Droht der alte Lagerkoller?

Der Ausgang der Bundestagswahl hat einstweilen die Erwartung widerlegt, die Zukunft der Politik in Deutschland liege jenseits der Bipolarität "bürgerlicher" und "linker" Parteien. Für unser Land wäre eine Wiederkehr der Lagerlogik kein gutes Omen

Als die Innenarchitekten des Berliner Reichstagsgebäudes Mitte der neunziger Jahre die Fraktionssäle unter der gläsernen Kuppel einrichteten, konnten sie die Verschiebungen der parteipolitischen Kräfteverhältnisse, die ein Jahrzehnt später eintreten würden, noch nicht vorausahnen. Der Abstand zwischen der kleinsten großen Partei, der SPD, und der größten kleinen Partei, der FDP, ist mittlerweile so eng geworden, dass in den hinteren Reihen des Fraktionssaals der Sozialdemokraten gähnende Leere herrscht und die im Vergleich zu 2002 auf das Doppelte angewachsene FDP-Fraktion einen neuen Saal benötigt, um alle Abgeordneten unterzubringen. Auch unter den Abgeordneten- und Fraktionsmitarbeitern werden in den kommenden Tagen viele Vertreter der Großen ihre Büros für die Kleinen räumen müssen.


Mit Blick auf die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems verdienen insbesondere fünf Aspekte des Bundestagswahlergebnisses festgehalten und analysiert zu werden. Erstens hat die Wahl die Fünf-Parteien-Struktur verfestigt, die durch die erfolgreiche Etablierung einer gesamtdeutschen Linkspartei auf der Bundesebene seit 2005 entstanden war. Zweitens hat sie die bipolare Struktur des Systems bekräftigt, in dem sich zwei elektoral und koalitionspolitisch abgrenzbare Lager gegenüberstehen. Drittens hat sie die Kräfteverhältnisse innerhalb der beiden Lager deutlich zugunsten der kleinen Partner verschoben. Viertens hat sie im Verhältnis der beiden großen Parteien eine strukturelle Asymmetrie zugunsten der Union herbeigeführt. Und fünftens hat sie die Erwartung widerlegt, dass kleine Zweierkoalitionen in einem Fünf-Parteien-System keine Mehrheiten mehr erreichen können.


Die Verfestigung des Fünf-Parteien-Systems durch die Bundestagswahl stellt keine Überraschung dar, war sie doch durch die Entwicklung in den Ländern längst abzusehen. Im ersten halben Jahr nach Bildung der Großen Koalition hatte es noch den Anschein, als ob der Durchbruch der Partei „Die Linke“ in den alten Bundesländern kein Selbstgänger sein würde. Deren schwache Ergebnisse bei den Landtagswahlen im Frühjahr 2006 waren aber hauptsächlich auf das zu diesem Zeitpunkt noch ungebrochene Ansehen der Großen Koalition zurückzuführen, auch wenn die SPD davon weniger Nutzen hatte als die Union. Die Bürgerschaftswahl in Bremen im Mai 2007 und die Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg im Januar und Februar 2008 kehrten den Trend um. Die SPD sah sich deshalb zu einem Strategiewechsel gegenüber der erstarkenden Konkurrenz gezwungen, der freilich wenig professionell betrieben wurde. Dass die koalitionspolitische Öffnung zur Linkspartei in Hessen gegen ein ausdrückliches Wahlversprechen erfolgte, führte zu einem massiven Vertrauensverlust bei den Wählern. Die dadurch ausgelöste innerparteiliche Zerreißprobe sollte nicht nur Andrea Ypsilanti zum Verhängnis werden, sondern am Ende auch dem Bundesvorsitzenden Kurt Beck das Amt kosten.

Die Krise bremste die Linkspartei nur kurz

Die Finanz- und Wirtschaftskrise konnte den Aufstieg der Linkspartei ebenfalls nur vorübergehend bremsen. In den ersten Monaten der Krise richteten sich die Augen naturgemäß auf die Regierenden, die das Heft des Handelns in der Hand hielten und für ihr Krisenmanagement von der Öffentlichkeit insgesamt gute Noten bekamen. Dass die Linkspartei mit ihrer Kritik am internationalen Finanzkapitalismus scheinbar Recht behalten hatte, brachte ihr in dieser Phase keine Unterstützung ein, im Gegenteil: Neben den Regierungsparteien profitierte von der Krise ausgerechnet die FDP, die sich als Warnerin vor zu viel Staatsinterventionismus geschickt zu profilieren wusste. Der Agendawechsel hin zu Sicherheit und Besitzstandswahrung, der den bürgerlichen Parteien mit der ihnen traditionell stärker zugeschriebenen Wirtschaftskompetenz zugute kam, ließ das Thema soziale Gerechtigkeit allerdings nur kurzzeitig in den Hintergrund treten. Konnte die SPD ihr schwaches Ergebnis bei der Europawahl im Juni 2009 noch mit dem Hinweis beschönigen, dass zumindest die Abwanderung zur Linkspartei gestoppt sei, so musste sie am Wahlabend des 27. September schmerzlich erkennen, dass sie erneut rund eine Million Wähler an Lafontaines und Gysis Partei verloren hatte.

Die Lagerwechsler entschieden die Wahl

Die Existenz zweier politischer Lager im deutschen Parteiensystem, die Politologen nicht nur aufgrund der fragwürdigen Bezeichnungen als „bürgerlich“ oder „links“ gelegentlich anzweifeln, wird durch das Ergebnis und die Vorgeschichte der Bundestagswahl erneut belegt. Sie kann einerseits an den Wählerbewegungen, andererseits am Koalitionsverhalten der Parteien festgemacht werden. Das Gros der Wähler, die sich bei der jetzigen Bundestagswahl anders entschieden haben als 2005, ist laut Daten von Infratest dimap auch dieses Mal innerhalb des eigenen Lagers verblieben oder hat gar nicht gewählt, anstatt die Stimme einer Partei des anderen Lagers zu geben.


Besonders eindrucksvoll zeigt sich dieser Effekt bei den Unionswählern, von denen jeweils gut eine Million der Wahl ferngeblieben und zur FDP gegangen sind, während die Abgänge zu den linken Parteien kaum messbar waren. Auch bei der SPD gibt es viel mehr interne Abgänge als Lagerwechsler. Mehr als vier Millionen Bürger, die 2005 SPD gewählt haben, sind 2009 zu Hause geblieben oder haben Linkspartei (1,1 Millionen) beziehungsweise Grüne (860.000) gewählt. Rund 1,4 Millionen sind zu Union oder FDP übergelaufen (darunter erstaunlicherweise mehr als eine halbe Million zur FDP!). Zusammen mit den Nichtwählern haben die Lagerwechsler damit die Wahl zugunsten der bürgerlichen Parteien entschieden.     


Die ausschlaggebende Bedeutung der Lagerwechsler zeigt ein Vergleich des Gesamtstimmenverhältnisses. Lagen die drei linken Parteien 2005 mit 51,0 Prozent noch deutlich vor Union und FDP, die zusammen 45,1 Prozent erhielten, so hat sich das Verhältnis diesmal zugunsten der bürgerlichen Parteien umgedreht (48,4 Prozent für Union und FDP, 45,6 Prozent für die drei linken Parteien). Die beiden Seiten liegen also durchaus knapp beieinander. Dies lässt sich auch am Überraschungsergebnis der Piratenpartei ablesen, deren 2,0 Stimmenprozente primär zulasten der linken Parteien gegangen sein dürften. Somit reicht eine relativ geringe Anzahl von Rückkehrern und Nichtwählern aus dem bürgerlichen Lager aus, um eine erneute Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse herbeizuführen.


Gemessen am Koalitionsverhalten der Parteien muss die These der zwei Lager allerdings weiterhin mit Einschränkungen versehen werden. Die Entwicklung des Parteiensystems (und damit der Koalitions- und Regierungsbildung) wird mit davon abhängen, ob diese Einschränkungen auch in Zukunft gelten. Während Union und FDP koalitionspolitisch fest zusammengebunden bleiben, steht den drei linken Parteien nun ein mühsamer Prozess der wechselseitigen Öffnung und Annäherung bevor, der über die Anbahnung von Koalitionen auf der Länderebene auch zu einer koalitionspolitischen Machtperspektive für die Bundestagswahl 2013 führen könnte. Der Tabubruch in Hessen hat zwar dafür gesorgt, dass der Weg für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei von Seiten der SPD schon vor der Wahl freigemacht wurde – bei den Landtagswahlen im Saarland und in Thüringen sollten die Sozialdemokraten diese Option als Chance zur Regierungsübernahme erstmals offensiv nutzen. Dennoch überrascht die Einmütigkeit des von der Bundespartei nun verkündeten Strategiewechsels, dem auch die Vertreter der Parteirechten nicht widersprochen haben. Dies geht so weit, dass sich der von Christoph Matschie geführte thüringische Landesvorstand Vorhaltungen machen lassen muss, warum er bei der Bildung der neuen Landesregierung anstelle des erwarteten, von den meisten SPD-Anhängern offenbar herbeigesehnten Linksbündnisses einer Koalition mit der CDU den Vorzug geben will.

Die Großen sind auf die Hälfte eingeschrumpft

Zu den dramatischen Ergebnissen der Bundestagswahl gehört die Kräfteverschiebung zwischen den großen und kleinen Parteien. Union und SPD kommen zusammengenommen auf nur noch 58 Prozent der Stimmen (gegenüber 69 Prozent im Jahr 2005), was einen historischen Tiefstand markiert. (Bei der ersten Bundestagswahl 1949, die in vieler Hinsicht noch in der Kontinuität des Vielparteiensystems von Weimar stand, betrug ihr gemeinsamer Anteil 60 Prozent.) Noch eindrucksvoller sind die Zahlen, wenn man sie auf die Gesamtwählerschaft bezieht. Aufgrund der stark gesunkenen Wahlbeteiligung (von 77,6 auf 70,8 Prozent) können die Volksparteien danach zusammen gerade noch 40 Prozent der Wahlberechtigten auf sich vereinigen. In der Hochzeit der Stabilität des Zweieinhalb-Parteien-Systems – Anfang/Mitte der siebziger Jahre – lag dieser Wert mit 80 Prozent doppelt so hoch.

Wann ist eine Volkspartei gar keine mehr?

Ab welchem Stimmenanteil hört eine Volkspartei auf, Volkspartei zu sein? Kommentatoren haben diese Frage – hämisch oder ernsthaft besorgt – vor allem mit Blick auf die SPD gestellt, die am 27. September mit 23,0 Prozent ihr mit Abstand schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl hinnehmen musste, während die Union ihren bisherigen Tiefstwert von 1949 (31,0 Prozent) diesmal noch knapp überbot (33,8 Prozent). So wichtig es ist, die längerfristigen Ursachen der rückläufigen Wählerunterstützung im Auge zu behalten, so richtig ist auch, dass der Hauptgrund für das starke Absinken der Großen bei der Bundestagswahl 2009 in der Regierungskonstellation zu suchen ist; das Wahlergebnis 2005 hatte CDU/CSU und SPD unfreiwillig zusammengeführt.


Einerseits gibt es einen natürlichen Oppositionseffekt Großer Koalitionen, andererseits wurde der Anreiz, die Kleinen zu unterstützen, bei dieser Wahl durch die Koalitionspräferenzen und -optionen der Regierungsparteien zusätzlich verstärkt. Während Unionswähler, die sicher gehen wollten, dass ihre Stimme nicht erneut in eine Große Koalition münden würde, in die Arme der FDP getrieben wurden, fehlte es den Sozialdemokraten von vornherein an einer realistischen Chance, einen Regierungswechsel herbeizuführen, nachdem die FDP eine Ampelkoalition kategorisch ausgeschlossen hatte. Die SPD konnte ihre Kampagne am Ende daher nur noch auf das Ziel abstellen, eine schwarz-gelbe Koalition zu verhindern.


Die Bedeutung der Regierungskonstellation für das Abschneiden der großen und kleinen Parteien könnte sich bei den kommenden Landtagswahlen bestätigen. Wenn die Bundesrepublik zum normalen Dualismus von Regierung und Opposition zurückkehrt, der in ihrer 60-jährigen Geschichte (mit Ausnahme der beiden Großen Koalitionen) Bestand hatte, wird auch der normale Sanktionswahlmechanismus bei den „Zwischenwahlen“ wieder aufleben, der den Regierungsparteien im Bund erfahrungsgemäß Verluste und den Oppositionsparteien Gewinne beschert. Nicht von ungefähr sehen Union und FDP dem Landtagswahltermin in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai 2010 bereits jetzt mit Sorge entgegen, wo eine Niederlage zugleich den Verlust ihrer Bundesratsmehrheit nach sich ziehen würde. Legt man die bisherigen Muster der Sanktionswahl zugrunde, muss vor allem die CDU als größte Regierungspartei fürchten, für unpopuläre Maßnahmen der Bundespolitik abgestraft zu werden, während der kleinere Partner in der Regel verschont bleibt. Im speziellen Fall der jetzigen Koalition könnte es aber auch anders kommen. Im Unterschied zur CDU (weniger zur CSU) ist die FDP mit so hochfliegenden Plänen und weit reichenden Versprechungen in die Wahl gegangen, dass sie in der Regierungswirklichkeit besonders viel zu verlieren hat. Es ist kaum anzunehmen, dass ihnen ihre Wähler das einfach durchgehen lassen werden.

Das Dilemma der SPD im Osten

Auf der anderen Seite kann sich die SPD im Umkehrschluss ausrechnen, als größte Oppositionspartei den Hauptnutzen aus der Oppositionsrolle zu ziehen, die sie ab jetzt mit Linken und Grünen teilt. Dabei dürfte ihr zugute kommen, dass sie in den Ländern – im Unterschied zur bisherigen Situation im Bund – durch die erfolgte koalitionspolitische Öffnung gegenüber der Linkspartei über eine tatsächliche Machtperspektive verfügt, die es ihr ermöglicht, existierende schwarz-gelbe Regierungen abzulösen. Wie sich im Zuge dieser Öffnung und der Regierungsbeteiligung der Linkspartei das Konkurrenzverhältnis der beiden Parteien entwickelt und in ihren jeweiligen Wahlergebnissen niederschlägt, dürfte eine der spannendsten Fragen der kommenden Legislaturperiode sein. Zu den Paradoxien der Entwicklung des Parteiensystems gehört, dass sich die Situation für die SPD dabei im Osten inzwischen komplizierter gestaltet als im Westen. In den neuen Ländern sind die Sozialdemokraten gegenüber der „Linken“ deutlich zurückgefallen; nur in Berlin lag sie bei der Bundestagswahl mit den PDS-Nachfolgern noch gleichauf. Reproduzieren sich diese Verhältnisse bei den Landtagswahlen, dann könnte die Koalitionsbildung in den alten Bundesländern demnächst leichter werden als in den neuen. Der Versuch der Thüringer SPD, die bei der Landtagswahl klar stärkere Linkspartei auf die Rolle eines Juniorpartners zu reduzieren, hat das Dilemma deutlich gemacht.

In der Opposition wird es unbequem

Dabei wären gerade Regierungsbeteiligungen geeignet, die Linkspartei wieder auf Normalmaß zurückzustutzen. Bezeichnenderweise hat die vormalige PDS bei den zurückliegenden Landtagswahlen dort am schlechtesten abgeschnitten, wo sie selbst mittelbar oder unmittelbar in die Regierungsverantwortung einbezogen war (in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin). Die koalitionspolitische Einbindung des unliebsamen Konkurrenten würde es der SPD also nicht nur ermöglichen, ihre Mehrheitsfähigkeit gegenüber dem bürgerlichen Lager zurück zu gewinnen; sie wäre auch ein Mittel in der Auseinandersetzung mit der „Linken“ selbst.


Nicht weniger heikel als in den Ländern stellt sich für die SPD die Rivalität mit der Linkspartei auf der Bundesebene dar. Dass Konkurrenz aus dem eigenen Lager in der Oppositionsrolle noch ungemütlicher sein kann als in der Regierung, musste die Partei bereits in den achtziger Jahren schmerzlich erfahren, als ihr die Grünen auf der parlamentarischen Bühne zeitweilig den Rang abliefen. Dies könnte ihr nun erneut passieren. Ob der gescheiterte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier, der noch nie in einem Parlament gesessen hat und dem die Fähigkeit zu polarisieren abgeht, sich mit seiner Selbstausrufung zum Oppositionsführer am Wahlabend einen Gefallen getan hat, bleibt abzuwarten. Um in der Auseinandersetzung mit Lafontaine, Gysi, Künast und Trittin zu bestehen, wäre es vielleicht besser gewesen, man hätte dem designierten Parteichef Sigmar Gabriel das höchste Fraktionsamt und Steinmeier den Parteivorsitz angetragen. Wenn Steinmeier sich die Bühne des Bundestages mit dem rhetorisch versierten Gabriel teilen muss, dürfte er in der öffentlichen Wahrnehmung bald ins Hintertreffen geraten.

Kommt der linke Überbietungswettbewerb?

Bleibt die Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung der SPD. Die neue Doppelspitze kann sicher nicht als Hinweis gewertet werden, dass die Partei ihre Koordinaten jetzt nach links verschiebt. Damit wäre die Partei gleich in doppelter Hinsicht schlecht beraten. Zum einen würde es ihren Anspruch gefährden, auch für die Wähler der breiten aufstiegsorientierten Mitte wählbar zu bleiben. Wenn 3,5 Millionen SPD-Wähler durch Abstinenz geglänzt oder für Union und FDP gestimmt haben, wird man diese nur durch ein Politikangebot zurückgewinnen können, das sich nicht einseitig an den Interessen sozialstaatlicher Leistungsempfänger oder anderer Benachteiligter ausrichtet. Zum anderen wäre ein programmatischer Schwenk nach links auch koalitionspolitisch kontraproduktiv, würde er doch die Linkspartei davon abhalten, sich ihrerseits stärker in die Mitte zu bewegen und unrealistische Positionen zu räumen. Einen populistischen Überbietungswettlauf mit dem Konkurrenten könnte die SPD niemals gewinnen.


Die koalitionspolitische Öffnung der SPD gegenüber der Linkspartei ist die Antwort auf die hegemoniale Position der Union im neuen deutschen Fünf-Parteien-System. Auch hier haben wir es mit einer bemerkenswerten Verschiebung zu tun. Bei den drei vorangegangenen Bundestagswahlen lag die SPD mit der Union ganz oder nahezu gleichauf beziehungsweise einmal (1998) sogar deutlich vor ihr, was die Wahl- und Parteienforscher veranlasste, von einer strukturellen Symmetrie im bundesdeutschen Parteiensystem zu sprechen. Heute kann von einer solchen Symmetrie nur noch mit Blick auf die beiden Blöcke, nicht jedoch mit Blick auf die Volksparteien die Rede sein. Weil die Union es nur mit einem, die SPD dagegen mit zwei Konkurrenten im eigenen Lager zu tun hat, muss letztere fürchten, im Verhältnis der beiden großen Parteien auf längere Sicht in eine Minoritätsposition zu geraten. Der Status als stärkste Partei verschafft der Union einen doppelten machtstrategischen Vorteil. Einerseits erhält er ihr im Bund wie in den meisten Ländern die Möglichkeit, kleine Zweierkoalitionen zu bilden, wobei neben der FDP neuerdings auch die Grünen als Partner infrage kommen. Und wenn die Mehrheiten dafür nicht reichen, tut sie sich andererseits leichter als die SPD, eine Große Koalition einzugehen, in der sie das Amt des Regierungschefs für sich beanspruchen kann. Die SPD scheint dagegen heute nur noch in Dreierbündnissen mehrheitsfähig, die sie entweder mit Linken und Grünen oder – lagerübergreifend – mit FDP und Grünen schließen müsste.

Merkels Strategie ging auf

Weil beide Optionen bei der Bundestagswahl nicht zur Verfügung standen, hatten die Sozialdemokraten gegenüber Union und FDP einen gravierenden Wettbewerbsnachteil. Allein damit lässt sich die Abwanderung von SPD-Wählern zur bürgerlichen Konkurrenz jedoch nicht erklären. Sie ist auch das Ergebnis einer geschickten Neupositionierung der Merkel-CDU, die aus ihren haarsträubenden Wahlkampffehlern 2005 die Konsequenz gezogen hatte, der SPD diesmal bloß keine Angriffsflächen zu bieten. Angela Merkel nutzte die ihr aufgezwungene Große Koalition, um die Union von konservativem und neoliberalem Ballast zu befreien. Indem sie eine Modernisierung der Familienpolitik durchsetzte und allen radikalreformerischen Ansätzen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik eine Absage erteilte, gelang es der Kanzlerin, sozialdemokratisches Terrain so erfolgreich zu besetzen, dass die schwarz-gelbe Koalition als Schreckgespenst im Wahlkampf nicht taugte. Der Kanzlerbonus der populären Amtsinhaberin tat ein Übriges. Die Strategie der Union beförderte zwar die Abwanderung vieler Wähler zu den ungeliebten Liberalen. Das Festhalten der FDP an einer „entsozialdemokratisierten“ Agenda, in deren Zentrum die gebetsmühlenhaft verkündete Forderung nach Steuersenkungen stand, sorgte aber am Ende für eine breite Wählerkoalition, die die Mehrheit für Schwarz-Gelb sicherstellte.

Kehrt das dualistische Modell zurück?

Wie wird sich das Parteiensystem der Bundesrepublik weiterentwickeln? Nach der Zäsur der Bundestagswahl 2005 war die Mehrzahl der journalistischen und wissenschaftlichen Beobachter davon ausgegangen, die Ära des klassischen Volksparteien-Dualismus, die das Standardmodell der kleinen Zweierkoalition begründet hatte, sei unwiderruflich ans Ende gelangt. Zwei Zukunftsszenarien – ein negatives und ein positives – wurden ausgemalt. Entweder, so hieß es, komme es wie in Österreich zu einer Perpetuierung der Großen Koalition. Oder es entstünde eine multiple Koalitionslandschaft wie in den skandinavischen Ländern, in der lagerübergreifende Dreierbündnisse das Bild prägen.


Beide Szenarien haben sich nicht bewahrheitet. Die koalitionspolitische Öffnung der Grünen hat in Hamburg zwar zur Bildung des ersten schwarz-grünen Bündnisses auf Landesebene geführt. Der Option „Jamaika“ musste sich die Grünen-Führung vor der Bundestagswahl auf Druck ihrer Basis dann aber doch verschließen. Noch hermetischer bleibt die Abschottung der FDP gegen ein Ampelbündnis mit SPD und Grünen, die von den Liberalen auch in den Ländern bisher konsequent durchgehalten wurde.


Vor dem Hintergrund der nicht zustande gekommenen Dreierbündnisse ist es erstaunlich, dass die Große Koalition als alternatives Regierungsmodell zuletzt ebenfalls an Attraktivität eingebüßt hat. Wurden bis zu den Landtagswahlen im August und September 2009 fünf Länder von CDU und SPD gemeinsam regiert, so könnten es demnächst nur noch drei sein (wenn in Brandenburg ein rot-rotes und in Thüringen ein schwarz-rotes Bündnis zustande kommt). Rechnet man Schwarz-Grün in Hamburg hinzu, gäbe es auf der Länderebene damit fünf lagerübergreifende Bündnisse, denen zehn bürgerliche oder linke Koalitionen nach klassischem Muster gegenüberstehen. (Das Land Rheinland-Pfalz bleibt mit seiner SPD-Alleinregierung ein Exot.)


Es scheint also ganz so auszusehen, als ob die Zeichen auf eine Rückkehr zum dualistischen Modell stehen. Gelingt es Rot-Grün und der Linkspartei, ihre wechselseitige Abneigung zu überwinden, dann könnten sich in der Bundesrepublik demnächst wieder zwei annähernd gleich starke, koalitionspolitisch abgrenzbare Formationen begegnen, die um die Regierungsmacht streiten. Die Situation wäre damit ähnlich wie in den achtziger Jahren, nur dass sich das linke Lager jetzt statt aus zwei aus drei Parteien zusammensetzt.

Das Unbehagen der Grünen im linken Lager

Gegen ein solches Szenario spricht die Ungewissheit, wie sich das Verhältnis von SPD, Grünen und „Linken“ entwickeln wird. Zum einen ist das Interesse an einer gemeinsamen Machtperspektive noch kein Garant, dass sich bestehende personelle und programmatische Unverträglichkeiten überwinden lassen. Zum anderen führen die unterschiedlichen Koalitionsmöglichkeiten der beteiligten Partner dazu, dass sie unterschiedliche strategische Interessen haben. Einer vollständigen Vereinnahmung im linken Lager dürften sich insbesondere die Grünen widersetzen. Denn hält sich die Öko-Partei die Option offen, gegebenenfalls auch mit den bürgerlichen Parteien zu paktieren, könnte sie demnächst eine ähnliche Züngleinrolle im Parteiensystem einnehmen wie früher die FDP. Warum sollte sie auf diesen Vorteil verzichten?


Gegen dieses Szenario spricht auch der Föderalismus. Dass sich Landespolitiker der Koalitionsräson ihrer Bundesparteien bisweilen entziehen, gehört in der Bundesrepublik zu den normalen Usancen der Koalitionspolitik. Der gescheiterte Versuch der hessischen SPD, ein von der Linken geduldetes rot-grünes Bündnis zustande zu bringen oder die noch andauernde Regierungsbildung in Thüringen stehen hier nur pars pro toto. In Thüringen hatte der freiwillige Verzicht des Spitzenkandidaten der Linkspartei auf das Ministerpräsidentenamt genauso großen Unmut in der eigenen Partei erzeugt wie die Entscheidung des SPD-Landesvorstandes, statt mit der Linkspartei lieber eine Koalition mit der CDU einzugehen. Wenn Parteien, die auf Bundesebene gegeneinander stehen, in den Ländern miteinander regieren, stößt das antagonistische Modell notgedrungen an Grenzen. Es mag unter Demokratiegesichtspunkten besser sein, wenn sich zwei deutlich unterscheidbare Blöcke gegenüber stehen, weil dem Wähler so eine klare Entscheidung ermöglicht wird. Fraglich ist aber, ob dies die faktischen Entscheidungsnotwendigkeiten und -alternativen im komplizierten Regierungsgeschehen noch hinreichend abbildet.

Lagerismus oder intelligente Lockerung?

Stellt man diese Notwendigkeiten in Rechnung, dann ist die Zeit der lagerübergreifenden Bündnisse in der deutschen Politik nicht vorbei. Gewiss wäre ein Modell multipler Koalitionen anspruchsvoller als das bisherige Verharren im Lagerdenken, würde es doch eine grundlegende Veränderung im Verhalten von Parteien und Wählern erfordern. Die Parteien müssten lernen, ihre konfrontativen Neigungen zurückzustellen und pfleglicher miteinander umzugehen. Und die Wähler müssten akzeptieren, dass am Ende nicht sie, sondern Parteien beziehungsweise Parteiführungen über die Regierungsbildung entscheiden. Der klare Wahlsieg von Schwarz-Gelb kann die veränderten Bedingungen des Fünf-Parteien-Systems nicht rückgängig machen, dürfte den Übergang zu einem stärker konsensuell ausgerichteten System aber erschweren. Frühestens die Landtagswahlen im nächsten und übernächsten Jahr werden Aufschluss darüber geben, ob der sich jetzt abzeichnende Rückweg zum Bipolarismus tatsächlich das künftige Modell des Parteienwettbewerbs in der Bundesrepublik markiert. Für das Land wäre es ein schlechtes Omen. 

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