Ein Abgrund von Gottlosigkeit?
Der frühere katholische Bischof von Berlin und jetzige Kölner Kardinal, Meisner, warnte Anfang der 90er Jahre vor dem Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin. In Bonn seien 80 Prozent der Bevölkerung christlich und 20 Prozent nichtchristlich, in Berlin sei es umgekehrt. Das atheistische Umfeld habe auch Einfluss auf die Politik und damit werde der christliche in Berlin merklich zurückgehen.
Es war anno domini 1998 in Bonn, als sich begab, das die Hälfte der Kabinettsmitglieder, ja der Kanzler selbst, beim Amtseid auf die religiöse Formel "so wahr mir Gott helfe" verzichtete. Nicht nur die "68er" waren in der Regierung, auch der säkulare Normalzustand des vereinigten Deutschland war in der Republik angekommen. In Europa längst Konsens, setzt sich das Verständnis einer pluralistischen Gesellschaft, in der Kirchen und Staat getrennt sind, Religion Privatsache und deren Freiheit im Rahmen der Verfassung zu schützen ist, nun auch bei uns weitgehend durch.
Die Adenauer-Prägung der alten rheinisch-katholischen Republik, die sein Enkel ernsthaft noch ins nächste Jahrhundert retten wollte, der "Kölsche Klüngel" von Klerus und Politik, hat zurecht keine Zukunft mehr. Auch wenn das in der CDU, erst recht in der CSU, aber selbst von manchen Sozialdemokraten noch nicht ganz akzeptiert zu sein scheint.
Grund der säkularen Wende war nicht nur der Staatsatheismus im Osten. Jüngere Leute, die urbaner, mobiler und besser gebildet sind, gehen zunehmend auf Distanz zu Religion und Kirchen. Transzendenz und Lebenssinn suchen sie sich meist selbst. Die alten Milieus lösen sich in einer aufgeklärten, modernen Informationsgesellschaft auf. Hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung bereits Ende der 80er Jahre mit einer Untersuchung über zunehmende Konfessionslosigkeit in Westdeutschland Heiner Geißler veranlasst, laut über die Öffnung der CDU für Nichtchristen nachzudenken, führen andere heute noch die propagandistischen Kreuzzüge für die angeblich einzig akzeptable "christliche Wertegemeinschaft Europa" oder glauben gar, die Mehrheit der Konfessionslosen in Ostdeutschland heim ins christliche Reich missionieren zu können.
Auffällig ist der hohe Anteil christlicher Theologen und Funktionäre in der mitgliederschwachen Ost-SPD. Die Erkenntnis, dass die mangelnde Akzeptanz etwas damit zu tun haben könnte, dass sie kulturell haarscharf neben den Einstellungen einer großen Mehrheit der Bevölkerung liegt, wird vom unverwüstlichen Missionsauftrag offensichtlich verhindert.
Von Marx bis Bruder Johannes - Religion in der Geschichte der SPD
Das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und christlichen Kirchen hat sich historisch von der antiklerikalen Tradition weg, zu einer kritisch-partnerschaftlichen Zusammenarbeit entwickelt. In der Weimarer Republik waren noch zwei Drittel der SPD-Reichstagsabgeordneten konfessionslos. Der Protestant Gustav Heinemann wies laut Johannes Rau stets darauf hin, "dass die deutsche Sozialdemokratie eine Entwicklung aus dem Freigeist sei. Die freigeistige bis freidenkerische Haltung hatte natürlich damit zu tun, dass die Kirchen für die Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert verschlossen waren" (Frankfurter Hefte 12/98). Ich würde bescheiden hinzufügen, das die europäische Aufklärung und die Klassiker der Arbeiterbewegung dabei sicher auch eine gewisse Rolle gespielt haben.
Die Trennung von Staat und Kirche; weltliche, öffentliche Schulen, die dem Einfluss der Kirchen entzogen werden; Religion als Privat- und nicht Parteisache: Das waren von der Gründung bis zum Heidelberger Programm 1925 eindeutige Essentials der SPD.
Das Prager Manifest der Sopade 1934 formuliert: "(...) wir sind die Erben der unvergänglichen Überlieferungen der Renaissance und des Humanismus, der englischen und französischen Revolution." Dass sie damit im konfessionell geprägten Deutschland nicht regierungsfähig war, erkannte unter anderen Erich Ollenhauer, der 1942 im Londoner Exil schrieb: "Die neue Partei (...) kann es nur werden, wenn sie gegenüber weltanschaulichen, religiösen oder anderen philosophischen Motivierungen einer fortschrittlichen sozialen Einstellung des Einzelnen tolerant ist." Mit dem Godesberger Programm wird 1959 beschlossen: "Der demokratische Sozialismus, der in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten Wahrheiten verkünden. (...) Wir sehen in den Kirchen, den religiösen Gemeinschaften und weltanschaulichen Gruppen nicht nur willkommene Partner des staatlichen und sozialen Handelns, sondern wir erhoffen uns aus ihren Reihen Unterstützung im Kampf um eine menschlichere Gesellschaft."
Es sind nun allerdings die anderen "religiösen und weltanschaulichen Gruppen", die um Anerkennung und Gleichbehandlung durch den Staat ringen müssen. Sie werden benachteiligt, weil sie zu wenig zwangsgetaufte und kirchensteuernzahlende Mitglieder, angeblich keine eigenen Riten und Heilslehren haben oder nicht zur christlichen Wertegemeinschaft gehören.
Gerade weil die Kirchen an Bindungskraft verloren haben, andererseits die Anteile etwa der islamischer Bevölkerung, aber auch Konfessionsloser gestiegen sind, müssen die Privilegierung durch die Politik, die Konkordate und der moralische Monopolanspruch der christlichen Kirchen in Frage gestellt werden.
Es wäre gut für die Werteorientierung unserer Gesellschaft, aber auch für die Glaubwürdigkeit der gebeutelten Kirchen selbst, wenn die Einseitigkeit durch ein Bekenntnis zur Vielfalt abgelöst und ein gleichberechtigter Dialog der Kulturen beginnen würde. Die staatliche Praxis in Holland oder Skandinavien ist wesentlich integrativer, weil es konkret mehr ethische Gemeinsamkeiten als Trennendes gibt.
Es wäre auch gut, wenn in allen Bundesländern Schulpolitik dafür sorgte, dass unsere Kinder in diesem Sinne interkulturell und ethisch gebildet werden. Das brandenburgische Fach "Lebenskunde, Ethik und Religion" (LER) könnte ein Modell sein. Wer evangelischen und katholischen Religionsunterricht in den Schulen sichern will, darf zum Beispiel die islamischen und konfessionslosen Kinder nicht diskriminieren.
In Berlin, der, wie Kleriker behaupten, "Hauptstadt des Atheismus", gibt es über 100 verschiedene Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Eine davon ist der Humanistische Verband Deutschlands e.V. (HVD), ein überparteilicher Zusammenschluss der Freidenker und freigeistigen Gruppen, der sich seit 1993 bundesweit organisiert hat. Er ist seit Jahrzehnten Träger des freiwilligen Faches "Lebenskunde" an Berliner Schulen mit über 400 Lehrern und 26.700 Schülern (zum Vergleich: 24.000 Schüler bekommen kath. Religionsunterricht) und Mitglied der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union (IHEU). Er sieht seine weltanschaulichen Wurzeln in der europäischen Aufklärung und vertritt eine weltlich-humanistische Lebenssicht. In NRW, Bayern und Niedersachsen sind seine Landesverbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts den Kirchen zumindest formalrechtlich gleichgestellt. Der HVD bietet, wie die Kirchen, soziale Dienstleistungen in allen Lebenslagen von der Wiege bis zur Bahre an. Seine Aktivitäten erstrecken sich von der Schwangerschaftskonfliktberatung über Patientenverfügungen, Altenhilfe und Notfallberatung bis zur humanistischen Lebensfeierkultur. Mit Jugendfeiern für über 15.000 Jugendliche pro Jahr, vor allem in den neuen Ländern, bietet der HVD eine inhaltlich qualifizierte, weltliche Alternative. Selbstverständlich werden auch Partnerschaftsfeiern für gleichgeschlechtliche Paare angeboten.
Vielleicht gibt es ja demnächst im Andachtsraum des Bundestages auch ein humanistisches Frühstück und vor dem nächsten SPD-Parteitag nicht nur einen ökumenischen Gottesdienst, sondern auch eine "humanistische Anregung". Dann hätte sich wirklich etwas verändert.