Eine Frage des Vertrauens: Für eine neue Kultur der Offenheit in Deutschland



Deutschland durchlebt schwierige Jahre. Die Arbeitslosigkeit ist seit langer Zeit auf schwindelerregender Höhe, die Wirtschaft wächst kaum, die Sozialsysteme stehen am Rande ihrer Leistungsfähigkeit, in einem Teil unseres Vaterlandes – dem Osten – geht es nur in Trippelschritten voran.

Hinzu kommt: Die vergangenen Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte, sind in ganz Deutschland durch kollektive Verdrängung gekennzeichnet gewesen. Der Reformbedarf wird von vielen klugen Menschen schon lange auf Konferenzen hin und her gebetet. Doch wir Deutschen waren bisher kaum bereit, die nötigen Schritte zu gehen.

Das rächt sich nun. Wir müssen unseren Sozialstaat auf vielen Baustellen gleichzeitig umbauen. Das überfordert viele Menschen. Während es den einen immer noch zu langsam geht, ist auf der anderen Seite vielen vom Tempo schon ganz schwindlig geworden. Unsicherheit ist allerorten zu spüren. Sie äußert sich in Angst vor dem Jobverlust, in hohen Sparquoten und in niedrigen Geburtenraten. In den neuen Ländern brach sich die Unsicherheit im vergangenen „Sommer der Unzufriedenheit“ auf den Straßen Bahn und spiegelt sich in einem enormen Verlust von Vertrauen in die demokratischen Institutionen, die Marktwirtschaft und den Sozialstaat wider.

Doch Unsicherheit und Angst lähmen. Sie lähmen Kreativität, Verantwortungsbewusstsein und Engagement. Deshalb muss in den kommenden Jahren der Berliner Republik Vertrauen in den Mittelpunkt jeder Diskussion gestellt werden. Die Menschen in Deutschland brauchen wieder Vertrauen in ihre Institutionen und in die Zukunft des Landes. Sie wollen Verlässlichkeit, und sie wollen klare Ziele.

Die Aufgeregtheiten des Berliner Politikbetriebes sind da nicht immer nur hilfreich. Das sollte allen Beteiligten – Politikern, Medienleuten und Interessenvertretern aller Art – klar sein. Wir brauchen die Erneuerung Deutschlands, wenn unser Land auch in den kommenden Jahren ein sozialer Staat sein will, der Menschen Chancen bietet und für einen solidarischen Ausgleich zwischen Generationen, zwischen „Unten“ und „Oben“ sowie zwischen benachteiligten und dynamischen Regionen sorgen will und kann.

Am S-Bahn-Ring ist längst nicht Schluss

Gefragt ist eine neue Kultur der Offenheit und des Vertrauens. Wir brauchen eine Kultur der schonungslosen Wahrheit und des beherzten Engagements. Dies gilt nicht nur, aber besonders für die neuen Länder. Es war töricht, „blühende Landschaften“ zu versprechen. Dies musste Enttäuschungen bei den Menschen produzieren, und es ist heute ein wichtiger Grund für den Verlust von Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Elite. Der Osten braucht vertrauensbildende Maßnahmen ebenso nötig wie den Solidarpakt. Verlässlichkeit und Vertrauen sind genauso wichtig wie Sozialtransfers und neue Infrastruktur.

Die in Berlin angekommene Republik muss deshalb in den kommenden Jahren mehr Verständnis für die besonderen Probleme in den neuen Ländern entwickeln. Die Arbeitslosigkeit von teilweise über 30 Prozent, die hohe Abwanderung, die Deindustrialisierung, die geringe Zahl von Kindern haben zu einem Gefühl des „Abgehängtseins“ geführt, das sich nicht verfestigen darf. Wir brauchen wieder Optimismus – nicht nur im Osten, aber vor allem dort. Deshalb lohnt es sich für den Berliner Politikbetrieb, den Blick auch hinter den Berliner S-Bahn-Ring zu werfen. Nach wie vor gilt es, den Osten zu entdecken – und in Handeln und Denken der Berliner Republik zu integrieren. Wenn die Menschen in den neuen Ländern den Eindruck haben, dass ihre Sorgen wirklich ernst genommen werden, werden auch Zuversicht und Vertrauen in eigene Stärken wieder größer werden. Der Aufbau Ost ist heute eben vor allem eine Frage des Vertrauens.

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