politische Spitzenakteure als auch ihre Mitarbeiter und Beamten unter Zeitknappheit und mangelnder Zeitsouveränität agieren müssen. Fortwährend werden Probleme von außen an die Akteure herangetragen, was Konsequenzen für die Politikformulierung und die Ausgestaltung von Entscheidungsprozessen hat. Die überwiegende Arbeitszeit beansprucht die Reaktion auf Ereignisse, während für eigene Aktionen, Initiativen oder konzeptionelle Entwürfe dagegen nur wenig Raum bleibt.

Für politisches Entscheiden unter wachsender Komplexität und Unsicherheit sind beide hier kurz skizzierten Faktoren, nämlich Informalität und Zeit, von besonderer Bedeutung. «

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