Eine intelligente Form des Nationalismus
Brendan Simms gibt sich als überzeugter Europäer. In Wahrheit aber vertritt er eine intelligente Form des Nationalismus, indem er den Nationalstaat einfach zur Union umdefiniert. So erscheint der Brexit nicht mehr als Ausdruck von Nationalismus, sondern als Bekenntnis zur britischen Union. Zugleich liefert der Historiker von der Universität Cambridge damit die Rechtfertigung für den Anspruch auf Sonderbehandlung im Sinne einer exception britannique. Das Problem ist nur: Großbritannien ist in dieser Hinsicht in Europa gar nicht einzigartig. Eine ganze Reihe europäischer Nationalstaaten kann von sich mit gutem Recht behaupten, eine Union (im deutschen Sprachraum: ein Bund) zu sein. Nicht selten wurden unterschiedliche Völker (so in Spanien, Belgien und Frankreich) oder zumindest doch grundverschiedene Landesteile und selbständige politische Entitäten zu einem Staat zusammengebunden (man denke nur an Italien, Tschechien oder die Bundesrepublik Deutschland). Und nahezu immer war eine solche Einigung – ganz wie in Großbritannien – das Ergebnis vorangegangener Kriege oder diente zumindest der inneren Befriedung. Deshalb werden Nationalisten immer behaupten, ihr eigener Staat sei schon Union und Vielfalt genug, und dies als Rechtfertigung anführen für eine wie auch immer geartete Ausnahmebehandlung.
Auch wenn Brendan Simms selbst irischer Staatsbürger ist, gibt das Interview einen aufschlussreichen Einblick in das Denken britischer Nationalisten. Es lohnt, sich damit vertraut zu machen, denn es handelt sich um das Grundmuster eines modernen europäischen Nationalismus. Das Schema ist denkbar einfach: Ich selbst bin glühender Europäer und schätze die Vorzüge des grenzenlosen Binnenmarktes sehr. Aber ihr müsst verstehen, dass mein Land ein einzigartiges politisches Gebilde ist, mit dessen Selbstverständnis und Gewicht in der Welt eine Unterwerfung unter externe europäische Regeln nicht vereinbar ist. Andererseits ist mein Land aber wirtschaftlich, kulturell und militärisch zu bedeutsam, um es einfach aus dem europäischen Binnenmarkt herauszunehmen. Deshalb habt ihr Rest-Europäer die heilige Pflicht, uns eine Sonderbehandlung zukommen zu lassen. Und schon ist die Argumentation gestrickt für einen französischen EU-Austritt, wie ihn sich Marine Le Pen auf ihre Fahnen geschrieben hat.
Brendan Simms liefert somit – anders als er selbst wähnt – mitnichten Argumente gegen, sondern für einen tough approach, ein hartes Vorgehen der EU, bei dem Großbritannien die gewünschte Sonderbehandlung beim Austritt konsequent verwehrt wird. Denn was Simms von Großbritannien behauptet, können mit der dem Nationalismus eigenen Selbstüberschätzung alle Nationalisten von ihrem Land behaupten: Unser Land ist besonders und verdient daher eine Sonderbehandlung! Wer eine solche Argumentation durchgehen lässt, lädt zum Nationalismus und Zerfall der EU nachgerade ein. Der drohende Unterton im zweiten Teil des Interviews im Sinne von „Wir werden uns rächen, wenn ihr uns schlecht behandelt!“ ist ebenfalls nicht untypisch für Nationalisten jedweder Provenienz – und gerade deshalb kein Argument, einer solchen Erpressung nachzugeben.
Recht hat Simms hingegen, wenn er von der Sicherheit der Grenzen und der Verteidigung als dem Prüfstein für die Einheit Europas spricht. Mit seinem Vorwurf der kontinentalen, sprich vor allem deutschen Rosinenpickerei in Bezug auf Sicherheit und Verteidigung steht er nicht alleine da. Auch in den Vereinigten Staaten sinkt die Bereitschaft, amerikanische Soldaten für europäische Sicherheitsinteressen in den Kampf zu schicken, wie das Beispiel Syrien zeigt. Und die Aufforderung an Deutschland, sich militärisch mehr zu engagieren, ist keine angelsächsische Spezialität, sondern in Ostmitteleuropa genauso vernehmbar wie bei unserem westlichen Nachbarn Frankreich. Wahrscheinlich stimmt Simms’ Analyse: Die Frage, wie wir die Europäische Union militärisch schützen können, wird uns spätestens dann umtreiben, wenn Großbritannien sich tatsächlich aus der kontinentalen Verteidigung zurückzieht, sollte es die von ihm geforderten Freihandelskonditionen nicht bekommen. Unausweichlich wird diese Debatte, wenn gleichzeitig die neue amerikanische Regierung ihre transatlantischen Bündnisverpflichtungen restriktiver auslegt als bisher oder zumindest substanziellere Eigenleistungen ihrer Bündnispartner einfordert. Dann reden wir nicht mehr über Wunschträume eines sozialen Europas, sondern darüber, wie wir Europa als Raum der Freiheit und Demokratie verteidigen können. Und dann wird vor allem das deutsche Selbstverständnis einer exception allemande massiv infrage gestellt – jene sich aus der traumatischen Erfahrung zweier von Deutschland angezettelten Weltkriege speisende Überzeugung, dass Deutschland als ehemaliger Aggressor das als moralische Verpflichtung getarnte Sonderrecht genieße, die militärische Absicherung der eigenen und der europäischen Grenzen weitgehend delegieren zu können, bevorzugt an die ehemaligen Kriegsgegner des Zweiten Weltkriegs. Ein Teil -dieses deutschen Selbstverständnisses ist es, dass sich moderne demokratische Staaten und staatliche Gebilde nicht über Grenzen, sondern über prinzipielle Offenheit definieren.
Aus dem schlechten Gewissen eines vormaligen Angreifers heraus ist diese Perspektive verständlich und vielleicht sogar ehrenvoll. Wird sie aber mit moralischem Überlegenheitsgestus jenen Staaten abverlangt, deren historisches Bewusstsein durch mannigfache Angriffe auf die eigenen Grenzen – bis hin zur Vernichtung der eigenen Staatlichkeit – geprägt ist, so legt das die Lunte an die Einheit Europas. Genau dies ist in der Flüchtlingskrise geschehen. Was aus deutscher Sicht als Debatte um Humanität und Offenheit liberaler Gesellschaften erscheinen mag, ist aus Sicht vieler anderer europäischer Gesellschaften eine Frage von Sein oder Nicht-sein staatlicher Legitimität. Wenn die Europäische Union Legitimität haben soll, so muss sie die an sie übertragene, ursprünglich nationale Aufgabe des Grenzschutzes ohne Wenn und Aber erfüllen. Kommt eine Mehrheit in der Bevölkerung zu dem Schluss, dies sei nicht der Fall, sind eine Abkehr vom europäischen Gedanken und eine Hinwendung zu rechtspopulistischen und nationalistischen Bewegungen nahezu unvermeidlich.
Aber gehört zum Schutz der EU-Außengrenze auch die Abwehr von Flüchtlingen, die in Europa Schutz suchen? Genau hierum tobt der Streit. Es ist im Kern ein Streit um die Identität der Europäischen Union: Wie viel Offenheit und wie viel Geschlossenheit zeichnet die sich herausbildende Staatlichkeit der EU aus – und wie müssen folglich die Grenzen gesichert werden? Solange die beiden Extrempositionen – die deutsche Haltung und die der Visegrád-Staaten – unversöhnlich gegeneinander stehen, ist die europäische Einheit in höchster Gefahr. Denn – darin ist Brendan Simms Recht zu geben – ohne ein gemeinsames Verständnis des Schutzes der Außengrenzen wird es keine Union geben.
Was dies für die deutsche Sozialdemokratie bedeutet? Sie sollte sich ihrer Verantwortung als europäische Brückenbauerin bewusst werden und den Dialog vor allem mit den ostmittel-europäischen Sozialdemokraten suchen, statt sich in den immer gleichen westeuropäischen Wärmestuben mit ihresgleichen selbst zu bestätigen. Und sie sollte dabei nicht länger der seit der Flüchtlingskrise drängenden Frage aus dem Wege gehen, wie die deutsche Liberalität und das ostmitteleuropäische – und zunehmend auch französische – Schutz- und Abgrenzungsbedürfnis in einer gemeinsamen Union unter einen Hut zu bringen sind. Dies ist die große europäische Frage. Nur wenn sie gelöst ist, wird der Brexit eine Ausnahme bleiben und nicht der Anfang vom Ende der Europäischen Union.