Ein "Reset" in der Sicherheitspolitik ist notwendig
Auf den ersten Blick leistet sich die Bundesregierung mit ihrem sicherheitspolitischen Sparmanöver einen „Alleingang“, wie Rudolf Scharping schreibt – aber nur auf den ersten. Bei Lichte besehen befindet sie sich in bester schlechter Gesellschaft. Denn so gut wie alle Staaten des Bündnisses beziehungsweise der EU antworten auf die internationale Finanzkrise mit Kürzungen der Etats, Reduzierung der Truppenstärken, Streckung der Neubeschaffungen. Nur, sie tun das alle auf eigene Rechnung, ohne große Absprachen, und meist mit der einzigen Maxime, die eigenen Kapazitäten strukturell unbeschadet (aber ausgedünnt) über die Runden zu bringen. Dahinter steckt die nagende Angst, Fähigkeitseinbußen könnten die nationale Souveränität schwächen.
Die verbündeten Länder marschieren in eine Sparfalle, deren absehbare Konsequenzen in einem aktuellen Arbeitspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik so beschrieben werden: „Die Staaten unterminieren ihre gemeinsame Sicherheit ausgerechnet mit jenen Maßnahmen, die individuell auf nationaler Ebene eben diese Sicherheit gewährleisten sollen. Gleichzeitig unterlaufen sie die politische Rolle der Organisationen, die die Mitgliedsstaaten eigens für diese Zwecke geschaffen haben. Am Ende einer solchen Kette stünden viele kleine, billigere, aber weniger leistungsfähige Armeen.“ Gespart wird also nicht allein an Potenzial und Material, sondern vor allem – und politisch folgenreicher noch – am multilateralen Instrumentarium, das gleichsam eingemottet wird: Sind Bündnis und Union auf Schönwetter ausgelegt?
Neben diesen nationalstaatlichen Reflexen der Finanzkrise machen sich indes auch sicherheitspolitische Differenzierungen bemerkbar, die auf ihre Art die regressiven Tendenzen noch bestärken. Man kann das neue „Strategische Konzept“ der Nato als Dokument dieses Zwiespalts lesen. Über die Erleichterung hinaus, dass dieses Konzept überhaupt zustande gekommen ist (von der deutschen Stimme hat man während seiner Erarbeitung wenig vernommen), kann nicht übersehen werden, dass es sich um ein Kompromisspapier handelt. Die Nato versucht, zwei polare Wahrnehmungen von Bedrohungslagen unter einen Hut zu bringen. Sie stellt die Beistandspflicht gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrages und damit den Vertragszweck der territorialen Verteidigung wieder ins Zentrum, nicht zuletzt auf osteuropäischen (und norwegischen) Druck hin. Zugleich hat die Skepsis – siehe Afghanistan und Irak – gegenüber langwierigen Out-of-Area-Missionen zugenommen. Bisweilen erscheint es so, dass die neue Nato einerseits auf das Pflichtprogramm der Artikel-5-Aufgaben ausgerichtet wird, während andererseits Kriseninterventionen und Missionen zum State Building den jeweils „willing and potent allies“ anheim gestellt werden. Die Nato wird damit ein Gemischtwarenladen: Grundversorgung und Werkzeugkasten in einem. Zu Recht ist schon von einer „Sowohl-als-auch-Nato“ (Patrick Keller) die Rede. Die peinliche Konsequenz dieser Heterogenität besteht für einen Staat der neu-alten Mitte Europas wie Deutschland darin, sich sicherheitspolitisch auf diese widerstreitenden Erfordernisse und Erwartungen ausrichten zu müssen. Da ist intelligentes Sparen erste Aufgabe!
Dieser Aufgabe lässt sich freilich nicht mit einem Hinweis auf die ungenutzten und entwicklungsfähigen Potenziale der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gerecht werden. Zwei Probleme stehen im Wege: Zum einen gibt es die stillschweigende Tendenz, alles der Nato zu überlassen, also kontinentale sicherheitspolitische Anliegen allein oder in erster Linie dem „europäischen Pfeiler“ des Bündnisses zuzuweisen. Diese Auffassung ignoriert die Tatsache, dass die Nato – siehe Afghanistan, Georgien oder Nahost – selbst an ihre Grenzen stößt. Zum anderen gibt es die blauäugige Gegenforderung, sich allein und ausschließlich auf den Ausbau der EU-Potenziale zu konzentrieren. Übersehen wird dabei, dass sich die Union bei ihren Missionen auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Afghanistan (Polizeiausbildung!) nicht nur mit Ruhm bekleckert hat. Wie bei der Sparpolitik stagniert das europäische Geschäft auch bei der Strategieentwicklung. Unterm Strich sind die sicherheitspolitischen europäischen Kapazitäten von Nato und EU rückläufig – wiederum ein Scheinbeweis für die bequeme Haltung, das Heil in der (vermeintlichen) Absicherung nationaler Souveränitätsattribute zu suchen.
Die größte Schwäche des von Verteidigungsminister zu Guttenberg präsentierten Spar- und Reformpakets für die Streitkräfte besteht darin, diese Probleme überhaupt nicht sichtbar gemacht zu haben. Das ist schon einer besonderen Notierung wert, denn kein Land hält sich so viel auf den zur Staatsräson erhobenen Multilateralismus zugute wie Deutschland. Obendrein lässt sich die Kritik „nach innen“ verlängern. Es ist ein Unding, dass ein Haus, das sich den „Comprehensive Approach“ und das „vernetzte Handeln“ ans Revers geheftet hat, in der Reformpolitik allein ressortpolitisch agiert. Diese Engführung ist jedoch nicht auf die Exekutive beschränkt. Auch auf Parlamentsebene sind widersprüchliche Signale zu vernehmen. Beispielsweise hat der Haushaltsausschuss das Verteidigungsministerium aufgefordert, von einer bilateralen Vereinbarung mit Dänemark zurückzutreten, wenn die deutschen Werften dabei nicht mit Aufträgen bedient würden. Zwischenbilanz: Jedes Ministerium kürzt so ressortborniert vor sich hin, wie die europäischen verbündeten Staaten nationalborniert vor sich hin sparen.
Die Finanzkrise und den Strukturwandel der Streitkräfte als Chance zu nutzen, würde ganz im Sinne Rudolf Scharpings bedeuten, die Kraft für eine strategische Lagebeurteilung zu haben, die die internationalen und multilateralen Handlungs- und Interessenebenen Deutschlands umfassend einbezieht (aber nicht mit Blick auf die Handelswege!). Die drohende Sparfalle ist das Symptom einer politischen Schwäche, die dazu führt, vor allem aus wahl- und innenpolitischer Rücksichtnahme Klartext und Weitblick zu vermeiden. Nicht nur die westlichen Beziehungen zu Russland bedürfen eines „Reset“, auch die westliche und damit die deutsche Sicherheitspolitik sollte sich die Zeit nehmen, die Prämissen ihres Tuns und Lassens zu überdenken. Auf den Prüfstand gehören nicht nur Haushaltszahlen; auch das Souveränitätskonzept, der strategische Handlungsraum, die multilaterale Dimension jeglicher Interessenpolitik sind neu zu erwägen.
Mit dieser Problemdimension sind der Generalinspekteur wie die Weise-Kommission überfordert. Sie übersteigt auch die Kompetenz und Gestaltungsmöglichkeiten eines Verteidigungsministers (welcher Couleur auch immer). Und sie geht – das signalisierte die ergebnisarme Debatte über das Strategische Konzept der Nato im Deutschen Bundestag am 11. November 2010 – offenbar auch über den parlamentarischen Ehrgeiz hinaus, sich in dem politisch wenig attraktiven Thema der Sicherheitspolitik Verdienste zu erwerben. Mit Wehmut denkt man an die Weizsäcker-Kommission der Jahre 1999 und 2000 zurück. Aber war nicht Rudolf Scharping einer der Totengräber dieses Reformimpulses? «