Endlich streiten sie wieder!
Als am 30. Juni 2011 im Bundestag der Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen wurde, war viel vom nationalen Konsens die Rede. Die Euphorie schien verständlich, war es doch gelungen, einen Jahrzehnte dauernden gesellschaftlichen Schwelbrand zu löschen. Ein Jahr nach der Kernschmelze in Fukushima streiten wir wieder über die Energiewende, manche sehen diesen Streit gar als Zeichen ihres bevorstehenden Scheiterns. „Unsinn“, möchte ich rufen, wenn ich so etwas lese. Die Energiewende kann nur gelingen, wenn unsere Gesellschaft sich über diese existenzielle Frage intensiv verständigt.
Die neu erwachte Streitlust liegt daran, dass die Energiewende weit mehr als den Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet. 2010, im letzten „normalen“ Jahr, trug die Nutzung der Kernspaltung nur rund 11 Prozent zur Primärenergieversorgung Deutschlands bei. In Wirklichkeit beruht unser Wohlstand vor allem auf den fossilen Energieträgern Erdgas, Erdöl und Kohle, die 78 Prozent beisteuerten – ein Wert, der im „Wendejahr“ 2011 übrigens konstant geblieben ist. Auf dem Weg zu einer echten Energiewende, die die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern bedeuten würde, sind wir gerade die ersten Schritte gegangen. Der vor uns liegende Weg ist lang und wird zunehmend steiler. Die Kernkraft hat sich als Abkürzung nicht nur disqualifiziert, sie war nie eine: Weltweit wuchs auch vor Fukushima der Energieverbrauch deutlich stärker als die Stromerzeugung aus Atomkraftwerken.
Bevor man sich auf eine sehr lange Wanderung begibt, sollte man einen Plan einstecken oder zumindest das Gelände genau kennen. Genau das ist im Fall der Energiewende aber nicht möglich, denn Deutschland betritt terra incognita. Niemals zuvor hat ein Industrieland beschlossen, nahezu seine komplette Energieversorgungsstruktur zu entsorgen und ganz auf erneuerbare Energie zu setzen. In der Infrastruktur für die Energieerzeugung und -verteilung stecken vermutlich Investitionen in Höhe des Bruttoinlandsprodukts zweier Jahre, so genau weiß das niemand. In jedem Fall geht es um sehr viel Geld. Da wird man doch streiten dürfen.
Zumal es nicht primär um das Anlagevermögen der großen vier Energiekonzerne geht. Dass EON, RWE und Co. am liebsten abgeschriebene Anlagen weiter betreiben, ist völlig klar und liegt im Wesen marktwirtschaftlicher Akteure. Wenn wir diesen Unternehmen richtigerweise vorschreiben, in neue Formen und Strukturen der Energieerzeugung zu investieren, dann werden wir Bürger die neuen Anlagen bezahlen, über den Strompreis oder indirekt über Steuergelder, die für Investitionsanreize bereitgestellt werden.
An der Energieversorgung hängt zudem nicht nur unser Einkommen, sondern auch unsere Vermögensentwicklung. Denn viele der Schlüsselindustrien in Deutschland, allen voran der Automobil- und Maschinenbau, verarbeiten Metalle und Kunststoffe, die im Lande gefertigt werden. In der Chemiebranche machen die Energiekosten 20 Prozent der Gesamtkosten aus, bei der Metallherstellung sind es im Schnitt 30 Prozent. Hinzu kommt, dass die unterbrechungsfreie Stromversorgung für viele Betriebe ein unbedingtes Muss darstellt. Wer dabei nur an die stets bemühte Aluminiumschmelze denkt, springt zu kurz. Reinraumfertigungen, etwa für Solarzellen oder die Batterien von Elektroautos, sind auf kontinuierliche Spannung angewiesen, schon kleine Abweichungen vom Sollwert können zu Millionenschäden führen.
Neben den Verlierern gibt es in der deutschen Industrie Profiteure der Energiewende, und das provoziert Streit in den Hinterzimmern der großen Verbände. Die klassischen Ingenieurfächer Maschinenbau und Elektrotechnik sind die Basis für Windkraftanlagen, Biogas-Anlagen oder Solar-Wechselrichter. Es mag ja sein, dass Solarzellen in China billiger gefertigt werden. Die Maschinen für deren Produktion kommen in jeder zweiten Fabrik aus Deutschland.
Woher kommt das Geld? Wofür wird es ausgegeben?
Es geht also ums Geld, um viel Geld, und das allein rechtfertigt Streit. Zum einen darüber, woher das Geld stammen soll, und zum anderen, wofür man es ausgeben will. Konzentrieren wir uns auf Letzteres: Die Energiewende, daran sei erinnert, ist kein Selbstzweck. Es geht darum, die Folgen des globalen Klimawandels zu minimieren. Von „verhindern“ mag ich nicht mehr sprechen, den Wenigen zum Trotz, die an eine kälter werdende Sonne glauben.
Da wir als einzelne Bürger, aber auch alle staatlichen Institutionen über keine unbeschränkten Ressourcen verfügen, betreiben wir den Klimaschutz umso effektiver, je weniger wir pro eingesparter Tonne Kohlendioxid bezahlen. Um diese sinnvolle Form der Ressourcenallokation in einem komplexen System herbeizuführen, müsste eigentlich nur eines passieren: Kohlendioxid müsste einen Preis bekommen, der genau so hoch ausfällt, dass die Grenzkosten für die letzte Tonne Kohlendioxid, die wir einsparen wollen, gedeckt sind. Genau dieses Modell hat Carl Christian von Weizsäcker in seinem Plädoyer für eine rationale Klimapolitik im Jahr 2009 gefordert.
Um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, wäre Weizsäcker zufolge von jedem Emittenten ein Preis von etwa 45 Euro je Tonne CO2 zu entrichten. Der Haken an diesem an sich einzig sinnvollen Instrument: Seine klimaverändernde Wirkung entfaltet das Kohlendioxid unabhängig von dem Ort, an dem es entsteht. Die gesamte Welt oder zumindest die G8-Staaten und die großen Wachstumsländer Brasilien, China und Indien müssten sich auf einen globalen Emissionshandel einigen. Anschließend sollte ein mit hinreichend Kapital ausgestatteter Fonds den Preis auf einem konstanten Niveau halten.
45 Euro je Tonne Kohlendioxid, das wäre eine Menge, ungefähr das Fünffache der Preise, die derzeit im dysfunktionalen europäischen Handelssystem erzielt werden. Eine solche „Klimatransaktionssteuer“ würde zu einem erheblichen Umsteuern führen, auf der Erzeuger- wie der Verbraucherseite. Allerdings, und deshalb ist das europäische Handelssystem bislang auch nicht erfolgreich, verträgt ein solches auf Gleichgewicht eingestelltes System prinzipiell weder Ausnahmen noch Eingriffe in das Marktgeschehen, beispielsweise durch die Subventionierung erneuerbarer Energien oder fossiler Kraftstoffe. Es verringert den Gestaltungsspielraum der Politik, insbesondere was die Durchsetzbarkeit einzelner Technologien betrifft, und entspricht dem Prinzip „Führen nach Zielen“, das sich in der Wirtschaft heute großflächig durchgesetzt hat.
Subventionen führen hingegen dazu, dass die einzelnen wirtschaftlichen Akteure ihr Kapital in jene Technologien stecken, die besonders hohe Renditen abwerfen. Zuletzt war dies bei der Förderung der Photovoltaik zu beobachten. Ein befreundeter Chefredakteur, nicht unbedingt ein radikaler Verfechter erneuerbarer Energien, ließ sich im vergangenen Jahr eine Solaranlage auf das Dach seines Eigenheims setzen. Sein Kommentar: „Natürlich glaube ich nicht an den Mist, aber acht Prozent garantierte Rendite ohne jedes Risiko. Wo bekomme ich die heute denn sonst?“
Der virtuelle Preis von 45 Euro je Tonne Kohlendioxid kann allerdings auch dann hilfreich sein, wenn das Handelssystem nicht existiert und wir über einzelne Technologien diskutieren. Beispielsweise wird man rasch erkennen, dass die Kosten für die meisten Energieeffizienzmaßnahmen deutlich unter diesem Wert liegen. Energie zu sparen ist also billiger, als saubere Energie zu erzeugen. Für naturwissenschaftlich Gebildete ist das naheliegend, denn keine Form der Energiewandlung arbeitet mit einem Wirkungsgrad von 100 Prozent. Selbst die vielbestaunten modernen Gaskraftwerke bringen es nur unter Idealbedingungen auf 60 Prozent, hinzu kommen Verluste für den Stromtransport und bei der Umwandlung in mechanische Energie oder Licht. Einer Studie des Wuppertal-Instituts aus dem Jahr 2009 zufolge kann der Energieverbrauch in Deutschland bis 2020 jedes Jahr um bis zu 1,5 Prozent sinken, allein durch Maßnahmen, die sich für den Betreiber wirtschaftlich rechnen. Dazu gehören energieeffiziente Hydraulikpumpen in der Industrie genauso wie moderne Kühlgeräte in den Haushalten. Die CO2-Vermeidungskosten sind in solchen Fällen negativ, was äußerst positiv für alle Beteiligten ist. Wozu braucht es da Effizienzrichtlinien? Auch darüber lässt sich streiten.
Diskussionsvermeidung löst keine Probleme
Grundsätzlich gilt das auch für die energetische Sanierung des Gebäudebestandes. Ihr kommt eine besondere Rolle zu, da der durchschnittliche Haushalt in Deutschland 70 Prozent seines Gesamtenergieaufwandes in die Raumheizung steckt. Wir diskutieren bei der Energiewende viel zu intensiv über die Stromrechnung und vernachlässigen die Endenergieform Wärme, die nicht nur die Kohlendioxid-Bilanz, sondern auch den rapiden Anstieg der persönlichen Energiekosten dominiert, übrigens obwohl hier erneuerbare Energien in den meisten Fällen keine Rolle spielen. Da bei Mietwohnungen die Rechnung vom Mieter, die energetische Sanierung aber vom Vermieter bezahlt werden muss, ist die steuerliche Förderung über Sonderabschreibungen ein geeignetes Instrument. Als Bürger wird man den Verdacht nicht los, dass der Streit zwischen verschiedenen politischen Institutionen andauert, weil es hier nicht um die Kosten für den einzelnen, sondern um die Steuereinnahmen des Staates geht.
Es finden sich eine Menge Beispiele, bei denen der Staat Technologien massiv fördert, deren CO2-Vermeidungskosten sehr deutlich über 45 Euro pro Tonne liegen. Meist stehen dahinter starke Interessensgruppen, in Einzelfällen auch mangelndes physikalisches Verständnis.
Beispiel Nummer eins: Auf einem immer größer werdenden Teil der Ackerfläche werden Energiepflanzen angebaut. Mais beispielsweise, der in Biogasanlagen verstromt und in einigen Fällen auch direkt als Methanersatz genutzt wird. Die Flächenwirkungsgrade – die auf einem Hektar Land erzeugte Energiemenge – sind miserabel, weil die natürlichste aller Energieerzeugungsformen, die Photosynthese, nur mit wenigen Prozent Wirkungsgrad arbeitet. Dementsprechend hoch sind die Kohlendioxid-Vermeidungskosten, sie betragen je nach Erzeugungsweg bis zu 400 Euro. Demgegenüber ist die vielgescholtene Photovoltaik ein Sonderangebot. Stellt man eine moderne Solaranlage auf den Acker, statt Mais anzupflanzen, den man anschließend verstromt, dann bekommt man die zehnfache Ernte an Kilowattstunden, die Vermeidungskosten sinken mindestens um die Hälfte.
Beispiel Nummer zwei ist das Elektroauto. Heute gehen die CO2-Vermeidungskosten mathematisch ins Unendliche, da beim derzeitigen deutschen Strom-Mix, der von fossilen Energieträgern dominiert wird, das Elektroauto in etwa für die gleiche Emission sorgt wie ein sehr effizientes Dieselfahrzeug, jedoch trotz eingeschränkter Reichweite zirka 15.000 Euro Mehrkosten verursacht. Nun muss man berechtigterweise unterstellen, dass die Mehrkosten durch intensive Weiterentwicklung bis 2020 um den Faktor drei gesenkt werden können. Im selben Zeitraum soll der Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung von heute 20 auf mindestens 35 Prozent steigen, Verbrennungsmotoren werden allerdings auch noch einmal rund ein Drittel weniger Kraftstoff verbrauchen. Sprich: Auch 2020 sind im günstigsten Fall 200 Euro Vermeidungskosten zu erzielen, allerdings mit einem Hybridfahrzeug, das einen Elektro- und einen Verbrennungsmotor an Bord hat. Reine Elektrofahrzeuge werden noch immer vierstellige Vermeidungskosten aufweisen.
Staatliche Technologieförderung ist also ebenfalls ein guter Anlass für Streit. Es gibt viele weitere Anlässe: Der Ausbau eines europäischen Netzverbundes, unabdingbar für die stärkere Nutzung fluktuierender erneuerbarer Energien, führt zu Widerständen bei Umweltverbänden, die zusätzliche Einfallstore für osteuropäischen Atomstrom fürchten. Oder nehmen wir die sozialen Folgen steigender Energiepreise für das untere Drittel der Einkommenspyramide, über die noch zu wenig diskutiert wird.
Die Geschwindigkeit, die die Regierung beim Atomausstieg und den begleitenden Gesetzen zur Energiewende an den Tag legte, zielte vermutlich darauf, eine umfassende gesellschaftliche Diskussion zu vermeiden. Alle waren sich ja scheinbar einig. Jetzt streiten sie wieder – und das ist gut so.
Johannes Winterhagen führt seine Thesen in seinem gerade veröffentlichten Buch „Abgeschaltet: Was mit der Energiewende auf uns zukommt“ aus. Der Band ist im Hanser Verlag erschienen und kostet 17,90 Euro.