Erneuerung statt Neoliberalismus
Der Wahlausgang in Deutschland hat viele Kommentatoren der europäischen Medien bestürzt. Angela Merkels Unfähigkeit, eine Mehrheit zu erzielen, sei ein böses Omen für die Reformfähigkeit Deutschlands und Europas, meinen sie. Jetzt drohten Unsicherheit und Stillstand. Ich sehe es anders. Sicherlich, eine schwache Koalition, die die Reformpolitik der SPD nicht fortsetzen könnte, wäre von Nachteil für Deutschland und Europa. Und natürlich sind lange Verhandlungen nicht ideal. Dennoch haben die deutschen Sozialdemokraten dafür Dank verdient, dass sie Merkel und die CDU gestoppt haben. Schon am Wahlabend sagte ich zu Journalisten: „Europa bleiben Merkels schlimmste neoliberale Pläne erspart.“
Das ist eine Botschaft, von der viele Kommentatoren nichts hören wollen. Aber gerade in diesem Punkt ist das Ergebnis der Wahl kristallklar. Die Deutschen haben die neoliberalen Lösungen von Union und FDP abgelehnt. Die deutschen Wähler sind vernunftbegabt. Sie haben sich gegen einen Wechsel als Selbstzweck entschieden. Sie haben verstanden, dass die Lösungen der Opposition weit ungenießbarer sind als die zwar umstrittenen, aber nötigen Reformen der SPD. Den deutschen Wählern gebührt Hochachtung dafür, dass sie den gut bezahlten Predigern des kruden Neoliberalismus nicht folgten, die den Menschen weismachen wollen, ihr Lebensstil sei unhaltbar geworden – wo doch in Wirklichkeit die Durchschnittseinkommen seit zehn Jahren nicht mehr steigen. Die Wähler haben auch Dank dafür verdient, dass sie die Idee der Steuersenkungen für Reiche ablehnten – wo doch Schulen und Universitäten unterfinanziert sind. Und die deutschen Wähler taten gut daran, sich zu fragen, wie wohl ein Rückgang der Einkommen dazu beitragen könnte, den Konsum zu fördern – der doch so notwendig ist, um die schwache deutsche Binnennachfrage in Gang zu bringen.
Kurz, die Deutschen haben das konservativ-liberale Reformpaket mit klarer Mehrheit abgelehnt. Obwohl sich Deutschland in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befindet und unter hoher Arbeitslosigkeit leidet, haben sich die Deutschen gegen einen Kurswechsel entschieden. Sie bevorzugen eine Politik, die den Vielen zugute kommt und nicht bloß den Wenigen. Das ist eine deutliche Botschaft nicht nur an die deutschen Parteien, sondern an ganz Europa. Nicolas Sarkozy muss nun hoffen, dass die Franzosen seine neoliberale Politik nicht genauso durchschauen, wie die Deutschen Merkels Neoliberalismus durchschauten. Wer in der EU-Kommission und anderswo auf die Wahl von Angela Merkel zur Kanzlerin gesetzt hatte, um dann weiter nach rechts rücken zu können, ist jetzt enttäuscht. Aber gerade das ist eine gute Nachricht für Europa. Sie macht Hoffnung für die Wahlen in Italien und Frankreich.
Schröder tat, was getan werden musste
Gewundert habe ich mich über die Medien. Ich verstehe einfach nicht, warum so viele Journalisten einer konservativen Regierung erfolgreiche Reformpolitik zutrauten. Frau Merkel war acht Jahre lang ein unauffälliges Mitglied der Regierung Kohl. Merkel gehörte einer Partei an, Guido Westerwelle war Generalsekretär einer anderen Partei – und zusammen bildeten diese beiden Parteien eine Koalition, die dafür berüchtigt war, jedes Reformrisiko weiträumig zu umschiffen.
Es war die Regierung Schröder, die ihre politische Existenz aufs Spiel setzte, um radikale Reformen durchzusetzen. Und die SPD hat nicht nur Reformen vorangetrieben, sie verzeichnet auch bereits Erfolge. Wirtschaftlich ist Deutschland wieder auf gutem Kurs, wie nicht nur die Exportzahlen zeigen. Von außen gesehen ist es imponierend, wie Gerhard Schröder einer Reformpolitik treu blieb, von deren Richtigkeit er überzeugt war. Gegen starken Widerstand aus seiner eigenen Partei und den Gewerkschaften tat Schröder, was getan werden musste.
Wer nach politischer Führung und energischen Reformen verlangt, dem muss man daher sagen: Vergesst Merkel und Westerwelle! Sie haben in der Regierung Kohl bewiesen, wie zahnlos sie sind, wenn es auf mutiges Handeln ankommt. Es war die Regierung Schröder, die begonnen hat, den unflexiblen und überregulierten deutschen Arbeitsmarkt zu reformieren. Unter seiner Regierung wurden die Steuern auf den niedrigsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg gesenkt. Das Rentensystem wurde reformiert, und eine große Gesundheitsreform hat sich als erfolgreich erwiesen. Wer meint, Deutschland brauche mehr Reformen, der sollte eine neue Regierung Schröder fordern.
Seltsame Exkommunisten und Linksradikale
Allerdings gibt es angesichts des deutschen Wahlergebnisses aus Sicht europäischer Sozialdemokraten einigen Anlass zu Besorgnis. Die SPD hat mehr als vier Prozent verloren; eine neue Konkurrenzpartei sitzt im Bundestag. Sie hat die meisten der früheren SPD-Wähler angezogen, die Gerhard Schröders „Agenda 2010“ ablehnen. Jetzt gibt es zwar theoretisch zusammen mit der PDS/Linkspartei eine linke Mehrheit in Deutschland, doch die antireformerische Haltung jener seltsamen Verbindung aus ostdeutschen Exkommunisten und westdeutschen Linksradikalen macht jegliche Koalition in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich.
Für den Mut, ihren Reformkurs einzuschlagen, hat die SPD einen hohen Preis bezahlt. Jetzt stehen die Sozialdemokraten vor der Frage, wie sie die ehemaligen SPD-Anhänger zurückgewinnen können. Das Problem der SPD dürfte jedoch gering sein im Vergleich zu dem der CDU. Einstweilen hat sich die Partei hinter Angela Merkel versammelt, um Koalitionsverhandlungen nicht zu gefährden. Damit ist die Debatte der Gründe für die Wahlschlappe der Union erst einmal aufgeschoben. Doch sie wird kommen. Denn dies war der dritte fehlgeschlagene Versuch der CDU/CSU in Folge, eine Mehrheit zu erzielen. Was für ein Debakel!
Wirklichkeit und sozialer Schutz
Welche Lehren können Sozialdemokraten aus dieser Niederlage des Neoliberalismus in Deutschland ziehen? Dieselben wie aus den Nein-Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Globalisierung heißt, dass sich die europäischen Ökonomien entwickeln müssen; und dass die europäischen Regierungen Reformpolitik betreiben müssen. Dabei geht es gerade nicht darum, mit China oder Indien um die niedrigsten Sozial- oder Umweltstandards zu konkurrieren. Vielmehr kommt es darauf an, dass wir unser soziales und ökonomisches Modell an die Wirklichkeit unserer Zeit anpassen müssen.
Aber solche Reformen müssen verbunden sein mit Sicherheit über zukünftigen sozialen Schutz. Es ist ein Fehler der Konservativen, unablässig über die Notwendigkeit sozialer und wirtschaftlicher Reformen zu reden, ohne irgendetwas anzubieten, was alte Rechte und Garantien ersetzen könnte. Also erzwingt zwar die Globalisierung Reformen, doch diese müssen begleitet sein durch die Modernisierung des sozialen Schutzes – und Modernisierung muss mehr sein als ein anderes Wort für Kürzung. Genau dies haben die Deutschen Angela Merkel nicht zugetraut. Zu Recht wird den Konservativen vorgeworfen, sie wollten den Sozialstaat einschränken, ohne ihn zu modernisieren.
Dass Reformen mit handfesten Zusicherungen sozialen Schutzes verbunden sein müssen, ist jedoch nur die erste Lektion. Die zweite lautet: Sozialdemokraten müssen eine Vision des neuen sozialen Europa anbieten können. Die Menschen wissen längst, dass das lebenslange Arbeitsverhältnis Geschichte ist. Die Menschen wissen längst, dass Globalisierung verstärkten Wettbewerb bedeutet. Was den Menschen fehlt, ist eine klare Vorstellung von den Formen und Verfahren des sozialen Schutzes, die in Gesellschaften angeboten werden können, deren alte Sicherheiten zerbröseln. Sozialdemokraten haben eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Sozialstaaten gespielt. Heute müssen sie eine erneuerte Vision für ein Soziales Europa in der globalisierten Wirtschaft erschaffen.
Was zu der Verunsicherung führt, die viele Europäer heute verspüren, ist die Abwesenheit einer solchen Vision. Natürlich werden nicht alle Staaten der EU dieselben Sozialsysteme betreiben – jeder wird seine eigene Art und Weise haben, Gesundheit, Bildung oder Schutz im Fall von Arbeitslosigkeit zu organisieren und zu finanzieren. Aber die Unterschiede zwischen dem so genannten angelsächsischen und dem kontinentalen Modell, zwischen dem nordischen und dem rheinischen Modell sind nicht so groß, dass sich Sozialdemokraten in Europa nicht auf eine gemeinsame Vision, einen Grundbestand gemeinsamer Prinzipien einigen könnten.
Die Zukunft verlangt nach „Flexicurity“
Dabei müssen die Politiken, die sozialdemokratische Regierungen in Deutschland, Großbritannien, Schweden und Dänemark entwickelt haben, ernsthaft geprüft werden. Auch „Flexicurity“, ein Konzept, das entwickelt wurde, als ich Premierminister Dänemarks war, kann sicherlich einen Beitrag leisten. Was Flexicurity bietet, ist die Verbindung von Flexibilität und Sicherheit. Steigende Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt wird begleitet von Einkommensgarantien für Perioden der Erwerbslosigkeit; dies wiederum wird verbunden mit Aus- und Fortbildung sowie aktiver Unterstützung der Rückkehr in die Beschäftigung. Ein ähnlicher Ansatz wird mit Erfolg in Großbritannien verfolgt.
Selbst dabei unterscheiden sich Sozialdemokraten und Konservative in ihrem Vorgehen. Sozialdemokraten haben eine positive Vision von Arbeitsmarktreform. Für Konservative bedeutet Arbeitsmarktreform, dass Einstellungen erleichtert und Arbeitnehmerrechte abgebaut werden. Für Sozialdemokraten heißt Arbeitsmarktreform auch, einzelnen Menschen zu helfen, damit sie die Hürden überwinden können, die zwischen ihnen und dem Arbeitsmarkt stehen. Dazu gehören Training und Fortbildung, dazu gehören Einrichtungen zur Kinderbetreuung, und dazu gehören Antidiskriminierungsgesetze.
Strukturreformen für mehr Lebensqualität
Die Vision, ein Soziales Europa für das 21. Jahrhundert zu erschaffen, ist das Ziel der Partei Europäischer Sozialisten. In diesem Jahr erhielt die PES die Unterstützung der Parteivorsitzenden, einen Dialog zwischen den Parteien zu beginnen, um herauszufinden, wie viel Fortschritt möglich ist. Diesen Dialog haben wir mit einer Konferenz in Brüssel im Oktober 2005 begonnen.
Deutschland und das übrige Europa stehen vor einem zusätzlichen Problem: Arbeitslosigkeit. Auch hier müssen Sozialdemokraten einen neuen Weg nach vorne finden. Die von Neoliberalen vorgeschlagenen Arbeitsmarkt- und Steuerreformen schaffen für sich genommen keinen einzigen neuen Job. Die europäischen Staaten müssen in Wachstum investieren. Eindrucksvolle Investitionen sind bereits in Spanien und Portugal angekündigt. Aber sie sind auch in anderen Ländern nötig, dazu die bessere europäische Koordinierung von Investitions-, Wirtschafts- und Technologiepolitik, die ganz Europa zugute kommt.
Deutschland ist in dieser Hinsicht in einer besonderen Lage. Kein Zweifel, angesichts der enormen Bürde der Wiedervereinigung ist es nicht einfach, Geld für Wachstumsinitiativen aufzubringen. Jedoch wartet das Land jetzt auf ein Zeichen der Hoffnung. Die Bürger müssen von seinen ökonomischen Erfolgschancen überzeugt sein. Deutschland muss die Schwäche seiner Binnennachfrage überwinden. Die PES hat hierzu von ihren Mitgliedsparteien das Mandat erhalten, eine Wachstums- und Investitionsstrategie für Europa zu entwickeln. Bei den Diskussionen hat Hans Eichel die Führung übernommen, und noch im Oktober wird den Parteivorsitzenden ein Ergebnis vorliegen.
Nicht nur die Wahl in Deutschland spricht dafür, dass die lange Dominanz liberaler Wirtschaftslehren nun zu Ende geht. Europäische Sozialdemokraten haben in Spanien, Portugal, Großbritannien, Bulgarien und Norwegen Siege gefeiert. Weitere Erfolge in Italien und Österreich sind möglich. Es genügt nicht mehr, einfach nach Steuersenkungen und dem Abbau öffentlicher Dienstleistungen zu rufen, um jung und frisch zu wirken. Stattdessen wachsen in immer mehr europäischen Ländern Mehrheiten für die Ideen einer modernen sozialen Demokratie heran. Das gibt mir die Hoffnung, dass Europa endlich Strukturreformen akzeptieren wird, die das Selbstbewusstsein und die Lebensqualität unserer Gesellschaften erneuern und verbessern, statt ihren sozialen Zusammenhalt zu schwächen.
Das Land wartet auf fortschrittliches Denken
Die Deutschen sollten nicht auf jene hören, die die Niederlage der konservativ-liberalen Reformideen am Verhandlungstisch in einen Sieg verwandeln wollen. Einer Regierung aus CDU/CSU und FDP fehlt es an Legitimität, ganz gleich, was die Medien und so genannte Experten sagen. Welche Regierung auch immer gebildet wird – sie muss auf die Menschen hören. Diese haben den Neoliberalismus zum dritten Mal in Folge seit 1998 abgelehnt, obgleich ihnen eine Armada von Journalisten, Ökonomen und Elder Statesmen Tag für Tag erklärt, sie seien zu reich und zu faul. Das Land wartet auf fortschrittliches ökonomisches Denken. Die SPD sollte nicht zögern, es den Menschen anzubieten. Europas Sozialdemokraten stehen hinter ihnen. Was immer in Deutschland passiert: Sozialdemokraten in Europa sollten mit großem Selbstbewusstsein echte Alternativen zum Neoliberalismus entwickeln. Die Absage der deutschen Wähler an die Unionsparteien war ein Schub nach vorn für das Soziale Europa.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr