Die Zukunft wird zerbrechlich sein

Seit dem 11. September wissen wir, wie verwundbar die modernen Gesellschaften sind. Gerade jetzt bedarf es schlagkräftiger Institutionen zur Gegenwehr - doch in der Wissensgesellschaft sind diese ihrerseits instabil geworden

Geänderte Verhältnisse verlangen eine andere Sichtweise. Zu diesen neuen Handlungsbedingungen des Menschen gehört einerseits die wachsende Fähigkeit des Individuums, nein zu sagen. Andererseits ist im vergangenen Jahrzehnt die Machbarkeit der Verhältnisse zu einer sehr viel zweifelhafteren Erwartung und selteneren Erfahrung geworden - zumindest aus der Sicht der das zwanzigste Jahrhundert prägenden großen Institutionen der modernen Gesellschaft wie Staat, Wirtschaft, Militär, Erziehungswesen und Kirche.


Die moderne Gesellschaft ist zerbrechlich(er) geworden. Damit meine ich die wachsende Unfähigkeit staatlicher sowie anderer großer gesellschaftlicher Institutionen, gegenwärtig - und aller Wahrscheinlichkeit nach noch nachhaltiger und eindringlicher in Zukunft - zu regieren beziehungsweise ihren Willen durchzusetzen. Allerdings wächst parallel zur Fragilität moderner Gesellschaften ihre Verletzbarkeit. Auf die Zusammenhänge zwischen Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit moderner Sozialsysteme möchte ich in diesem Essay näher eingehen.

Die Stagnation der Macht

Die These von der Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften hat auf den ersten Blick nur negative Konnotationen. Das ist aber nur der unwesentliche Teil der Wahrheit. Eine Gesellschaft ist natürlich nur aus einer bestimmten Perspektive und in bestimmter Hinsicht zerbrechlich, hilflos, vernetzt, blockiert, autoritär oder auch unüberschaubar. Was, wie dies hier unterstellt wird, aus der Sicht der großen gesellschaftlichen Institutionen des Staates, der Wissenschaft, der Kirche, der Politik, der Justiz oder der Wirtschaft als zunehmend fragil erscheint oder als Herrschaftsverlust verstanden werden muss, kann vom Standpunkt kleinerer Gruppen von Individuen oder sozialen Bewegungen unterschiedlichster Art durchaus als "Machtgewinn" gesehen werden.


Der Zerbrechlichkeit der modernen Gesellschaft oder der Stagnation der Macht, das heißt besonders jener Institutionen, die unser Selbstverständnis und die gesellschaftlichen Verhältnisse in vielen Ländern Europas und Nordamerikas von der Mitte des neunzehnten bis weit in das zwanzigste Jahrhundert bestimmten, steht somit der Zuwachs an gesellschaftlichen Einfluß- und Widerstandsmöglichkeiten kleinerer sozialer Kollektive gegenüber.


Positiv gewendet heißt die Rede von der Zerbrechlichkeit der modernen Gesellschaft, dass es in Wissensgesellschaften zu technischen, intellektuellen und sozialen Entwicklungen kommt, die in wachsendem Widerspruch zur Wahrscheinlichkeit der Ausgestaltung autoritärer politischer Regime stehen. Die Chancen eines perfekten Überwachungsstaats, einer nahtlosen Inneren Sicherheit oder wie auch immer die dramatischen Gefahren bezeichnet werden mögen, die man in der Vergangenheit oft mit großer Überzeugung der gestiegenen Bedeutung technisch-wissenschaftlichen Wissens zuschrieb, gehen weiter zurück.


Ich sehe daher nicht den Zerfall kollektivistischer Weltbilder und Utopien in modernen Gesellschaften oder die wachsende ökonomische Globalisierung, den rapide gestiegenen Wohlstand und die wirtschaftliche Sicherheit vieler Menschen, sondern die wachsende Bedeutung und Verbreitung des Wissens als die wichtigste Ursache der Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten einzelner Gesellschaftsmitglieder und deren Willen, sich Gehör zu verschaffen.

An Weisheit fehlt es uns - an Wissen nicht

In seinem 1831 veröffentlichten Buch The Spirit of the Age hebt John Stuart Mill hervor, dass es einen gesellschaftlich-zivilisatorischen Fortschritt geben könne, und zwar auf Grund einer Kultivier-ung und Steigerung zeitgenössischer intellektueller Fortschritte. Die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Aufwärtsentwicklung und verbesserter sozialer Bedingungen seien aber nicht, wie Mills betont, Ergebnis einer Zunahme an "Weisheit" oder kollektiver Fortschritte in der Wissenschaft, sondern Resultat einer sehr viel allgemeineren und umfassenderen sozialen Verbreitung des Wissens in der Gesellschaft. Mills Hoffnungen scheinen sich erst jetzt, mehr als anderthalb Jahrhunderte später durchzusetzen.


Ob mit der Ausweitung der Handlungschancen vieler Menschen und der Möglichkeit, mit zahlreichen Menschen unabhängig von der sonstigen Ortsgebundenheit in Verbindung zu treten, eine wachsende Unübersichtlichkeit der Verhältnisse angesichts der Vielfalt sich überschneidender Vorgänge einhergeht und Konturen der Wirklichkeit verschwimmen, ist dagegen eher ein Thema der pessimistischen Kulturkritik.


Die wichtigere Entwicklung ist die stagnierende Fähigkeit der großen gesellschaftlichen Institutionen, ihre Macht durchzusetzen, und die komplementäre Erweiterung und Vermehrung effizienter Handlungsmöglichkeiten der Individuen und kleiner Gruppen kraft Wissen. Zwar ist hier von der Zerbrechlichkeit der modernen Gesellschaft die Rede, doch möchte ich mich nicht in den Chor der pessimistischen, häufig zynischen Kulturkritiker einreihen, die die Analyse moderner Gesellschaften im zwanzigsten Jahrhundert häufig und, so möchte ich betonen, sicher nicht zu Unrecht mitgeprägt haben. Die von mir skizzierten Entwicklungen geben jenseits irrealer Utopien Anlass dazu, auf sinnvolle Handlungsoptionen der Menschen zu hoffen.


Wir befinden uns in einem Übergangsstadium zwischen zwei Gesellschaftsformationen. Man muss ganz einfach von der wachsenden Kontingenz und der sich damit weiter abschwächenden Stabilität moderner Gesellschaften beeindruckt sein. Die Zukunft der Gesellschaft ist immer weniger ein Abbild ihrer Vergangenheit. Die zunehmende Unschärfe und Unbestimmtheit moderner Gesellschaften ist die unmittelbare Folge der weiter steigenden (und keinesfalls einseitigen) Bedeutung einer hochdifferenzierten gesellschaftlichen Institution, und zwar des Wissenschaftssystems und des Einflusses seiner Produkte auf die Kultur und Struktur unserer Gesellschaft.


Diese gesellschaftlichen Veränderungen haben natürlich, je nachdem aus welcher Warte man sie zu verstehen und einzuordnen versucht, ihre positiven, aber auch bedrückenden Konsequenzen. Wissensgesellschaften sind zwar (um eine Beobachtung eines anderen Klassikers, Adam Ferguson, aufzugreifen) das Resultat sozialen Handelns, nicht aber unbedingt Ergebnis menschlicher Planung. Wissensgesellschaften entwickeln mehr oder weniger spontan Anpassungsprozesse an veränderte Bedürfnisse und Handlungsbedingungen.

Alles ist möglich? Für den Einzelnen nicht

Zu den wichtigsten Veränderungen der Handlungsumstände gehört die unaufhörliche "Erwei-terung" sozialer Handlungsmöglichkeiten. Moder-ne Gesellschaften als Wissensgesellschaften sind schon auf Grund der Beschleunigung des sozialen Wandels zunehmend zerbrechliche und als moderne Gesellschaften nicht, wie noch Samuel Huntington konstatierte, unbedingt stabile Sozialsysteme. Sie sind aber keineswegs in Auflösung befindliche Gesellschaften. Obschon wachsende Individualisierung in modernen Gesellschaften bedeutet, dass sich der Einzelne von bestimmten kollektiven Zwängen abkoppeln kann und dass das Fremde vielen Menschen immer weniger fremd wird, befreit sie den Einzelnen auf keinen Fall vollständig von solchen Zwängen. Im Gegenteil, es kommen neue Zwänge wie Einsamkeit und die Qual der Wahl hinzu.


Aus der Sicht des Individuums ist das für den Zusammenhalt der Gesellschaft als bedrohliche Diagnose formulierte "Alles ist möglich!" ein Standpunkt ohne Realitätsbezug. Ganz ähnlich ergeht es großen Kollektiven in einer Wissensgesellschaft wie Staat und Wirtschaft: Sie büßen zwar bestimmte Handlungsmöglichkeiten ein, aber ihr gesellschaftliches Gewicht verschwindet nicht vollständig. Andere, kompliziertere Handlungsketten, mehr oder weniger kurzfristige Netzwerke, nehmen einen größeren Raum ein.


Die umfassende Zirkulation des Wissens und das Wissen um das Vordringen des Wissen in alle Handlungszusammenhänge der modernen Gesellschaft hat zur Folge, dass die durch strittiges Wissen konstruierten und konstituierten Handlungsstrukturen ambivalent, fragil und offen werden. Und zwar offen für multiple Interpretationen unterschiedlicher Akteure. Daraus wiederum resultiert die wachsende Schwierigkeit, potentiell revidierbare Handlungsumstände zu kontrollieren, zu formieren, zu planen und zu schließen. Von einer ähnlichen Ausweitung der Handlungschancen großer sozialer Institutionen im Vergleich zu kleineren sozialen Gruppen oder sozialer Bewegungen, kann dagegen nicht die Rede sein.

Wie setzt der Staat seinen Willen durch?

Ergebnis dieser ungleichgewichtigen Veränderung der Handlungsmöglichkeiten ist ein neuer, für Wissensgesellschaften charakteristischer Widerspruch: Während ein zunehmend größerer Teil der Öffentlichkeit zum Beispiel politische Partizipationsfähigkeiten und -chancen wahrnimmt - einschließlich der Wahl, nicht zu wählen und diese Verweigerung als politische Aktivität zu bezeichnen - verändert sich die Fähigkeit des Staates und seiner repräsentativen Organisationen, Staatswillen und -souveränität durchzusetzen, nur geringfügig. In Relation zu den neu errungenen und erweiterten Handlungsmöglichkeiten einzelner Staatsbürger verringert sich die Durchsetzungswahrscheinlichkeit der vormals mächtigen gesellschaftlichen Institutionen sogar in bemerkenswerter Weise. Für die Institutionen stellt sich zum Beispiel die Frage, wie man angesichts des Verlusts an Herrschaft kraft Wissen dennoch die Fähigkeit bewahrt, seinen Willen effektiv durchzusetzen und zufriedenstellende Resultate vorzuzeigen.

Sicherheit durch Wissenschaft? Eben nicht!

Zumindest in diesem Sinn lässt sich folgern, dass das Wachstum des Wissens und seine zunehmende gesellschaftliche Verbreitung paradoxerweise größere gesellschaftliche Unsicherheit produziert und nicht etwa Meinungsverschiedenheiten reduziert oder eine Basis für eine effizientere Herrschaft zentraler gesellschaftlicher Institutionen schafft. Die parallele Frage, ob die traditionelle Verbindung von Erkenntnis (Wissen) und Ge-wissheit wegen oder auch ungeachtet der umfassenden Diffusion von Wissen in modernen Gesellschaften gelockert, wenn nicht sogar gelöst werden muss, wird natürlich auch immer dringlicher.


Die Wissenschaft ist nicht Lieferant zuverlässiger Erkenntnisse, sondern eine Quelle von Unsicherheit und damit der Zerbrechlichkeit moderner Sozialverhältnisse. Trotz seines guten Rufes ist Wissen selten unstrittig Im markanten Gegensatz zu den Überzeugungen der klassischsichen Theorien der gesellschaftlichen Differenzierung ist die Wissenschaft heute in vielen Fällen unfähig, kognitive Sicherheit zu liefern. Der wissenschaftliche Diskurs ist entpragmatisiert, er sieht sich nicht in der Lage, definitive oder sogar wahre Aussagen (im Sinne bewiesener kausaler Sätze) für praktische Zwecke anzubieten, sondern nur mehr oder weniger plausible Annahmen, Szenarien oder Wahrscheinlichkeitsaussagen.


Auf der Sollseite einer ungleichgewichtigen Ausweitung der Handlungschancen in modernen Gesellschaften stehen zweifellos erhebliche Risiken und die Schwierigkeiten, diese nicht nur vorausschauend, sondern auch im Nachhinein regulieren und kontrollieren zu können. Eine Akkumulation von nicht antizipierten Folgen zielgerichteten Handelns einzelner Organisationen oder relativ kleiner Gruppen von Individuen, die von einem erheblichen Handlungsspielraum unmittelbar profitieren, kann in Wissensgesellschaften zu erheblichen Gefahren für die gesamtgesellschaftliche Stabilität führen.


Allerdings ist die Gefährdung und sind massive, "katastrophale" Risiken der modernen Gesellschaft nicht so sehr Ausdruck ihrer Zerbrechlichkeit, sondern ihrer Verletzbarkeit. Man sollte aber die Ursachen beider Formen der gesellschaftlichen Instabilität genau trennen. Mein Konzept der sozialen Zerbrechlichkeit schließt beispielsweise Handlungen aus, die eindeutig illegal sind und etablierte soziale Verhaltensmuster stören könnten - wie es etwa im Fall der Einführung und Verbreitung von Computerviren geschieht.

Der Hammer fällt, das Licht geht aus

Der Umstand, dass moderne Gesellschaften äußerst verwundbar sind, wird häufig schon als eine Selbstverständlichkeit angesehen. Moderne Infrastrukturen und technologische Einrichtungen sind störanfällig, sei es durch Sabotage, menschliches Versagen, sei es durch extreme Naturereignisse, die das routinierte Alltagsleben der modernen Gesellschaft untergraben können. Wenn in der kanadische Stadt Toronto im Sommer 1999 ein Großteil des Kommunikationssystems lahmgelegt wurde, weil ein heruntergefallenes Werkzeug eine verheerende Kettenreaktion auslöste, von der nicht nur Kanadas größte Stadt betroffen war, sondern sukzessive das ganze Land, dann ist dies ein Beispiel für die Verletzlichkeit moderner Gesellschaftssysteme auf Grund menschlichen Versagens, nicht aber Folge unbeabsichtigter Konsequenzen planvollen Handelns.


Einer kleinen Gruppe von Personen zum Beispiel, die, aus welchen Gründen auch immer, zum äußersten entschlossen ist, kann eine moderne Gesellschaft trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in der Tat ausgeliefert sein. Es handelt sich um Risiken und möglicherweise katastrophenartige Folgen, die durchaus realistische Szenarien repräsentieren. Allerdings ist, wenn ich von der Zerbrechlichkeit der modernen Gesellschaft spreche, nicht diese Art der Selbstverwundbarkeit, Verletzbarkeit und der Empfindlichkeit gegenüber "extremen" Naturereignissen oder zu allem entschlossenen Terroristen gemeint.


Die gegenwärtigen Gesellschaftssysteme mögen noch aus einem weiteren Grund als zerbrechlich gelten. Diese Art der Zerbrechlichkeit resultiert aus dem Umgang mit und der Verwendung von sozio-technischen Artefakten, die eigentlich den Zweck haben, soziales Handeln zu stabilisieren, zu routinisieren und zu begrenzen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die so genannte "Computer Falle" oder die nicht geplanten beziehungsweise sekundären Folgen der Computeranwendung.

Der Computer macht alles noch schlimmer

Durch die intensive Durchdringung der Gesellschaft mit Computern - gemeint ist die "Reno-vierung" größerer sozialer und sozio-technischer Systeme, um die wachsende Komplexität der modernen Gesellschaft zu "verarbeiten" - entstehen neue Risiken und Zerbrechlichkeiten. Die Computerisierung wird nicht nur immer selbstverständlicher und damit unsichtbarer, auch der Umfang der möglichen Folgen auf Grund von Funktionsfehlern wächst. Die langfristigen sekundären, destabilisierenden Folgen reichen vom Verlernen der Fähigkeiten, auf dessen Grundlage solche Kontrollfertigkeiten erst erlernt werden können, bis zur Konstruktion von sozio-technischen Abhängigkeiten - ganz unabhängig davon, ob die Computersysteme funktionieren oder nicht -, die so komplex und effizient sind, dass Menschen kaum in der Lage sind, ihre Folgen planvoll zu steuern. Sie umfassen aber auch die wachsende Dichte von Verbindungen, nicht vorhandener redundanter Systeme und erforderlicher Reaktionszeiten, die menschliche Kontrollmaßnahmen einfach übersteigen, sollte etwas falsch laufen. Infolgedessen kann man von einer fundamentalen, in die Gesellschaft eingelassenen Zerbrechlichkeit auf Grund technischer Regime sprechen, die eigentlich entwickelt wurden, um genau das Gegenteil, nämlich die Stabilisierung und Routinisierung von Handlungsabläufen, sicherzustellen. Diese potentiellen Konsequenzen der Computerisierung mögen zwar überraschend sein, sie unterscheiden sich aber prinzipiell nicht von den nicht-intendierten und nicht-antizipierten Folgen der Realisierung anderer technischer Systeme in der Vergangenheit.

Ganz unerwartet kam der Terror nicht

Es ist sicher nicht immer leicht, die These von der Bedrohung und der Verwundbarkeit der modernen Gesellschaft durch Angriffe und Aggressionen der unterstellten Art, durch selbstinduzierte Katastrophen, nicht intendierte Folgen der verbreiteten Computerisierung oder auch als Konsequenz natürlicher Vorkommnisse von der These der Zerbrechlichkeit, die sozusagen Teil und Ausdruck moderner, endogener gesellschaftlicher Entwicklungen ist, eindeutig zu trennen.
Dennoch möchte ich unterstreichen, dass das, was ich an dieser Stelle als die Zerbrechlichkeit der Gesellschaft beschrieben habe, auf andere Faktoren, Motive, Ereignisse und Entwicklungen verweist als die gesellschaftlichen Veränderungen, die das Attribut der Verletzbarkeit der Gesellschaft rechtfertigen. Diejenigen, die eine Gesellschaft verletzen wollen, halten sich nicht an deren Spielregeln. Sie halten diese Normen und Prozeduren ohnehin für nicht legitim. "Außergewöhnliche" Geschehnisse, die sich auf Grund einer solchen Konstellation von Motiven ereignen, sind, so möchte man unterstellen, voraussehbar. Der Anschlag vom 11. September auf die Zwillingstürme des World Trade Center in Manhattan und das Pentagon in Washington kam überraschend - aber nicht ganz unerwartet.

Hilflose Opfer sind wir längst nicht mehr

Auf jeden Fall bereitet sich der Staat zum Beispiel auf Ereignisse dieser Art vor. Diejenigen aber, die einen Beitrag zur Zerbrechlichkeit der Gesellschaft leisten, tun dies, indem sie anerkannte Regeln einhalten und den stets vorhandenen Interpretations- und legitimen Handlungsspielraum nutzen. Mit anderen Worten, legitime kulturelle Praktiken, die zu einer bedeutsamen Erweiterung und Diffusion des Wissens führen, ermöglichen es großen Teilen der Bevölkerung, existierende Machtstrukturen effektiv zu bekämpfen. Die einst als durchsetzungsfähig erlebten und verstandenen Institutionen erweisen sich zunehmend als fragil und brüchig.
Darüber hinaus interpretiere ich aber auch das umfassende Anwachsen der "informellen" Wirtschaft, die Zunahme des "abweichenden" Verhaltens, der verbreiteten Korruption, der beruflichen Qualifikationen sowie das dramatische Wachstum von Geldvermögen der Privathaushalte als konkrete Beweise für die erheblich erweiterte Handlungskapazität von einzelnen Gesellschaftsmitgliedern oder relativ kleinen Gruppen von Akteuren in sozialen Kontexten, in denen einerseits die Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten des Staates nicht zugenommen haben und andererseits der Handlungsspielraum vieler Einzelakteure dadurch erheblich angewachsen ist. Zu den Folgen dieser Veränderungen gehört auch ein Wandel in den dominanten Wertvorstellungen.
In der westlichen Welt der Politik kommt es zum Beispiel in allen politischen Parteien zu einem Bedeutungsverlust linker politischer Ziele zugunsten von zentristischen oder sogar konservativen Zielen. Somit wird der noch in den sechziger und siebziger Jahren gültige Trend zu eher linken ideologischen Positionen abgelöst. Aber im Ge-gensatz dazu wird auch heute noch, wie schon häufiger in der Vergangenheit, die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder von der Gesellschaftstheorie als weitgehend schutzlose "Opfer" umfassender, mächtiger Kollektive porträtiert, die in Bezug auf signifikante Umstände ihres Alltagslebens als nicht handlungsfähig charakterisiert werden. Besonders im modernen sozialwissenschaftlichen Diskurs existiert noch immer die Faszination, die von repressiven Maßnahmen und Folgen des Staates, der Ökonomie, des Erziehungswesens, der Medien oder etwa der Medizin ausgeht. Der Einzelne wird als weitgehend hilflose Person beschrieben, sei es in der Rolle des Staatsbürgers, Konsumenten, Arbeitnehmers, Wählers, Patienten, Touristen, Schülers und so weiter. Man beklagt und bedauert, dass er sich in der Regel im Alltag weiterhin mächtigen Institutionen unterwerfen muss oder dass sein Leben eine durchgehend entfremdete Existenz ist.

Befreiung und Gefahren, alles zugleich

Das zufällige Zusammenspiel von Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften ist ein neues Element unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Aus dieser brisanten Mischung von Befreiung, Unsicherheit und Gefahren lässt sich unschwer ausmachen, dass die Gesellschaft der Zukunft mit einem hohen Grad von Volatilität gekennzeichnet sein wird, ohne dass wir in der Lage sein werden, spezifische Ereignisse und Trends benennen zu können.

zurück zur Ausgabe