Ehrlichkeit und Selbsterkenntnis
Jahrelang schien das gesamtdeutsche Interesse an der Zukunft Ostdeutschlands fast zum Erliegen gekommen. Aus westdeutscher Perspektive galt der Osten bereits als abgeschrieben. Jetzt plötzlich aber kann es gar nicht schnell genug gehen, auf einmal soll gehandelt werden: Der eine Landespolitiker fordert irgendeinen nicht näher beschriebenen "Masterplan", der nächste schlägt eine "Sonderwirtschaftszone" vor. Wieder andere wollen auf der Stelle ein "Niedrigsteuergebiet" ausrufen oder setzen auf die Deregulierung von Baurecht oder Tarifsystemen. "Wir müssen aufpassen, dass aus dem Aufbau Ost kein Abbau West wird", mahnt streng der Ministerpräsident eines sehr kleinen südwestdeutschen Bundeslandes - und zwar ausgerechnet desjenigen Landes, in dem die Erwerbstätigen die niedrigste jährliche Arbeitszeit aller deutschen Länder aufweisen.
Die Schuldigen sitzen im Osten - heißt es
So herrscht ein munteres Durcheinander der widersprüchlichsten und unausgegorensten Vorschläge. Weder über die Ursachen der Misere noch über die geeignete Therapie besteht Einigkeit. Nur eines ist allen hektischen Einlassungen gemeinsam: Die Wurzel der deutschen Missstände wird im Osten verortet. Der Osten, so erklingt der laute Klagechor, dürfe nicht länger verfrühstücken, was der Westen erwirtschafte. Also müsse jetzt ganz dringend durchgegriffen werden. Im Osten, selbstverständlich.
Die gesamte Debatte ist an Scheinheiligkeit und Oberflächlichkeit schwer zu überbieten. Denn natürlich ist keineswegs "der Osten" verantwortlich für den (relativen) Niedergang Gesamtdeutschlands. Und schon gar nicht sind es summarisch "die Ostdeutschen", deren angebliche Neigung, es sich in Transfersystemen bequem zu machen, ihren westdeutschen Landsleuten die wohlverdiente Suppe versalzt.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Der Aufbau Ost bleibt eine schwierige Aufgabe. Er ist nicht so schnell, geradlinig und erfolgreich verlaufen wie anfangs gedacht. Es stimmt ebenfalls, dass in der Vergangenheit nicht immer alle Fördermittel so zielgenau, so verantwortungsvoll und wachstumsstimulierend eingesetzt worden sind, wie es wünschenswert gewesen wäre. Was in Ostdeutschland besser gemacht werden kann, muss unbedingt besser gemacht werden, keine Frage.
"Sonderzone" war der Osten lange genug
Und der Aufbau Ost wird auch weiterhin viel Geld und Energie kosten. Auch das darf keine Frage werden. Die meisten ostdeutschen Unternehmen brauchen mehr Eigenkapital. Dem hiesigen Mittelstand fehlen einfach 40 Jahre Vermögensaufbau. Die ostdeutsche Wissenschafts- und Forschungslandschaft braucht eine Sonderförderung. Nur die Konzentration der Fördermittel auf diese Regionen schafft am Ende das Know-how, das die neuen Länder konkurrenzfähig machen kann. Die ostdeutschen Exportbetriebe brauchen Hilfe bei der Markterschließung. Ohne Überbrückungskredite und Bürgschaften überstehen sie nicht die schwierige Startphase in der Fremde. Was Ostdeutschland dagegen nicht braucht, sind Debatten über eine "Sonderwirtschaftszone Ost" - mit steuerlichen Vergünstigungen, die keiner bezahlen kann und einem deregulierten Arbeitsmarkt, der Deutschland in einen mittel- und einen osteuropäischen Teil spaltet.
Vor diesem Hintergrund ist es höchste Zeit, dass die fehlgeleitete Debatte dieser Wochen vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Die erschreckend einfache, im Westen unserer Republik noch immer gern verdrängte und geleugnete Wahrheit lautet nämlich: Aus dem einstigen ökonomischen und sozialen "Modell Deutschland (West)" ist nach und nach ein Pflegefall geworden, um dessen Zustand sich unsere europäischen Nachbarn mit guten Gründen immer größere Sorgen machen. Im einst stolzen Wirtschaftswunderland hat sich über Jahrzehnte ein Reformbedarf angestaut.
Abschied vom "Modell Deutschland (West)"
Die Bedingungen für Investitionen in Deutschland haben sich im Wettbewerb mit anderen Staaten verschlechtert, gegen die Massenarbeitslosigkeit scheint bei uns - im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern - partout kein Kraut zu wachsen. Fast nirgendwo sonst in Europa ist es so schwierig, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Und um unser überkommenes dreigliedriges Schulsystem und unsere Universitäten bewundert uns weit und breit niemand mehr. Kurz, das in die Jahre gekommene deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell ist in seiner bisherigen Form den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft ganz einfach nicht mehr gewachsen. Es bedarf dringend der umfassenden Erneuerung.
Den überfälligen Kurswechsel hat die rot-grüne Bundesregierung vor einem guten Jahr eingeleitet. Begeisterungsstürme haben ihre Bemühungen, die über viele Jahre aufgestauten strukturellen Defizite unseres Landes endlich zu beheben, seither bekanntlich nicht ausgelöst. Das ist zwar verständlich - wer wäre schon begeistert darüber, sich auf den unbequemen Wandel der Welt immer wieder aufs Neue einstellen zu müssen? Aber etwas mehr Einsicht in die Notwendigkeit der Selbsterneuerung, auch etwas mehr Verständnis für die Bedingungen, unter denen zu Beginn des 21. Jahrhunderts gute Arbeitsplätze entstehen oder verloren gehen - das erscheint keineswegs zu viel verlangt.
Internationale Beobachter aus Wissenschaft und Medien sind sich fast durchweg einig: Die von der Regierung Schröder bislang auf den Weg gebrachten Reformen von Sozialstaat und Arbeitsmarkt weisen in die richtige Richtung, aber sie sind allenfalls der moderate Anfang eines Weges der kontinuierlichen Erneuerung, den unser Land wird gehen müssen, wenn es im internationalen Wettbewerb nicht unter die Räder kommen will. Die Welt steht nicht still, nur damit Deutschland bleiben kann, wie es einmal war. Wer mithalten will, muss sich bewegen.
Heute sind es nicht so sehr die Ostdeutschen, die sich dieser Einsicht verschließen. Sie sind bereits seit anderthalb Jahrzehnten in ständiger Bewegung. Sich auf veränderte Bedingungen einzustellen, immer wieder ganz von vorn anzufangen, flexibel zu sein und Rückschläge wegzustecken - diese Fähigkeiten haben sie seit der friedlichen Revolution von 1989 fast ununterbrochen an den Tag legen müssen.
Nichts blieb in Ostdeutschland, wie es war. Volle 80 Prozent der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern mussten sich mindestens einmal einen neuen Beruf suchen. Ganze Regionen erlebten eine komplette Deindustrialisierung. In den ostdeutschen Bundesländern wird heute länger und für weniger Geld gearbeitet als im Westen. Nirgendwo in Deutschland bringen es Erwerbstätige auf so viele Arbeitsstunden pro Jahr wie in Brandenburg. Im Hinblick auf die modernen "Tugenden" der Flexibilität und Mobilität macht den Menschen in Ostdeutschland tatsächlich niemand etwas vor. Und was Deregulierung bedeutet, muss ihnen sowieso niemand erklären.
Was der Westen vom Osten lernen könnte
Natürlich wäre es ganz unsinnig, auf den summarischen Vorwurf gegen "die Ostdeutschen" mit ebenso globalen Anschuldigen gegen "den Westen" zu reagieren. Darum geht es nicht. Gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen den alten und den neuen Bundesländern helfen nicht weiter angesichts einer Lage, in der Ost und West nur gemeinsam gewinnen können - oder getrennt verlieren werden. Weder die eine noch die andere Seite trägt die alleinige "Schuld" an der Misere, in die das ganze Land geraten ist.
"Aufbau Ost" und "Erneuerung West" hängen unauflöslich zusammen. Das eine kann ohne das andere nicht gelingen: Die neuen Bundesländer werden ihre Misere nur überwinden können, wenn Deutschland insgesamt einen Pfad der nachhaltigen Reformen für mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und mehr Dynamik einschlägt. Das aber verlangt mehr ehrliche Selbsterkenntnis und Veränderungsbereitschaft vor allem im Westen unseres Landes.
Dabei ist klar: Entschiede sich Gesamtdeutschland erst einmal für die längst überfällige Grunderneuerung seiner Prozeduren und Institutionen, dann würde sich bald herausstellen, wie groß der Beitrag ist, den die neuen Länder in diesem Prozess zu leisten im Stande sind. Ostdeutschland und die Ostdeutschen sind weit besser als ihr Ruf. Aber sie können nur so erfolgreich sein, wie es der Westen zulässt.