Falsche Diagnose, schlechte Therapie
Der grundlegende Trugschluss der Autoren (mit dem sie natürlich nicht allein dastehen) betrifft das angebliche soziale und steuerliche race to the bottom. Friedrich und Schmedes zufolge setzt der Binnenmarkt die EU-Mitgliedsstaaten „sehr starken Zwängen aus, die mobilen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit durch niedrige Steuersätze zu entlasten, ... so dass die finanzielle Basis für wohlfahrtsstaatliche Leistungen schwindet“. Das alles hört sich überzeugend an – bis man sich die einschlägigen Statistiken anschaut, die auf der Internetseite von Eurostat frei zugänglich sind.
Für die vergangenen zehn Jahre wie auch für kürzere Perioden trifft keine der Behauptungen von Friedrich und Schmedes zu. Weder in der Gruppe der 15 „alten“ Mitgliedsstaaten, noch in der Europäischen Union insgesamt ist der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt gesunken; effektiv sind diese Ausgaben sogar angestiegen. Dasselbe gilt für Sozialleistungen sowie für die Gesamtbesteuerung von Einkommen und Vermögen.
Viele Mitgliedsstaaten der EU sind bislang ohne Weiteres in der Lage, einen generösen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren und – sogar im derzeitigen weltwirtschaftlichen Klima – ein hohes Maß an Gleichheit zu schaffen. Dies gilt nicht nur für die nordischen Länder, sondern auch für die mittelosteuropäischen. Die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und Slowenien weisen allesamt nur geringe Ungleichheitsraten auf (ihre relativen Armutsquoten sind nach den skandinavischen die niedrigsten in der EU) und verbinden diese zumeist mit vergleichsweise kräftigem Wirtschaftswachstum. Sogar die angeblich ultraliberale slowakische Einheitssteuer in Höhe von 19 Prozent bringt von den Unternehmen den gleichen Betrag ein wie die französische Körperschaftssteuer (die deutschen Vergleichszahlen sind nicht verfügbar). Der Grund ist einfach: In der Slowakei ist der Steuersatz niedrig, aber die Bemessungsgrundlage breit. Das Ergebnis ist kaum anders als in einem System mit hohen Steuersätzen und vielen Ausnahmen.
Fragt einfach mal die Dänen oder Tschechen!
Mit anderen Worten: Die derzeitige Form dezentralisierter Politikgestaltung führt keineswegs zu einer ruinösen Zerstörung des Wohlfahrtsstaats. Man frage einfach mal die Dänen oder die Tschechen! Im Gegenteil ist das Prinzip der Vielfalt Europas Stärke. Es ermöglicht den einzelnen Ländern, individuelle Wirtschafts- und Sozialmodelle aufzubauen, die ihren jeweiligen Stärken und Fähigkeiten am besten entsprechen. Beispielsweise beruht das dänische Modell eines liberalisierten Arbeitsmarktes in Kombination mit großzügigen Sozialleistungen und effektiven Aktivierungsmaßnahmen auf einem außergewöhnlich handlungsfähigen Staat, wie man ihn beispielsweise in Zentral- oder Südeuropa nur schwer findet. Die mittelosteuropäischen Länder hingegen haben ein System geschaffen, das die Besteuerung des Konsums betont, um das Sparen und Investitieren zu stärken. Zusammen mit dem hohen Bildungsstand der Bevölkerung hat dieses Modell schnelles Wachstum und geringe Ungleichheitsraten zugleich ermöglicht.
Sie brauchen sich in allen diesen Dingen gar nicht auf mich zu verlassen. Sowohl statistische Daten als auch wissenschaftliche Forschung belegen, dass die Fähigkeit der Nationalstaaten, ihre Wohlfahrtssysteme nach je eigenen Vorlieben auszugestalten weder durch die Globalisierung noch durch die europäische Integration in Mitleidenschaft gezogen wird. Tun wir dennoch einmal so, als hätten Peter Friedrich und Hans-Jörg Schmedes ein echtes Problem beim Namen genannt. Selbst dann wäre ihr Vorschlag, ein Kerneuropa zu bilden, kein Beitrag zu dessen Lösung. Und zwar aus folgenden Gründen:
Will die große Mehrheit ein Kerneuropa?
Die beiden Autoren führen aus, dass im EU-Ministerrat die meisten Entscheidungen im Bereich des Binnenmarktes mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. Dagegen gelte in der europäischen Sozialpolitik das Abstimmungsprinzip der Einstimmigkeit, so dass jedes einzelne Mitgliedsland Fortschritte blockieren könne. Deshalb wollen sie ein Kerneuropa installieren, um die wenigen Länder zu umgehen, die im Weg stünden, während angeblich die große Mehrheit der Mitgliedsstaaten eine Politik wolle, wie sie die Autoren wünschen.
Ich hatte die Ehre, von 2004 bis 2006 die Slowakei im Ministerrat Beschäftigung und Sozialpolitik zu repräsentieren. Die soeben beschriebene Situation mag vor dem Jahr 2004 bestanden haben, als wenige skeptische Staaten wie Großbritannien, Irland und Dänemark einer integrationsfreudigen und „sozialistischen“ Mehrheit gegenüberstanden. Die Osterweiterung jedoch hat die Kräfteverhältnisse im Ministerrat substanziell verändert; sie sind heute zwischen beiden Seiten ziemlich ausgeglichen. Der beste Beweis dafür ist der Umstand, dass sich der Rat in den vergangenen vier Jahren weder auf eine Neufassung der Arbeitszeitrichtlinie noch auf eine Richtlinie zum Schutz von Leiharbeitnehmern einigen konnte. Bei beiden Richtlinien genügt eine qualifizierte Mehrheit, doch bisher konnte keiner der Blöcke genügend Stimmen aufbieten, um die eigene Version zu verabschieden. (Paradoxerweise wären die „liberalen“ Kräfte bei der Auseinandersetzung um die Arbeitszeitrichtlinie einmal fast siegreich gewesen, hätte nicht die Kommission ihr Recht genutzt, die Entscheidung zu blockieren.)
Selbst wenn man dies alles beiseite lässt: Würde man die wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Regulierungen, die sich die Autoren wünschen, allen EU-Mitgliedsstaaten aufzwingen, so würde dies allein die strukturellen Unbeweglichkeiten ihrer Volkswirtschaften erhöhen, ohne dass zugleich mehr Gleichheit oder mehr Beschäftigung erzielt würde. Dass große Teile der Eurozone, besonders Deutschland, Italien und Frankreich in den vergangenen 20 Jahren nicht in der Lage waren, ihre hohe Arbeitslosigkeit zu senken, hat nichts mit dem Beitritt Tschechiens oder der Slowakei zur EU oder mit dem Zustand des dänischen Wohlfahrtssystems zu tun, sondern mit Defiziten in den Volkswirtschaften der großen Länder.
So kommt die Verständigung nicht voran
Sowohl die von Friedrich und Schmedes präsentierte Diagnose als auch die von ihnen vorgeschlagene Therapie ist falsch. Aber warum führen offensichtlich erfahrene und intelligente Politiker dann solche Debatten? Die Antwortet lautet, dass hier die Angstgefühle und die Ungeduld der deutschen Bevölkerung nach einer schwierigen Phase der strukturellen Anpassung angesprochen werden. Ich kann verstehen, weshalb die deutschen Wähler nervös sind. Aber ich kann es nicht gutheißen, dass Politiker diese Stimmung mit einem Populismus ausnutzen, der im Gegensatz zu Vernunft und Tatsachen steht. Solch ein Ansatz bringt weder die Verständigung zwischen den Mitgliedsstaaten noch die europäische Integration voran.
Aus dem Englischen von Michael Miebach