Wir werden noch härter arbeiten müssen - überall in Europa
Die Konsequenzen sind massiv. In Europa sind mehr als 10 Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen, und es kann sein, dass die Zahl der Arbeitslosen bis Ende 2010 auf 30 Millionen steigt. Zwischen 73 und 103 Millionen Menschen werden weltweit zusätzlich in Armut gestürzt. Damit wird es immer schwieriger, die Millennium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen in den ärmsten Staaten zu erreichen. Das Modell einer von Industrie und Verbrauchern vorangetriebenen Entwicklung hat die Umwelt unseres Planeten zerrüttet. Auch hier bei uns in Europa ist das Klima möglicherweise bereits irreparabel geschädigt. Trotzdem haben wir noch immer kein klar definiertes ökonomisches Paradigma, um weltweit eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.
Früher waren die Bürger der Ansicht, die Parlamente ihrer Nationalstaaten besäßen genug Macht, um die Probleme des jeweiligen Landes zu lösen. In der globalisierten Welt der Gegenwart wissen die Menschen, dass die Probleme nicht auf nationaler Ebene bewältigt werden können. Apathie hat um sich gegriffen, weil die Leute nicht mehr daran glauben, irgendeinen Einfluss auf ihre eigene Zukunft nehmen zu können. Mit einer Politik des routinierten Weiter-so werden wir die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft nicht bewältigen können. Deshalb muss sich die Sozialdemokratie für das 21. Jahrhundert erneuern. Ich glaube, dass die Werte der sozialdemokratischen Parteien – Demokratie, Freiheit, Solidarität, Menschenwürde, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit – heute so wichtig sind wie eh und je, wenn es darum geht, fortschrittliche Gesellschaften zu schaffen.
Viele Menschen waren nicht überzeugt von unserer Alternative
Ich kann mit Stolz berichten, dass unsere politische Familie im Dezember 2009, auf dem 8. Kongress der Sozialdemokratischen Partei Europas in Prag, einen bemerkenswerten Schritt in Richtung einer fortschrittlichen Zukunft für Europa vorangekommen ist. Unsere Vision für ein Neues Soziales Europa hat Einfluss ausgeübt auf die Entwicklung eines eigenständigen politischen Ansatzes zur Bewältigung der größten Herausforderungen, vor denen Europa steht. Dies gilt zuallererst im Hinblick auf die gegenwärtige Wirtschaftskrise. Ein alternatives Konjunkturprogramm, der Entwurf eines Paktes für Beschäftigung und sozialen Fortschritt, Finanzmarktregulierung sowie ein globaler New Deal – mit allen diesen Initiativen trat unsere politische Familie hervor, um die Krise in den Griff zu bekommen und radikale Reformen durchzusetzen.
Nicht erfolgreich waren wir hingegen darin, die Tatsache zu verdeutlichen, dass in der Finanz- und Wirtschaftskrise im Kern das weltweite Scheitern der konservativen Ideologie zum Ausdruck kommt. Viele Menschen waren nicht davon überzeugt, dass unsere Parteien eine wirkliche Alternative zu bieten hatten. Wir müssen also die Sozialdemokratie von Kopf bis Fuß erneuern, um die Herausforderungen der Gegenwart annehmen zu können und den Erwartungen aller Bürger zu entsprechen. Die globalisierte Welt bedeutet, dass wir diese Debatte nicht isoliert voneinander führen können. Miteinander im Konflikt liegende nationale Lösungen sind zum Scheitern verurteilt.
Unsere Vision für fortschrittliche Gesellschaften muss das Ziel enthalten, dass jeder Mensch die Ressourcen und Fähigkeiten besitzt, seine Talente vollständig zu entfalten – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Ethnie oder Geburtsort. Und es muss uns ebenfalls darum gehen, unseren Planeten, seine Reichhaltigkeit und Vielfalt zu erhalten. Um erfolgreich sein zu können, muss eine Vision der sozialen Demokratie und der progressiven Gesellschaft kohärent sein: über alle lokalen, regionalen, nationalen, europäischen und globalen Ebenen hinweg. Wir müssen Menschen einbeziehen, die bislang in der politischen Debatte unterrepräsentiert gewesen sind, also Frauen, junge Leute und Minderheiten.
Die meisten Menschen sind von der Politik desillusioniert und gehen lieber nicht mehr wählen. Die modernen Gesellschaften üben auf den Einzelnen enormen Druck aus: Druck am Arbeitsplatz aufgrund des Strebens nach höherer Produktivität; wirtschaftlichen Druck aufgrund sinkender Löhne bei gleichzeitig steigenden Mieten und Lebenshaltungskosten; sozialen Druck aufgrund des Aufstiegs der Konsumkultur; schließlich den Druck, Arbeit und Familienleben miteinander vereinbaren zu müssen, besonders im Fall alleinerziehender Eltern, die häufig noch nicht einmal auf unterstützende Strukturen wie Kindertagesbetreuung zurückgreifen können. Es ist nicht verwunderlich, dass manche Bürger das Vertrauen in die Fähigkeit der Politik, ihr Leben zu verbessern, bereits verloren haben.
In die Wirtschaftskrise haben die Regierungen zwar eingegriffen, aber was die Menschen vor allem wahrnehmen, sind steigende Zahlen von Entlassungen, deprimierende ökonomische Perspektiven und die Rückkehr der Bonuszahlungen für Bankmanager. Dies alles scheint zu belegen, dass die Politik nicht imstande ist, die Verhältnisse auf grundlegende Weise zu verändern.
Europa ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung
Euroskeptische und nationalistische Parteien verweisen auf Europa als Sündenbock. Die schlimmen Konsequenzen, die entstehen können, wenn sich die Bürger von Europa und der Welt abwenden, sind ihnen völlig gleichgültig. Obendrein stellen pro-europäische Politiker der Rechten häufig die unzutreffende Behauptung auf, im Hinblick auf Europa gebe es einen Konsens zwischen Rechten und Linken. Die Europawahlen des vergangenen Jahres brachten auch mehr Rechtsaußenparteien zutage, die sich populistischer Rhetorik bedienten, um Ängste und soziale Missstände für ihre Zwecke auszuschlachten. Unsere Aufgabe muss es sein, der vergifteten und rassistischen Rhetorik dieser Parteien mit Widerstand und Aufklärung zu begegnen.
Wir müssen härter arbeiten, um die fundamentalen Probleme der Menschen anzusprechen und zu vermitteln, dass Europa – ausgestattet mit einer ehrgeizigen neuen Vision sozialer Demokratie – das Mittel ist, mit dem wir unsere fortschrittlichen Ziele in der globalisierten Welt erreichen können. Sozialdemokratische Parteien werden ihre politischen Ziele sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit in der globalisierten Welt nur dann erreichen, wenn sie die europäische Debatte in die nationale Politik hineintragen. Aus meiner Sicht müssen wir in den kommenden fünf Jahren gemeinsam die folgenden sozialdemokratischen Anliegen verfolgen: Wir müssen erstens eine kräftige wirtschaftliche Erholung sicherstellen und zu diesem Zweck ein neues nachhaltiges und sozial gerechtes Wachstumsmodell durchsetzen. Wir müssen zweitens eine fundamentale Reform der Finanzmärkte erreichen, um uns vor künftigen Krisen zu schützen und die Realwirtschaft zu unterstützen. Wir müssen drittens den Klimawandel bekämpfen und auf dem Weg für eine Zukunft mit sauberen Energieträgern vorankommen. Und viertens schließlich müssen wir für starke, faire und effektive Sozialsysteme eintreten, die zur globalisierten Welt passen: ein Neues Soziales Europa.
Die gegenwärtigen Krisen zwingen dazu, unsere Ökonomien und Gesellschaften grundlegend zu reformieren. Kluges grünes Wachstum kann unsere Gesellschaften in Zukunft erfolgreich voranbringen und gleichzeitig unseren Planeten schützen. Das Finanzsystem muss zum Diener der Realwirtschaft und der gemeinsamen Interessen der Gesellschaft werden. Die Europäische Union trägt die grundlegende Verantwortung dafür, dass es zu griffiger Regulierung und Supervision der Finanzmärkte kommt. Ebenfalls besitzt sie die Fähigkeit, das neue Modell nachhaltigen Wachstums voranzutreiben.
Es ist meine tiefe Überzeugung: Wir müssen die europäische Sozialdemokratie stärken, um einen globalen New Deal zu ermöglichen, der soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, nachhaltige Entwicklung und Demokratie ins Zentrum stellt. Solange Europas Bürger vor kolossalen Herausforderungen stehen, solange ihre Arbeitsplätze und ihre Lebensweise bedroht sind, solange unser Planet in Gefahr ist – solange werden wir an der Seite der Menschen stehen und für sie kämpfen. «
Aus dem Englischen von Tobias Dürr