Europa braucht mehr Solidarität
Der vermeintliche Widerspruch von Solidarität und Marktwirtschaft lässt sich auflösen, wenn man es richtig organisiert. Mit dem Godesberger Programm von 1959 ist die Sozialdemokratie in Deutschland besonders früh zu dieser Einsicht gelangt. Dabei ist der Staat zugleich Ermöglicher und Korrektiv der moralisch blinden Wohlstandsmaschine Marktwirtschaft. Damit die soziale Marktwirtschaft funktioniert, braucht es einen starken Staat und einen starken Sozialstaat. Diese Einsicht hat sich auf nationalstaatlicher Ebene inzwischen durchgesetzt. Aber auf europäischer Ebene tun wir uns damit immer noch unglaublich schwer.
Wo bleibt der starke EU-Sozialstaat?
Was wir in den vergangenen dreißig Jahren geschaffen haben, ist eine fabelhafte europäische Marktwirtschaft, bekannt unter dem Namen Europäischer Binnenmarkt. Deutschland profitiert davon ganz besonders. Was hierzulande produziert wird, kann problemlos europaweit verkauft werden. Und was in anderen Teilen Europas hergestellt wird, kann in Deutschland bedenkenlos gekauft werden. Ganz einfach weil die Produktstandards europaweit angeglichen worden sind. Was manchmal als übertriebene Detailregulierung durch die EU beschimpft wird, ist die Voraussetzung für diese erfolgreiche europäische Marktwirtschaft. Wie viel Wohlstand der Binnenmarkt bringt und wie viel man davon durch einen Austritt verlieren kann, macht gerade Großbritannien vor.
Aber wo bleibt neben der europäischen Marktwirtschaft der starke Sozialstaat? Der Vater des Europäischen Binnenmarktes, Jacques Delors, wusste, dass zur europäischen Marktwirtschaft das soziale Europa gehört. Bloß umgesetzt wurde davon bislang zu wenig. Richtig ist, dass wir eine starke europäische Wettbewerbsbehörde haben, die gegen übermäßige Monopolmacht wirkungsvoll vorgeht. Richtig ist, dass wir mit der europäischen Regionalpolitik ein Instrumentarium haben, um die wirtschaftliche Konvergenz zu fördern. Und es ist auch richtig, dass immer wieder eher wolkige Initiativen für ein soziales Europa gestartet werden, aktuell etwa der Vorschlag der EU-Kommission zur „Säule soziale Rechte“. Aber ganz konkret ist im Vergleich zu dem, was es an Versicherungs- und Solidaritätsmechanismen zwischen den Regionen selbst im wenig sozialen Bundesstaat USA gibt, die europäische Sozialstaatlichkeit erstaunlich gering ausgeprägt.
Warum gibt es nicht mehr europäische Solidarität? Warum ist die Sorge so viel stärker, dass ein armer Bewohner Griechenlands unsere Solidarität missbrauchen könnte, als ein armer Bewohner Deutschlands? Bei einigen mag da ein kulturelles Überlegenheitsgefühl eine Rolle spielen. Bis man sich dann hoffentlich darauf besinnt, dass sich die griechische Kultur vor der deutschen Kultur nicht zu verstecken braucht.
Die Sehnsucht nach der Souveränität
Das eigentliche Problem liegt denn auch weniger in den sehr wohl vorhandenen, eigentlich bereichernden und oft liebenswerten kulturellen Unterschieden in der EU. Entscheidend sind vielmehr die unterschiedliche Art und Qualität der nationalstaatlichen Institutionen in Europa. Die Ausbildungssysteme wie die Rentensysteme, das Gesundheitswesen wie die Gerichte, die Flüchtlingsunter-bringung wie die Finanzämter sind nicht nur recht unterschiedlich aufgebaut, sondern auch unterschiedlich gut. Wobei hier ausdrücklich daran erinnert werden soll, dass Deutschlands Institutionen keineswegs in all diesen Bereichen europaweit führend sind.
Eine plausible und grundsätzlich legitime Erklärung dafür, dass das soziale Europa auch heute noch so schwach ist, dürfte die mangelnde Bereitschaft des europäischen Steuerzahlers sein, vergleichsweise schlechte nationale Institutionen dauerhaft zu subventionieren. Selbst in den USA, wo die einzelnen Bundesstaaten viel mehr Eigenständigkeit besitzen als beispielsweise die deutschen Bundesländer, duldet der Zentralstaat auf Dauer keine minderleistenden regionalen Institutionen in Schlüsselbereichen wie der Rentenversicherung, inzwischen auch der Krankenversicherung, des Steuerwesens und der gesamtstaatlichen Autorität.
Doch genau gegen solche Einschränkungen der Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten gibt es in Europa erbitterten Widerstand. Ein europäischer Superstaat wird nicht gewünscht, es sei denn, er würde dem jeweiligen nationalen Vorbild entsprechen. Aber ein französisches, ein deutsches oder ein italienisches Europa wird es natürlich nie geben. Stattdessen benötigen wir auf dem Weg zum solidarischen Europa eine vielschichtige Strategie mit erstens mehr Zentralisierung, zweitens mehr Wettbewerb und drittens mehr Vertrauen untereinander. Im Rahmen einer solchen Strategie lassen sich dann neue und konkrete Formen der Solidarität entwickeln, zum Beispiel die europäische Arbeitslosenrückversicherung.
Zentralisierung: Auch wenn wir keinen europäischen Superstaat anstreben, benötigen wir in einigen Teilbereichen schlicht mehr Europa im Sinne einer Zentralisierung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Bankenunion. Dauerhaft kann es in der Eurozone keine Solidarität in Finanzkrisen geben, wenn die Aufsicht über den Finanzsektor lax und national unterschiedlich bliebe. Deshalb ist die Schaffung der europäischen Bankenunion ein richtiger und unvermeidlicher Zentralisierungsschritt, der aber noch deutlich konsequenter in die Tat umgesetzt werden muss. Ein anderes Beispiel ist der humanitäre Umgang mit Flüchtlingen in der EU und die Sicherung der Außengrenzen. Beides muss gemeinschaftlich finanziert und organisiert werden, damit das Europa der offenen Grenzen im Innern auch funktionieren kann, selbst wenn ein einzelner Mitgliedsstaat einmal finanziell oder organisatorisch in Schieflage geraten sollte. Freilich muss dabei der Grundsatz gelten: so viel Zentralisierung wie nötig, so viel Subsidiarität wie möglich.
Wie Erasmus den Wettbewerb ankurbelt
Wettbewerb: In anderen Bereichen kann auch der Wettbewerb zwischen staatlichen Institutionen sinnvoll sein, um deren Qualität zu verbessern. So dient der Solidaritätsmechanismus Erasmus nicht nur der Horizonterweiterung der Studierenden, sondern auch einem konstruktiven Wettbewerb der Universitäten über Ländergrenzen hinweg. Wichtig ist dabei, dass dies zum Wohle der Studierenden und unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern geschieht. Ähnlich sinnvolle Wettbewerbselemente gibt es in den besseren Teilen der europäischen Forschungsförderung und könnte es beispielsweise auch verstärkt in der Investitionsförderung geben, so dass sich ein konstruktiver Wettbewerb zwischen verschiedenen Regionen über die Qualität von Investitionsvorhaben entwickelt.
Es sei an dieser Stelle jedoch ausdrücklich vor der Idee gewarnt, dass Staaten generell wie Firmen miteinander in den Wettbewerb treten sollten. Denn der Staat soll idealerweise gerade dort aktiv werden, wo der private Wettbewerb zu negativen Effekten führt, zum Beispiel bei der Versicherung gegen Krankheit oder Armut. Der Staat führt hier zu Recht eine Versicherungspflicht ab der Geburt ein, damit sich die vergleichsweise Gesunden und Reichen – sobald sie wissen, dass sie in diesem Sinne privilegiert sind – nicht mehr entziehen können. Würde man in diesen Bereichen den Wettbewerb durch die Hintertür staatlicher Konkurrenz wiedereinführen, entstünden genau die Probleme, die der Staat eigentlich verhindern soll. Die Länder würden ihre Steuern zu sehr senken, um die gesunden, gut ausgebildeten und wohlhabenden Menschen anzulocken, anstatt mehr in Ausbildung und Gesundheit zu investieren und sich besser um die Bedürftigen zu kümmern. Diese destruktive Form von staatlichem Wettbewerb – besonders im Bereich der Steuern – muss Europa endlich verhindern, statt solch einen Wettbewerb sogar zu organisieren.
Vertrauen: Stellenweise brauchen wir in der EU auch wieder mehr Vertrauen untereinander. Deutschland bekam nach dem Zweiten Weltkrieg einen unglaublichen Vertrauensvorschuss von seinen europäischen Partnern, und auch die heutigen Krisenländer haben einen Vertrauensvorschuss verdient, unter anderem in Form substanzieller europäischer Zukunftsinvestitionen.
Alle umringt von finsteren Nachbarn?
Im Gegensatz dazu besteht das Gift des Rechtspopulismus darin, den Wählern des eigenen Staates mit nationalistischen Parolen einzureden, das eigene lautere und tapfere Land werde ungerecht behandelt und sei umringt von Ländern mit finsteren Absichten. Das Absurde dabei: Mit dieser argumentativen Grundstruktur der nationalistischen Ab- und Ausgrenzung sowie wechselseitigen Ressentiments können Rechtspopulisten in Deutschland, Frankreich oder Griechenland Wählerstimmen gewinnen, während sie zugleich im Europäischen Parlament fröhlich gemeinsam daran arbeiten, Europa kaputt zu machen.
Europa ist ein historisch einzigartiges Gebilde und wird deshalb auch zur Lösung seiner Probleme neue und einzigartige Formen der Solidarität entwickeln müssen. Bedingungslose europäische Solidarität wird auf die Dauer nicht funktionieren, weil sie falsche Anreize schafft, indem sie die Langlebigkeit dysfunktionaler nationalstaatlicher Institutionen erhöht. Genauso wenig wird allerdings Solidarität funktionieren, die bei Fehlverhalten drakonische Strafen für schwache Länder vorsieht, die man im Falle eines Falles vernünftigerweise dann doch nicht einfordert.
Für Lösungen, die wirklich funktionieren
Besonders vielversprechend werden neue europäische Solidaritätsmechanismen sein, die Elemente von Zentralisierung, Wettbewerb und Vertrauen enthalten. Ein gutes Beispiel hierfür wäre aus meiner Sicht die Einführung einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung in der Eurozone zur Vermeidung oder besseren Bewältigung zukünftiger Krisensituationen. Das Element der Zentralisierung wäre hier offensichtlich vorhanden. Es könnten beispielsweise europaweit institutionelle Mindestanforderungen an die produktive und soziale Arbeitsmarktorganisation als Bedingung für den Zugang zu dieser Rückversicherung festgeschrieben werden. Als Wettbewerbselement könnten risikoabhängige Beiträge der Staaten zur Rückversicherung Anreize für weitere Verbesserungen der nationalen Arbeitsmarktinstitutionen schaffen. Und schließlich verlangt ein solch größeres Projekt mit erheblichen Unwägbarkeiten und asymmetrischer Ausgangslage an den Arbeitsmärkten der Eurozone auch ein hohes Maß an Vertrauen in die guten Absichten der jeweiligen Partner, bei allen Vorkehrungen, die man treffen kann und treffen sollte.
Europa muss genau in diesem guten sozialdemokratischen Sinne von „ja, aber“ und „sowohl als auch“ solidarischer werden: Wir brauchen eine neue Balance zwischen Markt und Staat, zwischen Eigen-verantwortung und Solidarität. Wir benötigen keine populistischen Parolen, sondern ausgewogene Lösungen, die auch dauerhaft funktionieren können.