Eigentlich müssten die Sozialdemokraten wahnsinnig werden
Wer Berlin kennt, kennt auch das Kottbusser Tor in Kreuzberg, von den Einheimischen „Kotti“ genannt. Hier tummeln sich Hipster und Partytouristen neben Dealern und Junkies. Der Kotti galt lange als Multikulti-Oase, seit kurzem häufen sich allerdings die Meldungen über Drogendelikte und Übergriffe. Gut Frühstücken kann man hier trotzdem. Zum Beispiel im Simitdchi, dem Lieblingslokal von Julia Friedrichs.
Über ihre spontane Zusage für unser Treffen hatte ich mich sehr gefreut. Denn Julia Friedrichs ist eine, die etwas zu sagen hat. Mit Gestatten: Elite landete sie 2008 einen Beststeller über die „Mächtigen von morgen“. Es folgten weitere viel beachtete Bücher und Reportagen. Vergangenes Jahr legte Friedrichs dann erneut ein kontroverses Buch vor: Wir Erben: Was Geld mit Menschen macht handelt von der Frage, wie sich eine Gesellschaft verändert, in der das Erben zum entscheidenden Faktor für Wohlstand und sozialen Aufstieg wird. „Ein ursozialdemokratisches Thema“, wie die 36-Jährige sagt.
Im Simitdchi ist Selbstbedienung. Als wir an der Reihe sind, bestellen wir zwei Frühstück „Simitdchi“: Wahlweise ein Simit (türkischer Sesamkringel) oder Brötchen mit Käse, eingelegten Oliven, Gurke, Tomaten, Marmelade und Ei. Dazu gibt es einen Kaffee mit wenig Milch für Julia Friedrichs und einen Milchkaffee für mich. Seit 2002 wohnt die gebürtige Westfälin in Kreuzberg. Seither sind die Mieten gerade in diesem angesagten Stadtteil stark gestiegen. Kein Einzelfall: Auch in meinem Bezirk Charlottenburg werden die Mieten für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen zunehmend unbezahlbar. Ein Problem, das auch Friedrichs in ihrem neuen Buch behandelt. „Auf dem Immobilienmarkt zeigt sich der Verteilungskampf zwischen Erben und Nicht-Erben“, ist die Autorin überzeugt. Denn wer heute eine Immobilie kauft, setze dafür in der Regel Geld aus der Familie ein.
Ein Luxusproblem? Im Gegenteil, meint Friedrichs: „Dabei geht es nicht um Sachen, die man haben oder nicht haben kann: Dass manche in den Ski-Urlaub fahren und andere nicht, ist nicht das Problem.“ Nicht egal sei es hingegen, ob jemand mietfrei wohnen kann und der andere eine Miete zahlt, die ihn total einschnürt. Wir sind uns einig, dass es auch einen beträchtlichen Unterschied im Berufsleben macht, ob jemand erbt oder nicht – gerade für jüngere Leute: „Man startet doch ganz anders, wenn man weiß, dass man diese Sicherheit im Hintergrund hat.“
Diese Erfahrung hat Friedrichs im eigenen Umfeld gemacht: Als Freunde, die sich zuvor von Job zu Job hangelten, anfingen, Eigentumswohnungen zu kaufen, war ihre Verwunderung groß: „Ich habe mich gefragt, woher plötzlich das ganze Geld kommt.“ Ihre Freunde zu fragen, traute sie sich aber nicht. „Das Thema ist zu heikel, und vielen auch zu persönlich.“ Also begann Friedrichs zu recherchieren – und machte sich auf die Suche nach Erben, die bereit sind, über ihr Erbe zu sprechen: über das Glück, ein Sicherheitsnetz im Hintergrund zu haben, und über das Unglück, das Geld eigentlich nicht selbst „verdient“ zu haben – ein Makel in einer Gesellschaft, in der Erfolg eigentlich auf persönlicher Leistung beruhen soll.
Mich interessiert, wie Friedrichs Freunde auf das Buch reagiert haben. „Eher verhalten“, berichtet Friedrichs. Auch im Nachhinein sprachen sie über das Thema kaum miteinander. Obwohl so manch einer sich eine Rechtsberatung erhofft hatte, erzählt sie. Schließlich ist Friedrichs mittlerweile fast eine Expertin in Fragen des Erbschaftsrechts. War sie enttäuscht von den Reaktionen? Das nicht, denn privat könne man das Problem ohnehin nicht lösen, ist Friedrichs überzeugt. „Es ist ein strukturelles Problem. Aber viele wollen das einfach nicht sehen.“
Besonders irritiert ist die Autorin über die Reaktion der Elterngeneration. Viele empfänden es als „ungehörig“, über Erbschaften zu sprechen, sagt sie. „Die haben sich über das Buch aufgeregt.“ Denn viele seien der Meinung, dass es ihr gutes Recht sei, ihren Kindern das hart erarbeitete Vermögen zu vermachen – und zwar möglichst ohne Abzüge. „Dabei ist das Erben an sich nicht das Problem“, so Friedrichs. „Die Dimensionen haben aber mittlerweile gewaltige Ausmaße angenommen. Wir können das Thema einfach nicht mehr als Privatangelegenheit betrachten.“ Die Verwerfungen auf dem Immobilienmarkt zeigten dies nur zu gut.
Hinzu kommt, so Friedrichs, dass zumeist jene erben, die ohnehin gut verdienen: „Die, die dank ihres Elternhauses bessere Bildungschancen hatten, eine bessere Ausbildung genießen durften und später höhere Löhne erhalten, bekommen noch einmal diesen Bonus – und haben es in der Summe viel leichter als diejenigen, die nur arbeiten“, moniert Friedrichs. Dies alleine hält sie noch für verkraftbar, aber „dass der Staat durch Steuern auf Einkommen und Konsum bei denen, die nur arbeiten, so viel wegnimmt, ist unerträglich“. Damit bremse er vor allem diejenigen aus, die aus einer schlechteren Ausgangslage versuchen, etwas zu machen. „Dabei sollte doch jeder eine faire Chance haben, sich etwas aufzubauen.“ Und dies sei eben schwierig, wenn am Ende des Monats kaum etwas übrig bleibt. Die Folgen dieser Ungerechtigkeit spüre man bereits: „Frust, Verbitterung und Antriebslosigkeit.“
Die Themen Ungleichheit und Chancengerechtigkeit ziehen sich wie ein roter Faden durch Julia Friedrichs‘ Werk. Seit mehr als zehn Jahren beobachtet sie deren Entwicklung genau – mit bedrückenden Resultaten. Und dennoch: Wenn Friedrichs, sachlich und mit persönlichen Erfahrungen unterfüttert, die Mechanismen der Ungleichheit in unserer Gesellschaft erklärt, ist von Resignation keine Spur.
Ist sie dennoch manchmal frustriert? „Das nicht“, antwortet Friedrichs, aber sie merke auch, dass es ihr zunehmend schwer fällt, mit anzusehen, wie wenig sich an den Aufstiegschancen von Kindern aus ärmeren Verhältnissen verändert hat: „Es schmerzt, Kinder zu beobachten, die clever sind und mit viel Energie ins Leben starten, und dann zu wissen, dass aller Voraussicht nach nichts aus ihnen wird.“
Ihr Urteil: „In Wahrheit ist es uns egal. Sonst würden wir das nicht seit Jahren hinnehmen.“ Dabei sei es gar nicht so schwierig, Ungleichheiten im frühen Kindesalter auszugleichen. „Wir wissen doch, was es braucht: frühkindliche Bildung sowie gute Betreuungs- und Bildungsinstitutionen.“ Wenn die Neugier erst einmal geweckt ist, würden es die meisten Kinder von alleine schaffen. „Stattdessen lassen wir die Kinder erst in den Brunnen fallen und versuchen dann, sie wieder rauszuholen.“
Friedrichs ist der Ansicht, dass es für Menschen elementar ist, das Gefühl zu haben, eine faire Chance im Leben zu haben. „Ein Kerngedanke der sozialdemokratischen Erzählung ist doch, dass sich jeder Mensch aus eigener Kraft etwas aufbauen können muss – und zwar unabhängig von seiner Herkunft.“ Deshalb empört es sie, dass die SPD sich nicht stärker für Chancengerechtigkeit einsetzt: „Wenn man es mit der Sozialdemokratie ernst meint, müsste die wachsende Ungleichheit einen doch wahnsinnig machen!“
Genau deshalb wünscht sie sich eine ehrliche Debatte über das Erben – ohne Tabus. Denn vielen sei gar nicht bewusst, dass ihr Erfolg nicht immer eine Frage der eigenen Leistung ist. „Viele nehmen nicht wahr, dass sie auch einfach Glück hatten: das Glück, im richtigen Elternhaus geboren zu sein oder in wirtschaftlich guten Zeiten ein Vermögen aufbauen zu können.“
Nach dem kurzweiligen Frühstück verabschieden wir uns. Auch in den kommenden Monaten ist Julia Friedrichs mit ihrem Buch unterwegs. Man darf ihr ein aufgeschlossenes Publikum wünschen.