1889 war die Rente progressiver
In einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ haben Sie kürzlich offengelegt, dass Sie eine Rente von knapp 900 Euro im Monat erwarten. Eigentlich müsste ich Ihnen gratulieren: Damit liegen Sie über dem Durchschnitt.
Vorausgesetzt, ich verdiene in den kommenden 15 Jahren so wie heute. Von diesen 900 Euro gehen noch einmal rund 100 Euro für die Kranken- und Pflegeversicherung ab. Es bleiben also rund 800 Euro zum Leben. Dass ich damit über dem Durchschnitt liege, zeigt, wie gering die Rentenerwartungen von Frauen hierzulande sind: Einer Studie der FU Berlin zufolge werden die Frauen meiner Generation, die Babyboomer, eine Rente von durchschnittlich 622 Euro erhalten. In den neuen Bundesländern sind es 800 Euro, weil die Frauen dort häufiger in Vollzeit berufstätig waren.
Wieso wird Ihre Rente so niedrig ausfallen?
Nach dem Abitur habe ich vier Jahre in den Vereinigten Staaten gearbeitet – dafür bekomme ich keine Rentenpunkte. Und auch für mein Studium ergeben sich seit 2009 keine Rentenanwartschaften mehr. Mein erstes Kind habe ich am Ende des Studiums bekommen und bereits nach vier Monaten in die Kita gebracht, um mich auf die Prüfungen vorzubereiten und anschließend gleich arbeiten gehen zu können. Das wollte ich so, auch beim zweiten Kind. So wie viele andere Frauen habe ich aber damals keine gut bezahlte und unbefristete Vollzeitstelle gefunden, die meiner Qualifikation entsprach. Die einzige Stelle, die man mir als junge Mutter anbot, war die einer Sekretärin. Das habe ich genau drei Monate ausgehalten, weil ich Sorge hatte, dort hängen zu bleiben.
Stattdessen haben Sie sich selbstständig gemacht. Würden Sie diesen Schritt heute noch einmal wagen?
Für mich persönlich war es genau die richtige Entscheidung. Aber wenn ich es rententechnisch betrachte, bin ich ein beträchtliches Risiko eingegangen. Vermutlich wäre ich besser gefahren, wäre ich Sekretärin geblieben. Ich habe mich natürlich weiter bemüht, eine Vollzeitstelle zu finden, die meiner Qualifikation entspricht – jedoch ohne Erfolg.
Ihre Geschichte ist kein Einzelfall, aber nur wenige Frauen sprechen so offen wie Sie über dieses Thema. Woran liegt das?
Es ist nach wie vor ein Tabu – besonders unter gut ausgebildeten Frauen. Wer möchte sich schon eingestehen, dass man es trotz der guten Ausbildung und all der Anstrengungen, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, nicht geschafft hat, eine auskömmliche Rente zu erwirtschaften? Wenn der jährliche Rentenbescheid kommt, ist das für viele Frauen ungemein schmerzhaft. Viele schreiben sich das als persönliches Versagen zu, obwohl es vor allem eine Frage des Systems ist.
Würden Sie sagen, dass Ihr Lebenslauf typisch für ihre Generation ist?
Was die Frauen meiner Generation besonders kennzeichnet ist sicherlich, dass wir sehr gut ausgebildet sind. Der Aufstieg durch Bildung war in den siebziger Jahren sozialdemokratisches Programm. Mit diesem Versprechen sind wir ins Berufsleben gestartet, aber die Konkurrenz war groß. In den achtziger Jahren bekam man die Folgen der Wirtschaftskrise zu spüren: die Arbeitslosigkeit stieg, erstmals wurden befristete Stellen erlaubt und die Teilzeitarbeit in den folgenden Jahrzehnten ausgeweitet. Heute sind zwar wesentlich mehr Frauen berufstätig als noch vor dreißig Jahren, sie arbeiten aber viel häufiger in Teilzeit. Die Folge: Viele Frauen werden trotz guter Ausbildung und Berufstätigkeit eine Rente erhalten, von der sie nicht leben können.
Und die Männer?
Die stehen im Durschnitt deutlich besser da, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt. Der Lebenslauf von Männern entspricht häufiger dem Ideal des „deutschen Eckrentners“: Wer bei einem Durchschnittseinkommen von 35.000 Euro brutto jährlich 45 Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt hat und ergo 45 Entgeltpunkte erworben hat, erhält am Ende eine Rente von rund 1.300 Euro im Monat. Die Männer der Babyboomer im Westen kommen sogar auf durchschnittlich 48 Entgeltpunkte, während ihre Altersgenossinnen im Schnitt nur die Hälfte sammeln konnten.
Ein Problem, das Sie benennen, sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Diese haben insgesamt zugenommen – auch unter Männern. Warum sind sie besonders für Frauen ein Problem?
Natürlich handelt es sich um ein allgemeines Problem, aber Frauen sind davon deutlich stärker betroffen: 2013 arbeitete rund jeder Fünfte in einem solchen Beschäftigungsverhältnis, unter den weiblichen Erwerbstätigen war es jede Dritte. Für Frauen ist ein solcher Arbeitsplatz also keine Ausnahme. Der Grund ist, dass man angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit in den neunziger Jahren die Teilzeitarbeit stark gefördert hat – in dem Irrglauben, dies käme den Frauen zugute. Mit dem 2000 eingeführten Teilzeit- und Befristungsgesetz haben etwa Arbeitnehmer in Betrieben mit mehr als 15 Angestellten ein Recht auf Teilzeit. Dabei handelte es sich aber in der Regel nicht um 30-Stunden-Stellen, sondern Mini-Teilzeitstellen, also 20 Stunden oder weniger. Diese Stellen waren zudem schlechter entlohnt als Vollzeitstellen und mit deutlich geringeren Aufstiegschancen verbunden. Und was viele nicht ahnten: Der Weg zurück in eine Vollzeitbeschäftigung ist ungleich schwerer und gesetzlich nicht geregelt. Das gleiche Phänomen haben wir bei den Minijobs. Als die Minijobs im Zuge der Hartz-Reformen ausgeweitet wurden, ging man davon aus, dass die Minijobber langsam, aber sicher in der Hierarchie der Arbeitsverhältnisse aufsteigen würden. Ein Trugschluss: Mittlerweile ist jede fünfte Stelle ein Minijob, und jede vierte wird mit einem Stundenlohn von unter zehn Euro entlohnt. Eine existenzsichernde Rente lässt sich damit nicht erwirtschaften.
Einer Studie des WDR zufolge werden in Zukunft Millionen Menschen eine Rente auf Hartz-4-Niveau erhalten. Experten halten diese Zahlen für überzogen und sprechen von Panikmache.
In der Tat handelt es sich um ein Problem, das heute noch begrenzt ist. Oft wird argumentiert, dass aktuell nur rund drei Prozent der Rentner Grundsicherung im Alter beziehen. Aber diese Zahlen führen in die Irre: Nicht eingerechnet sind jene, die aus gesundheitlichen Gründen vor 65 in Rente gegangen sind, ebenso wenig wie jene, die lieber einen Minijob annehmen, um keine Grundsicherung beantragen zu müssen, obwohl sie einen Anspruch darauf hätten. Zudem gibt es viele Rentner, die zwar eine Rente über dem Grundsicherungsniveau von etwa 780 Euro beziehen, aber trotzdem arm sind, weil sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Wenn wir diese Gruppen berücksichtigen, sind bereits heute rund 15 Prozent von Altersarmut betroffen. Dass von Panikmache keine Rede sein kann, zeigt sich auch daran, dass die Bundesregierung selbst damit rechnet, dass der Anteil der Rentner steigen wird, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Nicht umsonst hat die Bundesregierung die Mittel dafür im Bundeshaushalt kontinuierlich aufgestockt.
Ein zweiter Einwand lautet, dass die meisten Frauen doch Ehemänner haben, die sie mitversorgen.
Leider bestimmt das Leitbild der Versorgerehe immer noch die Rentenpolitik. Der Rentenversicherungsbericht etwa redet die geringen Rentenerwartungen der Frauen mit dem Argument schön, diese würden unter anderem durch Einkommen des Ehepartners ausgeglichen. Welche Einschränkungen dies für die Unabhängigkeit der Frauen bedeutet, interessiert niemanden. Und auch nicht, dass es ein Skandal ist, wenn gut ausgebildete Frauen, die Jahrzehnte gearbeitet, in die Rentenkasse eingezahlt und auch noch Kinder großgezogen haben, im Alter zu Bittstellerinnen gemacht werden.
Dritter Einwand: Aus einem kleinen Einkommen kann man keine große Rente zaubern.
Genau das ist das Dogma, auf dem unser gegenwärtiges System basiert: Rente gibt es im Wesentlichen nur gegen Beiträge.
Ist das ungerecht?
Ja, das ist unsozial und unsolidarisch. Dabei war das nicht immer so: Nach der Gründung der Rentenversicherung 1889 wurde ein Teil der Rente pauschal gezahlt – unabhängig vom Einkommen des Einzelnen. Nur der zweite Teil der Rente orientierte sich an der Höhe der eingezahlten Beiträge. Erst in den fünfziger Jahren hat man das System umgestellt. Heute ist es vollständig einkommensbasiert. In Zeiten von Vollbeschäftigung mag das gut funktionieren, aber die Situation am Arbeitsmarkt hat sich nun einmal verändert – und deshalb ist unser Rentensystem dringend reformbedürftig.
Anderen Ländern geht es ähnlich. Dennoch ist Deutschland Schlusslicht, wenn es um die Rentenhöhe geht. Was machen andere Länder besser?
In einigen europäischen Ländern gibt es eine einkommensunabhängige Grundrente, die in der Regel steuerfinanziert und an den Einwohnerstatus gebunden ist. Diese Leistung gibt es etwa in Großbritannien, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern – und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung wie hierzulande. In den Niederlanden erhalten Alleinstehende zum Beispiel 1.000 Euro monatlich. Paare bekommen 700 Euro pro Person, da die Lebenshaltungskosten zu zweit geringer sind. Hinzu kommt als zweite Säule eine einkommensbasierte Rente und als dritte Säule die betriebliche Altersvorsorge. Letztere ist in Großbritannien verpflichtend. Die Unterschiede zwischen Gut- und Geringverdienern werden in diesem System zum Teil ausgeglichen – und dies kommt besonders den Rentnerinnen zugute.
Das klingt, als wäre ein solches Rentensystem kostspielig.
Nein, im Gegenteil: Die Niederländer etwa geben nur 5,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für das staatliche Rentensystem aus – ungefähr die Hälfte von dem, was wir in Deutschland aufbringen. Es ist also keine Frage des Geldes, sondern eine -Frage der Organisation und Verteilung.
In Österreich liegt das Rentenniveau sogar bei 90 Prozent. Wie schaffen die Österreicher das?
Die Österreicher geben rund 13 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Rente aus, also etwas mehr als wir. Der große Unterschied zu Österreich ist allerdings, dass dort alle einzahlen: Angestellte, Selbständige und Beamte. In Deutschland haben wir dagegen mittlerweile ein Dreiklassensystem der Altersversorgung: An dritter und letzter Stelle kommen diejenigen, die unter den Regeln des aktuellen Rentensystems keine Chance haben, eine auskömmliche Rente zu erwirtschaften. An zweiter Stelle stehen jene, die die Norm des „deutschen Eckrentners“ erfüllen, und an erster Stelle die Beamten.
Inwiefern stellen die Beamtenpensionen ein Problem dar?
Das Problem ist, dass die gesetzliche Rentenversicherung von der Beamtenversorgung komplett abgehängt wurde, wenn man das Rentenniveau betrachtet: Beamte erhalten im Durchschnitt eine Pension von rund 2.300 Euro – also mehr als das Doppelte der durchschnittlichen gesetzlichen Rente. Und für die Beamtenpension gibt es sogar eine Untergrenze: Die Mindestpension beträgt rund 1.400 Euro. Aus meiner Sicht sind diese Unterschiede politisch nicht mehr zu vermitteln.
Deshalb wird bereits diskutiert, das Konzept der Bürgerversicherung auch auf die Rente zu übertragen. Zudem fordert die SPD eine Mindestrente für Arbeitnehmer, die lange in die Rentenkasse eingezahlt haben.
Ja, und das ist gut. Dies könnte Rentenversicherte davon befreien, im Alter zu Bittstellern zu werden. Das Problem ist allerdings, dass die Anforderungen für eine solche Mindestrente voraussichtlich hoch sein werden. Dem Konzept zufolge muss man 40 Jahre berufstätig gewesen sein. Viele Frauen schaffen das nicht.
Andrea Nahles hat zudem eine feste Untergrenze für das Renten-niveau ins Spiel gebracht.
Das Rentenniveau liegt im Moment bei knapp 48 Prozent des Durchschnittseinkommens. 2030 wird es voraussichtlich bei 44 Prozent liegen, danach könnte es noch weiter absinken. Deshalb fordern auch die Gewerkschaften, dass das Rentenniveau auf dem jetzigen Niveau eingefroren werden muss. Davon werden allerdings nur diejenigen profitieren, die schon jetzt eine gute Rente haben, da es schließlich um den prozentualen Anteil geht. Das heißt: Wenn ich eine Rente von 2.000 Euro erwarte, dann bekomme ich bei einem höheren Rentenniveau eine viel kräftigere Rentensteigerung als wenn ich eine kleine Rente beziehe. Und wenn ich auf Grundsicherung angewiesen bin, profitiere ich von einer solchen Erhöhung gar nicht.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Man müsste das Rentenniveau variieren: Wer ein Einkommen unterhalb des Durchschnitts aller Einkommen bezieht, der sollte ein höheres Rentenniveau haben; wer überdurchschnittlich verdient ein niedrigeres. Berechnungen zufolge müssten Geringverdiener hierzulande 79 Prozent ihres letzten Lohns bekommen, um zumindest den EU-Durchschnitt zu erreichen.
Bis Ende November will die Große Koalition ein Gesamtkonzept zur Rente vorlegen. Wie erleben Sie die Debatte im Vorfeld?
Es ist gut, dass Altersarmut mittlerweile als ein Problem anerkannt wird, das sich für die folgenden Rentnergenerationen verschärfen wird – ein Fortschritt gegenüber der letzten Rentendebatte. Allerdings ist mir die jetzige Diskussion zu eng gefasst. An dem Dogma, dass es Rente nur gegen Beiträge gibt, will niemand rütteln. In meinen Augen ist die gesetzliche Rentenversicherung eine zivilisatorische Errungenschaft: Das Risiko, im Alter nicht mehr für sich selbst sorgen zu können, wird nicht dem Einzelnen aufgebürdet. Allerdings muss dieses System dringend der gesellschaftlichen Realität angepasst werden. Ich wünsche mir daher, dass wir ernsthaft über Alternativen diskutieren – und dass sich mehr Frauen zu Wort melden.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
(Kristina Vaillant, Die verratenen Mütter: Wie die Rentenpolitik Frauen in die Armut treibt, München: Droemer Knaur 2016, 160 Seiten, 12,99 Euro)