Europa bleibt unter seinen Möglichkeiten
Es überrascht nicht, dass man von Zeit zu Zeit Artikel über den Niedergang Europas liest. Dieses Genre existiert schon eine ganze Weile. Üblicherweise handeln solche Texte von der mangelhaften Positionierung Europas in Zeiten verschärften Wettbewerbs und zunehmender Globalisierung. Neu und beispiellos ist jedoch, dass die Frequenz solcher Beiträge in verschiedenen Medien nicht nur in Europa und Nordamerika im Laufe der vergangenen Monate exponentiell angewachsen ist. Sie handeln jetzt nicht mehr so sehr von unseren wirtschaftlichen und sozialen Defiziten, sondern sagen in sehr kategorischer Weise die unvermeidliche Marginalisierung Europas voraus.
Wie kommt das? Von wenigen Ausnahmen abgesehen brachte das vergangene Jahrzehnt keine wesentlichen strukturellen Reformen. Die Krise hat hart zugeschlagen. Sehr wahrscheinlich sind Szenarien niedrigen Wachstums, die nach und nach die wohlfahrtsstaatlichen Systeme beschädigen dürften, welche in Europa im Laufe von vier Jahrzehnten wachsenden Wohlstands aufgebaut worden sind. Und während sich zugleich das Gleichgewicht wirtschaftlicher Macht in Richtung der Schwellenländer verschiebt, nehmen der Einfluss Europas und das Gewicht der europäischen Stimme in der Welt ab.
An diesem Punkt frage ich mich, wie ein wirklich schlechtes Szenario aussehen könnte. Was dazu gehören würde, ist nicht schwer vorauszusagen: eine viel langsamere und stotternde Erholung von der Wirtschaftskrise, wobei einige Staaten versuchen, strukturelle Reformen zu vermeiden, was die Chancen für eine Erholung der gesamten europäischen Wirtschaft umso mehr verschlechtert; der Rückgriff auf protektionistische Maßnahmen gegen aufstrebende Schwellenländer und europäische Partnerstaaten; der Euro in ernster Gefahr; schwindender Einfluss, um unsere Werte in der Welt durchzusetzen; weiterer Aufschwung beängstigender nationalistischer Reaktionen; Einwanderer als Sündenböcke; wachsendes Misstrauen und zunehmende politische Zwietracht.
Unsere Unentschlossenheit und ihr Preis
Science-Fiction? Ich hoffe ja. Aber wie auch immer, meine Hauptsorge gilt, wie bereits gesagt, im Augenblick nicht der anämischen Verfassung, in der sich in Europa die Wachstumsfaktoren befinden. Was mich beschäftigt, ist die Haltung unserer politischen Anführer. Wenn es schwierig wird, wirken sie wie unbeteiligt, seltsam unwillig, Dynamik und Zuversicht auszustrahlen. Sie scheinen Angst davor zu haben, politische Risiken einzugehen und tun sich schwer damit, in die wirklichen Fundamentalwerte zu investieren: Vertrauen und gemeinsame Ziele. Diese aufzubauen ist schwer, sie zerbröckeln zu lassen leicht.
Jüngst auf dem EU-Frühlingsgipfel wollten sich unsere Spitzenpolitiker angeblich auf mutige Leitlinien verständigen, um Vertrauen wiederherzustellen und die soziale Reaktivierung des Kontinents auf den Weg zu bringen. Nichts davon ist eingetreten. Wie hoch wird der Preis ausfallen, den wir für unsere derzeitige politische Unentschlossenheit möglicherweise entrichten müssen?
Die relative Schwächung der europäischen Wirtschaft ist keine Angelegenheit in der fernen Zukunft. Sie findet nun schon seit einigen Jahren statt, und die jüngste Krise hat entscheidend dazu beigetragen, die denkbar schlechtesten Rahmenbedingungen zu schaffen. Zugleich sind wir – diese Aussage ist wenig originell, aber zutreffend – auf dem besten Wege, gemeinsam mit den Japanern zu den ältesten Gesellschaften der Welt zu werden. Zwar ist eine „reife“ Gesellschaft für sich genommen noch kein Problem, aber wenn wir den Lebensstandard beibehalten wollen, den wir heute gewohnt sind (was wahrscheinlich der Fall ist), dann müssen wir Umbauten vornehmen. In der „reifen“ Gesellschaft wird die Zahl der Arbeitskräfte geringer sein, was von vornherein geringere Wachstumsraten und noch unbekannte Belastungen für das Prinzip der Solidarität zwischen den Generationen mit sich bringen wird. Der Sozialstaat wird anderen Anforderungen genügen müssen und aufs Ganze gesehen teurer sein als bisher. Das gegenwärtige Niveau des Schutzes, der Inklusion und des sozialen Zusammenhalts werden wir nur mit einer dynamischen Wirtschaft halten können, die Vollbeschäftigung und ein höheres Produktivitätsniveau voraussetzt.
Das alles wird nur schwer zu machen sein, wenn auf Gebieten wie Bildung, Innovation, Energie, Umwelt, Infrastruktur und Gesundheit keine gründlichen Veränderungen vorgenommen werden. Unglücklicherweise fallen diese Veränderungen nicht einfach so vom Himmel. Sie bedürfen einer entschlossenen politischen Anstrengung, die weit über das provinzielle Gebaren hinausgeht, das unsere europäischen Anführer gegenwärtig an den Tag legen. Zudem bedürfen sie auf allen Ebenen Institutionen mit weitaus größeren strategischen Visionen, die sich auch jenseits ihrer jeweiligen Klientel und Zuständigkeit über das Ausmaß der Probleme vollauf im Klaren sein müssen. Und schließlich ist auf jeden Fall auch das Engagement des privaten Sektors vonnöten.
Nun könnte man einwenden, meine Tonlage sei übertrieben. Man könnte finden, wir besäßen bereits angemessene Werkzeuge, um nicht nur mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, sondern auch mit künftigen „bösen Überraschungen“ sowie den oben genannten wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen zurechtzukommen. Tatsächlich aber ist dies eben nicht der Fall. Auf der nationalen Ebene blicken wir auf eine Mischung aus kläglichen öffentlichen Finanzen, steigender Arbeitslosigkeit, Staatshaushalten mit sehr geringen Spielräumen; hinzu kommt eine öffentliche Stimmung des Misstrauens und der Ungewissheit über das voraussichtliche Ende der Krise. Auf der europäischen Ebene blicken wir auf einen unglaubwürdig gewordenen Stabilitäts- und Wachstumspakt, auf ein qualitativ und quantitativ schmales EU-Budget, auf eine Eurogruppe mit sehr fragwürdiger Führung, auf einen gemeinsamen Markt mit dringendem Erneuerungsbedarf sowie auf eine noch ungeborene „Agenda 2020“, die sich als sehr mageres Projekt, aber immerhin zugleich als Schritt in die richtige Richtung erweisen dürfte.
Europas Erfolg gründet nicht auf Wachstum
Kein schlechter Zeitpunkt also, um das große europäische Paradox neu zu durchdenken. Zwar haben alle europäischen Staaten in normalen Zeiten immer wieder bekundet, auf eigene Faust könnten sie es nicht mit den Mächten der Globalisierung aufnehmen. Aber sie haben die EU eben auch nicht mit den notwendigen Instrumenten ausgestattet, um diese Aufgabe bewältigen zu können. Jetzt, in den schlechten Zeiten der weltweiten Wirtschaftskrise, müssen wir tatsächlich mit den Mächten der Globalisierung fertig werden. Weil wir darauf aber nicht vorbereitet sind, ziehen wir uns auf nationale Selbstbeschäftigung zurück.
Was also können wir tun? Erstens und vor allem müssen wir der Versuchung widerstehen, Sündenböcke zu suchen. Niemand ist ohne Schuld, und andere für eigenes Leid verantwortlich zu machen, bringt keine Entlastung. Zweitens brauchen wir Klarheit und Ehrlichkeit. Alle Akteure müssen auch Lösungen in den Blick nehmen, die über ihre jeweiligen Partikularinteressen, ihre Amtszeiten und Wahlperioden hinausweisen. Und drittens: Gute Politiker haben den Mut, ein System in Frage zu stellen, wenn es sich als überholt erweist. Die Zeit dafür ist jetzt!
Fragt mich jemand, ob wir in zehn oder zwanzig Jahren noch denselben Lebensstandard genießen werden wie heute, dann antworte ich ihm: „Ganz ehrlich, ich glaube nicht daran.“ Fragt mich jemand, ob ich darauf vorbereitet bin, dann sage ich: „Mit weniger Komfort kann ich leben. Aber ich kann nicht damit leben, das Vertrauen in unser System verlieren zu müssen.“
Der Erfolg des European Way of Life gründet nicht auf Wachstum, selbst wenn dies eine wesentliche Zutat ist. Was Europas Erfolg ausmacht, ist vielmehr die befriedigende Erfahrung, gemeinsam an einer Gesellschaft zu arbeiten, die gerechter, inklusiver, sicherer und nachhaltiger ist als jede andere dieser Welt. Diese Qualitäten Europas sollte niemand für selbstverständlich halten. Im Gegenteil: Wir sollten auf ihnen aufbauen, gerade in schwierigen Zeiten. Das ist unsere einzige wirkliche Versicherung für die Zukunft. «
Aus dem Englischen von Tobias Dürr