Es geht um viel mehr als neue Machtoptionen



In Hamburg haben die Wählerinnen und Wähler vier Parteien in die Bürgerschaft gewählt. Im Bundestag waren bereits von 1990 bis 2002 fünf Parteien vertreten. Blickt man in die „Berliner Runde“ an den Wahlabenden, dann sieht man mit der bayerischen Staatspartei sogar insgesamt sechs Parteien. In den Landtagen sind ebenfalls bis zu sechs Parteien vertreten.

Es ist nicht die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien, die den politischen Paradigmen-Wechsel zum „Fünf-Parteien-System“ vorantreibt. Es sind die Wahlerfolge der Linken seit 2005. Nach den jüngsten Landtagswahlen sind alle parteipolitischen Strategien obsolet geworden, die darauf setzten, die Linke als eine flüchtige Erscheinung aus dem Parlament heraushalten zu können. In Deutschland ist normal geworden, was in vielen Ländern Europas längst normal ist: Zum demokratischen Spektrum zählen neben Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen auch die demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten. Dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger diese Normalität anerkennen, egal, ob sie die Linke wählen oder nicht, ist für meine Partei fast ebenso wichtig wie die deutlich gewachsene Stimmenzahl.

Die Wähler wollen keine Lager mehr

Gewählt werden Parteien, weil sie einem nahe stehen, nicht Koalitionen oder Konstellationen. Die Wählerinnen und Wähler wollen keine Entscheidung mehr herbeiführen zwischen einem schwarz-gelben „Lager“ und einem rot-grünen „Lager“, wie es bei Wahlen in Westdeutschland seit gut 25 Jahren die Regel war. Im Jahr 2005 retteten sich die beiden größeren Parteien dieser alten Lager in eine Große Koalition, weil ihnen eine andere demokratisch verfasste und dem Grundgesetz verpflichtete Partei nicht als koalitionsfähig galt und eine „lagerübergreifende“ Dreierkoalition keiner Partei opportun erschien. Die Regierung Merkel vereinigt die Beharrungskräfte des alten Parteiensystems und die Scheu vor Veränderung.

Nun, festsitzend in den hessischen Schützengräben, werden die Ausgrenzungsstrategien gegenüber der Linken vorsichtig aufgegeben und mit breiter Medienunterstützung begierig schwarz-grüne Koalitionsgespräche angebahnt.

Auf originäre Anliegen kommt es an

Wenn demnächst auch die FDP die Zeichen der Zeit erkennt, werden die Bürgerinnen und Bürger von Wahlkämpfen verschont bleiben, in denen sich Parteien vor allem durch Festlegungen profilieren, mit wem sie auf keinen Fall zusammenarbeiten wollen. Ein antikommunistisch intonierter Lagerwahlkampf gegen die „rot-rot-grüne“ Gefahr besitzt noch geringere Erfolgsaussichten, wenn die CDU zuvor ihr Tabu gegenüber den Grünen gebrochen hat. Viel mehr wird künftig im Vordergrund stehen, wofür und für wen eine Partei eintritt und was sie erreichen will – also ihre eigenständigen, originären Anliegen und Angebote. Ob am Ende wieder fünf beziehungsweise sechs Parteien im Bundestag vertreten sein werden, dafür gibt es auch im neuen Fünf-Parteien-System ebenso wenig eine Garantie wie dafür, dass es am Ende nicht doch für eine kleine Zweier-Koalition reichen wird. Auch mit einer Neuauflage der Koalition aus CDU/CSU und SPD muss gerechnet werden, aber es wird dann keine „Notlösung“ mehr sein können. Dafür ist die Bewegung zu tektonisch, die die Linke in das Parteiensystem gebracht hat.

Die Republik ist aus den Fugen

Der Erfolg der Linken verdankt sich unserer Fähigkeit, den Nerv der Wählerinnen und Wähler zu treffen. In den neunziger Jahren wurzelte sich die PDS trotz oder wegen SED-Vergangenheit in der ostdeutschen Gesellschaft ein, weil bei vielen Menschen das Gefühl vorherrschte, dass das neue Gemeinwesen nicht in Ordnung sei und alle anderen Parteien über ihre Sorgen und Anliegen hinweg redeten. Ganz ähnlich verhält es sich seit 2005 mit der neuen Linken in West und Ost. Ihre Wahlerfolge sind nur die Spitze eines Eisberges, der sich in der Gesellschaft im Zuge des „Reformeifers“ der Jahrhundertwende gebildet hat.

Die bundesdeutsche Gesellschaft ist aus den Fugen geraten. Die Reformen haben soziale Standards dereguliert, ohne verlässliche neue Regeln bei Löhnen und Sozialeinkommen, gegen sozialen Absturz und Ausgrenzung zu schaffen. Die Reformen haben den Standort „wettbewerbsfähig“ gemacht, ohne das Gemeinwesen vor sich ausbreitender Ausplünderungsmentalität zu schützen. Die Reformen haben Profitmaximierung und Finanzspekulationen erleichtert, ohne sich der politischen Gestaltungsmacht des demokratischen Gemeinwesens zu vergewissern. Die Reformen haben einer Mehrheit keine Erträge gebracht, sie haben aber das Gemeinwesen einer egoistischen, verantwortungslosen und raffgierigen selbst ernannten „Elite“ überlassen. Diese gesellschaftliche Stimmungslage wird von weitaus mehr Bürgerinnen und Bürgern geteilt, als am Ende die Linke wählen.

Die Mehrheit ist nicht über Nacht „links“ geworden, aber sie meint, dass es nach dem überbordenden vermeintlichen Reformeifer an der Zeit ist, dass sich die Politik wieder um elementare Dinge wie gleiche Bildungschancen, um Grenzen für soziale Unterschiede, um die Verteidigung des Sozialstaates und der Anliegen des Gemeinwesens gegenüber ausufernden Profitinteressen kümmert. Die Linke ist erfolgreich, weil sie diese Anliegen entschieden in die politische Arena zurückholt. Das alte Parteiengefüge ist zerbrochen, das Fünf-Parteien-System entstanden, weil seine Protagonisten diese gesellschaftlichen Anliegen übersehen und missachtet haben.

Die Wählerschaft der Linken verbindet nicht der Protest, sondern das Anliegen, in den gesellschaftlichen Institutionen den demokratisch-sozialstaatlichen Grundregeln des Ausgleichs, der Würde, der Gleichheit aller und des Respekts für alle wieder Geltung zu verschaffen. Aus ihrer Geschichte heraus ist die Linke daher kein originärer Teil eines „rot-rot-grünen“ Lagers oder einer imaginierten Mehrheit „links von der CDU“. Das wäre sie auch dann nicht, wenn die SPD auf ihre Ausgrenzungs- und Vertreibungsstrategie verzichtet hätte. Zusammenarbeit und Koalitionen geht sie nicht auf der Grundlage machttaktischer Spiele ein, sondern auf der Grundlage gesellschaftlicher Anliegen, Vorhaben und Mehrheiten, für die sich politische Projekte herausbilden.

Wer den Wählerauftrag nicht verstanden hat

Die Rückgewinnung des Öffentlichen als Erneuerung des Einflussbereiches von demokratischen Entscheidungsprozessen, die Überwindung der Zweiklassenmedizin mit Hilfe einer Bürgerversicherung oder die Re-Zivilisierung der Außenpolitik wären einige solcher Anliegen, um die sich über die aktuellen Themen wie Mindestlohn, Abschaffung der Rente ab 67 oder Hartz IV hinaus auch im Fünf-Parteien-System stabile Konstellationen entwickeln können. Wer die Etablierung des Fünf-Parteien-Systems darauf reduziert, neue Koalitionsoptionen zu erschließen, hat den Wählerauftrag nicht verstanden.

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