Europas letzte Diktatur vor dem Ende?

Während Europa die Umwälzungen in den Ländern Nordafrikas verfolgt, existiert als direkter Nachbar der EU weiter eine Diktatur. Doch inzwischen ist Weißrusslands autoritäre Führung massiv unter Druck geraten

Die postsowjetische Republik Belarus befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seit ihrer Gründung vor zwanzig Jahren. Das Land kämpft mit Hyperinflation, rasanter Rubelabwertung, steigender Auslandsverschuldung und sinkenden Lebensstandards. Unzufriedenheit und Verunsicherung breiten sich aus. Die brutale Niederschlagung der friedlichen Demonstration nach der Präsidentschaftswahl im Dezember 2010 und die darauf folgende Repressionswelle gegen Opposition, Zivilgesellschaft und unabhängige Medien haben die innenpolitische Lage verschärft. Die Herrschaft von Präsident Aljaksandr Lukaschenka ist in Gefahr. Steht das Land vor der entscheidenden politischen Wende?

Als Belarus im Dezember 1991 seine Unabhängigkeit erklärte, erhielt es nach Jahrhunderten der politischen Fremdbestimmung und territorialer Zerrissenheit endlich die Chance, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation schienen günstig. In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten bestimmte jedoch ausschließlich der autoritär regierende Präsident Lukaschenka die politische und ökonomische Entwicklung des Landes.

Nachdem dieser im Sommer 1994 in einer demokratischen Wahl zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, richtete er das Herrschaftssystem sukzessive auf seine Person aus und hält sich seither mit undemokratischen Mitteln im Amt. Für die Durchsetzung aller wesentlichen Entscheidungen verfügt er über einen mächtigen, loyalen und zentralistisch organisierten Verwaltungs- und Sicherheitsapparat. Wahlen finden zwar regelmäßig statt, entsprechen jedoch nicht demokratischen Standards. Die Gewaltenteilung ist de facto außer Kraft gesetzt. Grund-, Freiheits- und Menschenrechte werden systematisch missachtet. Die staatlich kontrollierten Medien dienen vorrangig der Propaganda.

Drei wesentliche Prinzipien charakterisieren dieses autoritäre Herrschaftssystem: Erstens sichert eine Wirtschaftsordnung nach dem Modell der sowjetischen Planwirtschaft (noch) einen niedrigen aber stabilen Wohlstand, unter anderem durch subventionierte Rohstofflieferungen aus Russland und gewinnbringende Absatzmöglichkeiten in die EU. Zweitens organisiert ein gut funktionierender Sicherheitsapparat – vor allem der Staatssicherheitsdienst KGB – die totale Kontrolle von Gesellschaft und Medien und unterdrückt jeden politischen Widerstand. Ein großer Teil der Bevölkerung nimmt diese Beschränkungen im Austausch gegen bescheidenen Wohlstand, soziale Sicherheit und Stabilität in Kauf. Drittens laviert Belarus außen- und sicherheitspolitisch zwischen Russland und der EU, spielt europäische und russische Interessen gegeneinander aus. Jedoch: Seit einiger Zeit gerät dieses System ins Wanken.

Als acht von neun Kandidaten verhaftet wurden

Ein entscheidender Wendepunkt war die Präsidentschaftswahl vom 19. Dezember 2010. Zwar unterschieden sich Abstimmungsverfahren und Ergebnisse nicht von den Präsidentschaftswahlen 2001 und 2006. Aber am Wahlabend gingen erstmals rund 35.000 Menschen in der Hauptstadt Minsk auf die Straße, um friedlich gegen die offenkundigen Wahlmanipulationen zu demonstrieren, darunter Anhänger der zersplitterten Opposition. Als rund zehn Provokateure begannen, die Türen und Fenster des Regierungsgebäudes am Platz der Unabhängigkeit einzuschlagen, reagierte das Regime mit ungekannter Härte. Die gut vorbereiteten Sicherheitskräfte lösten die Kundgebung gewaltsam auf und nahmen anschließend mehr als 700 Personen fest, darunter acht der neun Präsidentschaftskandidaten, von denen drei krankenhausreif geschlagen wurden.

In den darauffolgenden Tagen setze eine breit angelegte Verfolgungswelle ein. Gerichte verurteilten die Mehrzahl der verhafteten Demonstranten zu Haftstrafen von 10 bis 15 Tagen. Dutzende Oppositionelle, darunter sieben Präsidentschaftskandidaten, wurden zu mehrjährigen Freiheitsstrafen, zum Teil in Straflagern, verurteilt. Die hygienischen Zustände in den Gefängnissen waren (und sind) menschenunwürdig. Die Inhaftierten wurden nicht ausreichend medizinisch versorgt und waren nicht selten psychischen und physischen Schikanen bis hin zu Folter ausgesetzt. Die Anwälte der Inhaftierten erhielten nur eingeschränkten Zugang zu ihren Mandaten und zu deren Ermittlungsakten. Einige verloren infolge der Mandatsübernahme die Zulassung. Zudem übte die Staatsgewalt auf die Angehörigen der Inhaftierten Druck aus, sich nicht in der Öffentlichkeit über die Festnahmen, Haftbedingungen und Misshandlungen zu äußern.

Für das Regime Lukaschenka war die Wahlnacht also der Auftakt zu beispiellosen Repressionen. Monatelang durchsuchten seine Schergen im ganzen Land Wohnungen und Büros von Vertretern der Opposition, Nicht-Regierungsorganisationen sowie unabhängigen Journalisten. Der KGB lud zahlreiche Menschen zu Verhören; viele verloren ihren Studien- oder Arbeitsplatz. Wie schon 2006 verließen vor allem junge und gut gebildete Belarussen das Land – aus Angst um ihre Zukunft. Präsident Lukaschenka diffamierte Demokraten und Menschenrechtler als „Volksfeinde“, die als „fünfte Kolonne des Westens“ eine „bunte Revolution“ anzetteln wollten. So versuchte er, das brutale Vorgehen des Sicherheitsapparats am „Blutsonntag“ in Minsk zu rechtfertigen. Im Verlauf des Jahres wurde die politische Opposition im Land zielgerichtet zerschlagen, die Befugnisse des KGB wurden umfassend erweitert und demokratische Grundrechte, wie die Versammlungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung, eingeschränkt.

Neben der politischen Krise sieht sich Weißrussland seit Anfang 2011 mit einer Währungs- und Finanzkrise konfrontiert. Vor allem der Verschleiß der planwirtschaftlichen Mechanismen, das Ausbleiben struktureller Reformen, die abnehmende Subventionierung durch Russland und die steigende finanzielle Abhängigkeit vom russischen Nachbarn gelten als Ursachen für diese Krise. Die desolate wirtschaftliche Situation bringt soziale Probleme und existenzielle Ängste mit sich und steigert die Unzufriedenheit mit dem Regime.

Tod durch Genickschuss – das gibt es nur in Belarus

In dieser Krisensituation kam es am 11. April 2011 zu einem Sprengstoffanschlag in einer U-Bahnstation im Zentrum von Minsk. 15 Menschen wurden getötet und etwa 300 verletzt. Bereits zwei Tage später nahmen die Behörden zwei junge Arbeiter fest, Dmitrij Konowalow und Wladislaw Kowaljow, die umgehend ein Geständnis ablegten und vom Präsidenten öffentlich für schuldig erklärt wurden. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft sind sie für weitere Sprengstoffanschläge in den Jahren 2000 bis 2005 in Witjebsk und 2008 in Minsk verantwortlich, bei denen niemand zu Tode kam, aber Dutzende verletzt wurden. Im Zusammenhang mit dem Metro-Anschlag klassifizierte man alle Taten rückwirkend als Terroranschläge und verurteilte die beiden 25-Jährigen in einem Schauprozess zum Tode durch Genickschuss. Eine Berufung ist nicht möglich, die Verurteilten konnten lediglich ein Gnadengesuch an den Präsidenten richten. Im März 2012 wurden ihre Urteile vollstreckt.

Weißrussland ist das einzige Land in Europa, das die Todesstrafe per Genickschuss verhängt. Nach Angaben der Bundesregierung sind seit 1991 mindestens 200, nach Schätzungen von Amnesty International rund 400 Todesurteile vollstreckt worden. Im Land gibt es erhebliche Zweifel an der Schuld der vermeintlichen Täter und am Verfahren. Dimitrij Konowalow erklärte, sein Geständnis sei unter Folter zustande gekommen. Zudem fehlt es an einem Motiv und belastenden Beweisstücken. Nicht wenige Weißrussen vermuten, dass der Staatsapparat selbst hinter den Anschlägen steckt, um von der Wirtschaftskrise abzulenken. Der Anschlag könnte auch das Ergebnis eines internen Kampfes im Machtapparat sein.

Weil er soziale Sicherheit, ökonomischen Wohlstand und Stabilität nicht mehr garantieren kann, verliert der Präsident in der Bevölkerung an Rückhalt. Trotz der brutalen Repressions- und Verfolgungswelle lehnen sich breite Bevölkerungsgruppen gegen die autoritäre Herrschaft auf. Es sind vor allem junge Menschen, die sich in Minsk und anderen Städten zu stillen Protesten ohne Plakate und Parolen auf die Straße trauen. Über soziale Netzwerke im Internet organisieren sie scheinbar spontane Treffen und äußern ihren Unmut durch Flashmobs, Autokorsos oder kreative Straßenaktionen. Das Regime reagiert mit voller Härte und beendet die Proteste stets mit Festnahmen, Inhaftierungen und Geldstrafen.

Deshalb trat am 6. Januar 2012 ein Gesetz zur Internetzensur in Kraft. Seither sind Internetanbieter verpflichtet, Internetangebote, die auf einer schwarzen Liste stehen, an allen öffent-lichen Orten zu blockieren. Betreiber von Internetcafés werden gezwungen, die Identität ihrer Kunden und deren Verbindungsdaten zu speichern und den Sicherheitsbehörden zur Verfügung zu stellen. Außerdem dürfen nur noch Internetdienste genutzt werden, die im Land registriert sind.

Mit der brutalen Niederschlagung der Protestkundgebung am 19. Dezember 2010 hat Lukaschenka sich in eine Sackgasse manövriert und das Land als Geisel genommen. Die EU kritisierte die Wahlmanipulationen und verurteilte das Vorgehen des Sicherheitsapparats. Alle politischen Kontakte zwischen der EU und Belarus wurden eingefroren. Gegen 208 Funktionäre und Personen, die für Wahlfälschungen und Unterdrückungsmaßnahmen verantwortlich sind, wurden Einreiseverbote in die EU erlassen. Außerdem wurden Auslandskonten eingefroren. Belarus ist politisch isoliert.

Um die weißrussische Zivilgesellschaft zu stärken, stellten die teilnehmenden Staaten einer Geberkonferenz im Februar 2011 rund 87 Millionen Euro in Aussicht. Deutschland kündigte an, im Jahr 2011 bilateral 6,6 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen – rund 800.000 Euro mehr als 2010. Aber die Akteure der Zivilgesellschaft haben von den Millionenhilfen wohl kaum direkt profitiert. Der überwiegende Teil der Mittel floss in laufende Programme des Goethe-Instituts und des DAAD. Direkthilfen für Zivilgesellschaft, unabhängige Medien und Verfolgte waren im deutschen Fördertopf bedauerlicherweise nicht vorgesehen.

Warum Europa Weißrussland nicht aufgeben darf

In der derzeitigen Situation ist eine aktivere Politik der Europäischen Union entscheidend. Kurzfristig muss die EU mit politischen und gegebenenfalls wirtschaftlichen Sanktionen auf die unverzügliche Freilassung aller politisch Inhaftierten sowie auf die umgehende Beendigung von Verfolgung und Repression drängen. Die Ernennung eines Sonderbeauftragten der EU für Belarus, würde die Situation im Land stärker in die öffentliche Wahrnehmung rücken. Zudem wäre das Amt ein Instrument, um die Zusammenarbeit mit der dortigen Zivilgesellschaft zu vertiefen. Darüber hinaus sollte die EU das Regime dazu bewegen, den Dialog mit der Zivilgesellschaft und der Opposition wieder aufzunehmen. Und sie sollte versuchen, Kontakt zu den unzufriedenen Kräften innerhalb der weißrussischen Eliten aufzubauen. Es gilt, alle Möglichkeiten zur Gebührenermäßigung bis hin zur Visafreiheit zu nutzen, um Reisen und den Austausch deutlich zu erleichtern. Polen und Litauen gingen mit gutem Beispiel voran: Unmittelbar nach den brutalen Ereignissen schafften sie die Visagebühren für weißrussische Bürger ab.

Schließlich muss die EU der belarussischen Bevölkerung signalisieren, dass sie ein erhebliches Interesse an einer pro-europäischen, demokratischen Entwicklung hat. Sie sollte eine langfristige Perspektive für den EU-Beitritt anbieten – wenn das belarussische Volk dies wünscht und die Voraussetzungen erfüllt sind. Zugleich muss die EU Russland deutlich machen, dass eine Öffnung des Landes keine Abkehr von Russland und keinen Eingriff in die russische Interessensphäre bedeuten.

Die prekäre Wirtschafts- und Finanzlage wird sich ohne zusätzliche Kredite, Strukturreformen und die Privatisierung der Staatswirtschaft zusätzlich verschlechtern. Durch den weiteren Niedergang wird die Kritik am Regime, aber auch die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung zunehmen und zu beträchtlichen Spannungen führen, auch innerhalb des Machtapparats. Es liegt im europäischen Interesse, dass der bevorstehende Wandel friedlich und ohne Blutvergießen verläuft. Nach fast 18 Jahren autoritärer Herrschaft im Herzen Europas scheinen Lukaschenkas Tage gezählt.

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