Es geht um Politik, nicht nur ums Geschlecht!
(Weitere Mitautorin: Liv Assmann)
Das Ergebnis der Bundestagswahl war für die SPD enttäuschend. Auch wenn wir uns gegenüber 2009 leicht verbessern konnten, wurde das Ziel eines rot-grünen Politikwechsels klar verfehlt. Ein Blick in die Wahlanalysen zeigt, dass die SPD insbesondere bei den Jüngeren und den Frauen verloren hat. Zwar haben wir bei der jüngsten Wählergruppe im Vergleich zu 2005 leicht hinzugewonnen, in der Gruppe der 25- bis 44-Jährigen jedoch nur 22 Prozent der Stimmen erhalten. Besonders groß ist der Abstand zur Union bei den Frauen: 44 Prozent von ihnen stimmten für die CDU/CSU, für die SPD hingegen nur 25 Prozent. Im Jahr 2005 hatten noch 36 Prozent der weiblichen Wähler für die SPD votiert, 2002 waren es sogar 40 Prozent gewesen. Überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte die SPD hingegen unter den Älteren, insbesondere unter älteren Männern in Westdeutschland.
Für jüngere Leute und gerade für die Frauen, die bislang klassisch Rot-Grün gewählt haben, war es offenbar kein Problem mehr, nun bei der Union das Kreuz zu machen. Parteichefin Angela Merkel hat dafür gesorgt, dass die Union beliebig und inhaltlich unscharf geworden ist und keine Gefahr mehr darstellt für die Verwirklichung eigener Lebensentwürfe. Auf diese Weise wurde die CDU wählbar – und nicht etwa deshalb, weil die CDU ein gutes Politikangebot unterbreitete. Vielmehr hat die Union glaubwürdig vermittelt, dass sie keinen Zwang mehr in Richtung Heim und Herd ausübt, auch wenn die reale Politik dem wahrlich nicht entspricht.
Das Programm war gut, die Partei noch nicht reif
Die SPD hingegen hat es nicht vermocht, ihre Botschaften so zu transportieren, dass sie Frauen und Jüngere ansprechen. Ihr ist es nicht gelungen, Mehrheiten in der Mitte der Gesellschaft zu finden – und bei denjenigen, die unsere Gesellschaft in Zukunft gestalten werden.
Die Ernüchterung ist auch deshalb besonders groß, weil das Wahlprogramm gerade für Frauen und jüngere Menschen viel anzubieten hatte. Dazu zählen etwa die Entgeltgleichheit oder die Vorschläge zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und zur Verbesserung der Bildungschancen. All diese politischen Ansätze können helfen, die Lebenswirklichkeit der Menschen konkret zu verbessern. Somit hatte die SPD weniger ein Problem mit dem Programm als mit der Außendarstellung. Gute Initiativen wie etwa der frauenpolitische Fünf-Punkte-Plan haben wir nicht zielgerichtet vermittelt. Hinzu kommt, dass das Programm und die handelnden Personen offensichtlich nicht übereinstimmten.
Die Themen der arbeitenden Mitte neu entdecken
In einigen Punkten sind wir aber auch an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Deutschland vorbeigerannt. Beispiel Arbeitspolitik: Zu Recht hat sich die SPD mit den negativen Folgen der zurückliegenden Regierungsjahre auseinandergesetzt und Lösungen vorgeschlagen, die atypische und prekäre Arbeit zurückdrängen sollen. Es ist richtig und gerecht, dass Menschen in Deutschland von ihrer Arbeit auch leben können müssen. Wir haben uns jedoch zu wenig mit den Themen der arbeitenden Mitte in Deutschland beschäftigt, beispielsweise mit der Belastung durch zunehmende Arbeitsverdichtung, mit unzureichenden Weiterbildungsmöglichkeiten oder anderen Facetten einer inhumanen Arbeitswelt. Für die deutlich größere Zielgruppe derjenigen, die nicht im Niedriglohnbereich arbeiten oder in prekären Beschäftigungssituationen sind, hatten wir kein attraktives Angebot. Im Kernpolitikfeld der Sozialdemokratie müssen wir uns in Zukunft breiter aufstellen.
Bei der Frage, wie wir Chancengerechtigkeit für Frauen und Männer im Berufsleben fördern, haben wir uns zu sehr auf die Forderung einer Quote in der Wirtschaft versteift. Die Quote in Vorständen und Aufsichtsräten ist angesichts der Entwicklung der letzten Jahre richtig, aber die Mehrheit der Frauen ist nicht davon betroffen. Wir haben nicht genügend und nicht prominent genug erklärt, wie die berufliche Gleichstellung beim Ein- und Aufstieg im Erwerbsleben, beim Lohn und bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie verwirklicht werden soll.
Zweifellos sind beide politischen Ziele richtig, ein gesetzlicher Mindestlohn und die Quote in der Wirtschaft. Doch dürfen die Anliegen derjenigen nicht ins Hintertreffen geraten, die über durchschnittliche Einkommen verfügen, die Familien haben oder gründen wollen, für die qualitativ hochwertige Bildungsangebote zentral sind, die sich neben Job und Familie ehrenamtlich engagieren wollen, die durch Steuern und Abgaben relativ stark belastet sind und die sich eine Politik mit Blick auf Generationengerechtigkeit und den Vorsorgegedanken des Sozialstaates wünschen. Die SPD hat für all diese Bedürfnisse gute Ansätze, denen aber bisher zu wenig Leben eingehaucht wurde. Beispielsweise wollen wir die Arbeitslosen- zu einer Arbeitsversicherung umbauen und die Familienarbeitszeit einführen. Beide Modelle zielen darauf ab, dass der „klassische“ Lebenslauf von Schule, Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Auszeit für Familie immer seltener wird und individuelle Lebensverläufe zunehmen, für die wir im Steuerrecht, im Bildungssystem sowie bei den familienpolitischen und sozialen Leistungen flexiblere Angebote schaffen müssen. Die Arbeitsversicherung und die Familienarbeitszeit verbinden arbeits-, bildungs-, familien- und gleichstellungspolitische Ziele in sinnvoller Weise miteinander und ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben.
Das Wahlergebnis bietet keinen Interpretationsspielraum und muss Konsequenzen haben. Dies gilt sowohl für die inhaltlich-programmatische Ausrichtung als auch für die personelle Aufstellung der Partei, außerdem für das mögliche Regierungshandeln der SPD. Ziel ist es, dass uns 2017 eine Mehrheit wieder als wählbare Alternative zur Merkel-Partei wahrnimmt, um sozialdemokratische Politik verwirklichen zu können.
Dabei kann die SPD daran anknüpfen, was sie bereits erreicht hat. Die interne Zerreißprobe nach der Agenda 2010 ist überstanden. Das Verhältnis zu den Gewerkschaften wurde verbessert. Wir haben inhaltlich und programmatisch eine gute Basis zur Weiterentwicklung geschaffen. Wir regieren in 13 von 16 Ländern und stellen in 9 Ländern die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten. In vielen Städten und Gemeinden sind sozialdemokratische Politikerinnen und Politiker in kommunaler Verantwortung. Auch hier liegen unsere politischen und personellen Ressourcen.
Mehr Frauen, mehr Junge, mehr Einwanderer
Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir von außen stellenweise anders wahrgenommen werden. So war es offensichtlich, dass die Machtbalance der „Troika“ mit ihren jeweiligen Truppen im Hintergrund nur unter großer Anstrengung auszutarieren war. In internen Machtkämpfen wurden Kräfte verschlissen, die anderswo sinnvoller hätten eingesetzt werden können. Während des Wahlkampfs verursachten unklare Zuständigkeiten zu viele handwerkliche Fehler. Dass der Kandidat mit der Kampagne nur wenig zu tun hatte, war ebenso kontraproduktiv wie die Kampagne inhaltlich und technisch selbst. Nein, professionell geführt war dieser Wahlkampf nicht. Von den Ungeschicktheiten des Kandidaten waren nicht diejenigen bedeutend, die zur klaren Kante gezählt werden können, sondern diejenigen, die den Abstand zu unseren eigenen Leuten zeigten. Was fehlte, waren Reflexion und Korrektive. Diese Art der Wahlkampfführung vermittelte keine Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit, sondern schreckte die Wählerinnen und Wähler ab.
Entscheidend ist, dass Programm und Personal gut aufeinander abgestimmt sind. Ganz im Sinne der Diversity-Diskussion muss auch die Führung der SPD breiter aufgestellt sein. Dazu gehören mehr Frauen in Spitzenpositionen, mehr Jüngere, mehr Parteimitglieder mit Einwanderungsbiografie und mehr Führungspersönlichkeiten mit unterschiedlichen Lebenshintergründen und Sozialisationen. Wollen wir eine Volkspartei sein, dann müssen wir das Volk auch abbilden. Man fragt sich, wo eigentlich die Migrationsquote geblieben ist. Alibihandlungen sind leicht durchschaubar.
Wo in Zukunft die Musik spielen wird
Um in der Zukunft erfolgreich zu sein, sollte die SPD heute diejenigen politischen Themenfelder für sich beanspruchen, in denen die gesellschaftlichen Debatten geführt werden. Dazu gehören die Bereiche Bildung, Familie, Gesundheit und eine humane Arbeitswelt. Dazu gehören der demografische Wandel, Integration, die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft und die Bürgerrechte. Dazu gehört der Blick auf die junge Generation in Europa, auf ihre Ängste und Hoffnungen und nicht zuletzt auf die Regulierung der Finanzmärkte. Auch unser Habitus muss moderner werden. Die SPD muss offen sein für neue gesellschaftliche und kulturelle Gruppen und aktiv die Diskussion mit ihnen suchen. Wir dürfen nicht erst dann aufwachen, wenn sich eine neue Partei gegründet hat.
Zu Beginn der Großen Koalition 2005 wurden die politischen Weichen falsch gestellt – mit nachhaltigen Auswirkungen. Die politischen Erfolge – etwa das Ganztagsschulprogramm, das Elterngeld oder der Kitaausbau – überließen wir der Union. Stattdessen setzte die SPD auf die klassischen Ressorts wie Außen, Verkehr und Arbeit. Dies sind wichtige Themen, aber keine, die sich dazu eignen, gesellschaftliche Debatten anzustoßen und zu prägen, zumal das Feld der Arbeitsmarktpolitik aufgrund der Agenda-Diskussion festgefahren war. Diese Fehler in der politischen Strategie dürfen wir nicht wiederholen.
Wir müssen jetzt selbstbewusst unsere Inhalte nach vorne stellen und dabei heraustreten aus den bisherigen Logiken und einem regierungstechnischen Politikverständnis. An der Spitze der Partei brauchen wir Frauen und Männer, die an der Lebenswirklichkeit der Menschen ansetzen. Wenn wir jetzt den Mut haben, uns neu aufzustellen, haben wir 2017 eine reale Chance für einen Politikwechsel.
Dieser Beitrag ist in der Diskussion eines größeren Kreises von Sozialdemokratinnen entstanden, die für Fraktionen, Partei und Regierungen in der Bundes- und Landespolitik arbeiten. Die Autorinnen äußern in dem Beitrag ihre persönliche Meinung. Der Artikel wurde vor dem Ergebnis des Mitgliederentscheids der SPD über den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD und vor der Bekanntgabe einer eventuellen Ressortaufteilung verfasst.