Fähnlein Flügelstreit

Wer den Begriff "Flügelstreit" googelt, landet in acht von zehn Fällen Treffer mit Bezug zur SPD. Es ist nicht ersichtlich, dass die Partei von dieser Art der Bekanntheit besonders profitiert. Doch im Prinzip sind Parteiflügel für Volksparteien durchaus nicht nur von Nachteil - sofern sie sich nicht im ewigen Kampf gegeneinander verschleißen

In ihren 100-Tage-Bilanzen waren sich die Kommentatoren der Zeitungen über eine wesentliche Leistung des neuen SPD-Chefs einig: Sigmar Gabriel sei es nach dem historischen Absturz seiner Partei bei der Bundestagswahl gelungen, öffentliche Flügelkämpfe in der SPD zu verhindern. „Der befürchtete Showdown der Parteiflügel blieb aus“, war etwa im  Tagesspiegel zu lesen. Und die Welt befand sogar, Flügelkämpfe seien nunmehr „passé“.

Gewiss hat Sigmar Gabriel im Zusammenspiel mit Generalsekretärin Andrea Nahles zunächst einmal Ruhe in die SPD gebracht. Gerade auch die ersten Schritte in Richtung einer größeren Beteiligung der Basis haben allerorten für Zustimmung gesorgt. Indes steht die Debatte um den künftigen Kurs der Partei noch aus. Konflikte zwischen den Strömungen sind so vorhersehbar wie das Amen in der Kirche. Die entscheidende Frage lautet: Wie geht die Partei künftig damit um?

Wer bei Google den Begriff „Flügelstreit“ eingibt, landet in acht von zehn Fällen Treffer mit einem Bezug zur SPD. Richtungsstreitereien sind so alt wie die Sozialdemokratie selbst. Von der Revisionismusdebatte Ende des 19. Jahrhunderts über die Verabschiedung des Godesberger Programms 1959, den neomarxistischen Drift der Jungsozialisten in den siebziger Jahren bis hin zu den anhaltenden Diskussionen um Gerhard Schröders Agenda 2010 – die SPD hat ihre innerparteilichen Meinungskämpfe oft unerbittlich und häufig auch öffentlich ausgetragen.

Nach 1945 begannen Vertreter der unterschiedlichen Parteiflügel, sich vor allem auf der Ebene der SPD-Bundestagsfraktion zu organisieren. Schon in den fünfziger Jahren existierte die informelle Gruppierung der „Kanalarbeiter“, deren Mitglieder überwiegend konservativ-traditionell eingestellt waren und die dem damaligen rechten Flügel der SPD zugeordnet wurde. Diese Gruppe war eine der Vorläufer-Organisationen des Seeheimer Kreises. Eine Dachorganisation der Linken in der SPD bildete der Mitte der sechziger Jahre gegründete Frankfurter Kreis. Sein Nachfolger, der Leverkusener Kreis, wurde 1980 in Parlamentarische Linke (PL) umbenannt. Laut eigener Aussage ist die PL „die stärkste Gruppierung innerhalb der Fraktion, hat aber (noch) nicht die Mehrheit“. Die dritte Gruppe, das Netzwerk Berlin, besteht seit gut zehn Jahren. Zunächst versammelten sich dort vor allem junge Abgeordnete, die sich keiner der beiden etablierten Lager anschließen wollten. Auch heute versteht sich das Netzwerk als „zentristisch“ – Doppelmitgliedschaften mit der PL oder dem Seeheimer Kreis werden akzeptiert.

In den vergangenen Jahren hat sich das Betätigungsfeld der organisierten Flügel teilweise über die Fraktion hinaus auf die Partei ausgedehnt. Franz Müntefering fand für dieses Phänomen in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender beim letzten Bundesparteitag deutliche Worte: Er warnte davor, dass aus loyalen Flügeln der SPD verselbstständigte Parteipartikel mit eigener Organisations- und Finanzstruktur zu werden drohen. Das würde Kraft und Geschlossenheit absorbieren. Sein Appell lautete: „Diese fatale Entwicklung wenigstens jetzt in der Opposition und in dieser Lage zu beenden, wäre verantwortlich. Lasst diese Art von Flügelei!“

Flügelei war in Dresden vor allem abseits des Plenums auszumachen. Auf der Ausstellerfläche, wo neben Jusos, Schwusos und Dröscher-Preis-Teilnehmern auch Firmen und Verbände vertreten waren, hatte erstmals in der Geschichte der SPD-Parteitage auch jeder der drei Parteiflügel seinen eigenen Stand: das Forum Demokratische Linke 21 (DL 21), das Netzwerk Berlin und der Seeheimer Kreis.

Die DL 21 – eine innerparteiliche Partei?


Während die Mitglieder der Netzwerker und Seeheimer sowie der Parlamentarischen Linken, die der DL 21 verbunden ist, Bundestagsabgeordnete sind und ihre Betätigung grundsätzlich auf die parlamentarische Arbeit beschränken, stellt die DL 21 einen Sonderfall dar. Laut eigener Aussage organisiert sie die Linke in der Partei. Das Forum verfügt über eigene Mitarbeiter und Ressourcen. Auf der Homepage heißt es: „Wir brauchen Mitgliedsbeiträge: Geld für hauptamtliche Koordination und Organisation der Linken in der SPD.“ Zwar halten auch die anderen beiden Flügel lose Kontakte in die SPD-Landesverbände, vergleichbare außerparlamentarische Strukturen sind jedoch ausdrücklich nicht gewollt.

Manchen Sozialdemokraten sind die formalisierten Flügel generell ein Dorn im Auge. Dabei sind die in Gruppen organisierten Richtungen einer Partei weder überflüssiges Beiwerk noch notwendiges Übel. Sie sind für eine Volkspartei unerlässlich. So sagte der Politikwissenschaftler Franz Walter kürzlich in einem Interview: „Die SPD war historisch immer dann besonders vital, interessant und kreativ, wenn sie über lebendige Flügel verfügte.“ Flügel sind Ausweis unterschiedlicher Auffassungen in einer Partei – und das ist nicht automatisch schlecht. Im Gegenteil: In der Organisationspsychologie sind die positiven Effekte heterogener Gruppen vielfach belegt. Sehr gute Arbeitsergebnisse erzielen eher jene Gruppen, deren Mitglieder sich im Hinblick auf ihre Erfahrung, ihr Wissen oder ihre Werte unterscheiden. Der Fachbegriff hierfür lautet diversity, also Vielfalt.

Vielfalt befördert den Wissenszuwachs

Um in der Politik ausgewogene Entscheidungen zu treffen, ist ein hohes Maß an Wissen über das jeweilige Problem und die Situation erforderlich. In Parteien kann Vielfalt den dafür notwendigen Wissenszuwachs befördern, weil unterschiedliche Wissens- und Erfahrungshintergründe in die politische Diskussion eingebracht werden. Meinungsvielfalt kann eine Partei zudem davor bewahren, vorschnelle und zu wenig differenzierte Entscheidungen zu treffen. Die Intensität der Diskussion nimmt durch die Diversität zu – und damit auch die Wahrscheinlichkeit, ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Im Idealfall werden Alternativen kritisch geprüft und Probleme ausführlicher bearbeitet, was den Informationszuwachs und damit die Qualität der Entscheidung erhöht.

Außerdem haben organisierte Parteiflügel die wichtige Funktion, Meinungen zu bündeln und diese parteiintern, aber auch nach außen zu vertreten. Um wiederum Richtungen innerhalb einer Partei öffentlich abbilden zu können, braucht es Personen, die den Parteiflügeln ein Gesicht geben. Den Flügelsprechern wird der Zugang zu den Medien aufgrund ihrer Funktion erleichtert. Ernst-Dieter Rossmann, Christian Lange oder Johannes Kahrs würden als „einfache“ Abgeordnete kaum bundesweit Gehör finden. Als gewählte Sprecher der PL, der Netzwerker und des Seeheimer Kreises sind sie Ansprechpartner der Journalisten.

Zudem können die organisierten Flügel als „Andockstationen“ für Sympathisanten fungieren. Wenn Gewerkschaften Ansprechpartner in der SPD-Fraktion suchen, werden sie sich eher an den linken Flügel wenden, während Wirtschaftsverbände oder andere gesellschaftliche Gruppen vielleicht zunächst bei den Seeheimern oder Netzwerkern anklopfen. Auch parteinahe Organisationen finden leichter Anknüpfungspunkte. Beispielsweise hat der Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit dem Seeheimer Kreis Leitlinien für eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik entwickelt.


Ferner erleichtern die drei Gruppierungen die Arbeitsfähigkeit der Bundestagsfraktion. Wenn es kurzfristig notwendig wird, Mehrheiten zu organisieren oder das politische Vorgehen abzustimmen, muss die Fraktionsspitze nicht jeden Abgeordneten einzeln kontaktieren, sondern kann mit den gewählten Vertretern der Parteiflügel verhandeln. Dies kann Entscheidungswege abkürzen und die Reaktionsgeschwindigkeit der Fraktion erhöhen.

Die in der Fraktion organisierten Flügel wirken aber auch in die Partei hinein und können damit eine integrative Funktion erfüllen. Wer weiß, wie viele Sympathisanten und Mitglieder der SPD während der Debatte um den Bahnbörsengang von der Fahne gesprungen wären, wenn sie ihre kritische Haltung nicht bei der Parteilinken wiedergefunden hätten? Jedoch müssen die Grenzen zwischen einer konstruktiv-kritischen Haltung und einem für die Gesamtpartei schädlichen Verhalten erkannt werden. Falsch verstandenes Flügelspiel hat in der Vergangenheit zu vielen destruktiven Streitereien geführt. Beispiele sind die Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 oder den Umgang mit der Linkspartei. Im Laufe der Bahn-Debatte kam es sogar zu der skurrilen Situation, dass in einer Talkshow zwei Vertreter der SPD eingeladen waren – und fundamental gegensätzliche Positionen vertraten. Aus einem Konflikt in der Sache war eine erbitterte Auseinandersetzung zwischen den Flügeln geworden.

Verwerfliches Verhalten wird trivialisiert

Auch an dieser Stelle liefert die Organisationspsychologie Erklärungsansätze. Durch Parteiflügel entstehen verschiedene Blöcke in einer Partei. Es kommt zu einer sozialen Kategorisierung, die wiederum zu einer vom Einzelnen als wichtig empfundenen sozialen Identität führt. Diese schenkt Sicherheit und Orientierung. Sie kann aber auch dazu führen, dass die Partei in eine „Ingroup“ (zum Beispiel: „wir Seeheimer“) und eine „Outgroup“ (zum Beispiel: „die Linken“) geteilt wird. Das bringt gleich mehrere negative Effekte mit sich.

Der erste Effekt ist die Überhöhung der eigenen Gruppe und die gleichzeitige Abwertung der anderen. Das Verhalten der Gruppe, der man sich zugehörig empfindet, wird auch bei exakt gleichem Verhalten positiver bewertet. Verwerfliches Verhalten wird dagegen trivialisiert. Weiterhin bekommen die Mitglieder der eigenen Gruppe positivere Eigenschaften zugeschrieben, und man erwartet für diese eine bessere Behandlung bei der Verteilung von Posten. Gerade wenn Gruppen um begrenzte Ressourcen – nichts anderes sind politische Ämter – konkurrieren, wird dieser Mechanismus extrem. Im schlechtesten Fall bleibt es dann nicht bei einer Abwertung der Outgroup, sondern diese wird aktiv bekämpft.


Der zweite Effekt betrifft die wahrgenommene Ähnlichkeit der Mitglieder der jeweiligen Gruppen. Die Mitglieder der Ingroup glauben, einander ähnlicher zu sein, als sie es tatsächlich sind. Gleichzeitig wird die Outgroup als fremder erfahren, als sie es faktisch ist. In Wirklichkeit steht manch „Linker“ einem „Seeheimer“ bei einigen Fragestellungen näher als den meisten Anhängern des eigenen Flügels, ohne dass dies erkannt wird oder erkannt werden darf.

Ein dritter Effekt ist die Wahrnehmung der Homogenität. Während die eigene Gruppe hinsichtlich Persönlichkeit und Verhalten als komplex und individuell wahrgenommen wird, wird die Outgroup als homogener und weniger differenziert gesehen und entsprechend stereotypisiert. Alle drei Effekte bedrohen die potenziell positiven Wirkungen von Parteiflügeln als organisierter Vielfalt ihrer Partei.

Man muss einander mit Respekt begegnen

Wie kann man die Parteiflügel und ihre Vorteile erhalten, ohne dass die beschriebenen negativen Effekte eintreten? Die Antwort mag simpel klingen und ist doch der Schlüssel zu einem erfolgreichen Flügelspiel: Der entscheidende Faktor ist die Grundhaltung der Parteimitglieder gegenüber der Vielfalt in der Partei. Der Fachterminus lautet diversity beliefs: Für wie wertvoll erachten die Mitglieder gruppeninterne Unterschiedlichkeiten für den gemeinsamen Erfolg? Wird Diversität wertgeschätzt und als hilfreich erachtet, können diese Überzeugungen die beschriebenen produktiven Effekte fördern und die negativen abmildern. Besonders das politische Führungspersonal sollte dies vorleben und bei den Mitgliedern für die Wertschätzung der unterschiedlichen Meinungen werben, die mit Parteiflügeln verbunden sind. Gleichzeitig müssen Verhalten und Aussagen gegenüber den anderen Parteiflügeln vermieden werden, die abwertend, provozierend oder stereotypisierend sind – auch wenn sie kurzfristig die eigene Gruppenidentität steigern. Was außerhalb der Partei gilt, sollte erst recht in der Partei gelebt werden: Man muss einander mit Respekt begegnen.

Wenn miteinander um den besten Weg gerungen wurde und am Ende ein demokratisch gefasster Beschluss steht, dann sollte dieser aber auch möglichst geschlossen nach außen vertreten werden. Es ist gut, unterschiedliche Meinungen zu zeigen, aber eine dauerhafte Opposition zur Parteilinie ist weder zielführend, noch wird sie von der Öffentlichkeit honoriert.

Übergeordnete und gemeinsame Ziele, die in Kooperation erreicht werden müssen, erzielen positive Effekte. Wenn Parteiflügel beispielsweise in einem Wahlkampf das gemeinsame Ziel haben zu gewinnen, kann dies die In- und Outgroup-Mechanismen einschränken. Übergeordnete Ziele, für die alle Flügel gemeinsam streiten können, dürfen aber nicht nur auf Wahlkampfzeiten beschränkt bleiben. Hier sind die Partei und ihr Führungspersonal immer wieder aufs Neue gefragt, Visionen zu entwickeln, die eine gemeinsame übergeordnete Identität stiften und hinter denen sich die Partei und ihre Flügel sammeln können.

Nicht zuletzt sollten Parteimitglieder ausreichende Kompetenzen auf dem Gebiet des Konfliktmanagements besitzen. Im Standardwerk der Verhandlungstechnik Das Harvard-Konzept sind einige wichtige Grundregeln nachzulesen: Menschen und Probleme sollten zusammen gesehen, aber getrennt behandelt werden; man muss sich auf die jeweiligen Interessen der Akteure statt auf deren Positionen konzentrieren; Sachkonflikte dürfen nicht zu Beziehungskonflikten führen und umgekehrt; entsprechende Entwicklungen müssen frühzeitig erkannt werden; zu einem guten Konfliktmanagement gehört es, Lösungen anzustreben und zu entwickeln, die für alle Seiten ein Gewinn sind. Dafür ist es notwendig, dass sich die Beteiligten Zeit nehmen, ihre eigenen Interessen, aber auch die der Gegenseite abzuwägen. Ein Beispiel, bei dem dies offensichtlich gelungen ist, ist die Entstehung des Hamburger Grundsatzprogramms.

Nicht die Existenz von Parteiflügeln ist also das Problem der SPD. Im Gegenteil: Eine Volkspartei braucht verschiedene innerparteiliche Gruppierungen. Sie können den Wissensaustausch beleben und Andockstationen für Sympathisanten sein. In der Fraktion sind die Flügel wichtige Gremien, um innerparteiliche Debatten und Personalentscheidungen vorzubereiten. Das Problem der Flügelei liegt vielmehr in deren wachsender Eigenständigkeit, im Umgang miteinander und Reden übereinander. In einem Satz: Richtungen und ihre organisierten Flügel können für eine Partei gewinnbringend sein, Parteien in der Partei jedoch nicht.

Die Wertschätzung des Anderen, die Vergewisserung auf die gemeinsamen Ziele und der souveräne Umgang miteinander – das sind die Kriterien für ein erfolgreiches Flügelspiel. In der Sozialdemokratie wurde in der Vergangenheit häufig zu viel Energie für Flügelstreitereien verbraucht. Die Frage mag naiv klingen, aber wie wäre es, wenn man künftig weniger um Macht und Einfluss in der Partei als um Macht und Einfluss für die Partei streiten würde? Für die SPD wäre damit viel gewonnen. «

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