Führung, Fortschritt, Neue Mitte?

Nicht erst seit dem 11. September wächst die Ernüchterung angesichts fragwürdiger Fortschrittsversprechen. Modernisierer wie Tony Blair und Gerhard Schröder sollten erkennen, dass zur politischen Führung auch gesunde Skepsis gehört

Der Schock des 11. September verebbt, der Alltag ist wieder eingekehrt, der Krieg in Afghanistan rückt langsam in den Hintergrund. Das entspricht menschlicher Natur. Life must go on. Doch heißt das nicht, dass alles wieder so ist, wie es vorher war. Die Stimmung hat sich gewandelt. Es wird mehr konsumiert und weniger gespart, viele Menschen leisten sich lieber einen schönen Urlaub oder eine besondere Anschaffung. Andere entscheiden sich zu schneller Heirat, pflegen sehr viel bewusster menschliche Kontakte, ob in Familie, Freundeskreis oder Nachbarschaft. Beides, die Suche nach Geborgenheit und Gemeinschaft wie die hedonistische Lust am Konsum, entspringt der gleichen Stimmungslage: Man lebt kurzfristiger, mehr für den Augenblick, verschiebt weniger in die Zukunft. Besonders bemerkenswert: selbst die Kirchen, jahrelang arg gebeutelt vom Desinteresse der säkularisierten Gesellschaften, verzeichnen wieder wachsenden Zuspruch. Offenkundig handelt es sich nicht bloß um eine kurzfristige Reaktion auf bedrückende Ereignisse wie Terror und Krieg. Vielleicht muss vor dem Hintergrund dieses Wandels einmal neu über die Bedingungen und Anforderungen nachgedacht werden, denen politische Führung gerecht werden sollte.

Das jüngste Eurobarometer, das auf der Befragung von 16.000 Menschen in den 15 Mitgliedstaaten der EU beruht, verzeichnet eine erstaunliche Veränderung. Während der Glaube wieder an Boden gewinnt, wird der Ersatzreligion unserer Epoche, den Verheißungen von Wissenschaft und Technologie, mit wachsender Skepsis begegnet. 45 Prozent der Befragten meinen, dass unsere Gesellschaften zu sehr auf Wissenschaft und zu wenig auf den Glauben bauen, nicht einmal 37 Prozent widersprechen. Zugleich bekunden über 60 Prozent ihr Unbehagen über das rasante Tempo des technologischen Wandels.

Die bedrohliche Vision der Eugenik

Aldous Huxley, einer der großen Denker des vergangenen Jahrhunderts, wäre angesichts dieser Befundes kaum überrascht. Vor 70 Jahren zeichnete er in seiner futuristischen Novelle Brave New World ein Bild von der Zukunft, das schon damals nicht nur dazu angetan war, die Vorfreude auf die schöne neue Welt zu wecken, die uns wissenschaftlicher Fortschritt bescheren würde. Huxley sorgte sich wie viele andere Progressive jener Zeit um die genetische Beschaffenheit seiner Nation, angesichts einer Unterklasse, die sich rasant vermehrte. Heute wirkt seine Vision von Eugenik, genetischer Auslese und Züchtung im Interesse gesellschaftlicher Stabilität nicht nur äußerst bedrohlich; sie ist von brennender Aktualität: Die Humangenetik befindet sich auf scheinbar unaufhaltsamem Vormarsch. Die Vertreter dieser wissenschaftlichen Zunft sind fest davon überzeugt, dass die Zeit für sie arbeitet. Weshalb es nicht bei zaghaften Schritten wie dem therapeutischen Klonen und Stammzellenforschung bleiben werde. Wie formulierte es Tony Blair vor der Entscheidung, grünes Licht zu geben für die nächste Etappe? "Bevor wir der Wissenschaft Grenzen ziehen, müssen wir wissen was sie zu leisten vermag."

Wie man mittlerweile weiß, denkt Gerhard Schröder ganz ähnlich. Die beiden sozialdemokratischen Reformer handeln in der Überzeugung, dass verantwortungsbewusste Führung nicht nur angesichts terroristischer Bedrohungen nach harten, möglicherweise auch unpopulären Entschei-dungen verlangt. Ihr Glaube an die Unabänderlichkeit wie den Segen technologischer Innovation ist ungebrochen und steht ganz in progressiver - oder sollte man sagen: altlinker? - Tradition.

Bei der Humangenetik wissen sie sich noch im Einklang mit der Mehrheit, die trotz aller Fehlschläge weiterhin auf eine bessere Zukunft hofft. Das ist verständlich. Wer wünschte sich nicht, dass Geißeln der Menschheit, unheilbare Krankheiten wie Krebs, Alzheimer und Multiple Sklero-se, endlich besiegt werden? Doch Unbehagen und Furcht sind mittlerweile zu ständigen Begleitern wissenschaftlich-technologischen Fortschritts geworden. Wir fürchten, der Geist, einmal aus der Flasche entwichen, werde sich nicht mehr zurückholen lassen - wie die Pollen von jenem gentechnisch modizierten Mais, der in Mexiko viele Kilometer weit über die Pufferzonen um die Felder herum hinaustrieb. Die Angst vor irreversibler Genvermischung, die manche Befürworter dieser Technologie ganz kühl einkalkulieren, erweist sich bislang als entscheidendes Hindernis für die hartnäckigen Bestrebungen der Biotech-Industrie, ihre Produkte in Europa endlich im großen Stil durchzusetzen.

Die Blütenträume sind ausgeträumt

Die Ernüchterung der Menschen gegenüber dem Versprechen technologischen Fortschritts hatte also schon eine ganze Weile vor dem 11. September eingesetzt. Zu viele Verheißungen haben sich nicht erfüllt. Dazu passt, wie abrupt die Blütenträume der neunziger Jahre zerstoben sind. Eine neue krisenfeste Weltökonomie, unterfüttert durch die permanente Revolution der Informationstechnologie ist nicht entstanden. Selbst gutwilligen Konsumenten ging der Atem aus angesichts der Geschwindigkeit, mit der immer wieder neue Produkte, Formate und Spielereien auf den Markt geschleudert wurden. Wir mussten mit ansehen, wie die Internetblase platzte, wie Telekommunikations- und Medienkonzerne ins Wanken gerieten, vernahmen ungläubig den Bankrott von Enron, dem zweitgrößten Unternehmen der Welt. Der faustische Pakt, den Forschung und Kommerz eingingen und auf den Neoliberale wie Neue Mitte drängten, schuf allzu häufig "Weiße Elefanten" und etablierte, zum Schaden unabhängiger Forschung, das neue Phänomen von corporate science: eine Wissenschaft also in symbiotischer Verquickung mit der Wirtschaft. Was uns noch mehr hype, aufgeblasene Behauptungen über neue Technologien bescherte.

Das Janusgesicht der Wissenschaft

Das alles hat zu einem Vertrauensverlust geführt und uns argwöhnischer werden lassen. Die Wissenschaft mag uns längeres Leben oder ewige Jugend versprechen. Doch zugleich sehen wir schaudernd, dass die Forscher, zu denen wir einst ehrfurchtsvoll aufblickten, in ihren Laboratorien genauso gut Anthrax und andere tödliche Substanzen zu produzieren vermögen und dass eine verwissenschaftlichte Agrarwirtschaft von einem selbst verschuldeten Desaster ins andere taumelt. Kein Wunder also, dass die westlichen Gesellschaften plötzlich sehr viel schärfer das Janusgesicht der entfesselten Wissenschaft wahrnehmen.

Vor 400 Jahren konstatierte Francis Bacon, es sei Aufgabe der modernen Wissenschaft, das "Glück der Menschheit" zu mehren. Wer wollte ernstlich bestreiten, dass seither eine Menge erreicht wurde? Wir genießen mehr Gesundheit und Komfort, Wohlstand und Sicherheit. Doch der Zwiespalt der Gefühle will nicht weichen, weil wir eine Erfahrung inzwischen immer wieder gemacht haben: Die Schattenseiten wissenschaftlicher In-novationen offenbaren sich oft erst im nachhinein. Die Spaltung des Atoms schuf nicht, wie versprochen, saubere Energie im Überfluss; Brutreaktoren samt Plutoniumkreislauf erwiesen sich als vom Staat hochsubventionierte teure Schimäre. Wohin mit den immer größeren Bergen hochradioaktiven Mülls, das wissen wir bis heute nicht. Die abgebrannten Kernbrennstäbe, die in Kühlbecken lagern, werden womöglich auf Jahrhunderte rund um die Uhr bewacht werden müssen, was eine historisch bislang noch niemals erlebte staatliche Kontinuität voraussetzt. Dabei werden Regierungen, Militär und Geheimdienste nun schon seit Jahren vom Albtraum nuklearen Terrors mit "schmutzigen" Sprengsätzen umgetrieben.

Am Internet verdient nur die Pornoindustrie

Am Internet, von Web Gurus und technologieverliebten Regierungschefs überschwenglich als Instrument der globalen Verständigung, der Demokratie und des blühenden E-Kommerzes gepriesen, verdient eigentlich nur die Pornoindustrie eine Menge Geld. Zugleich werden über das WWW fundamentalistischer Hass, bizarre Verschwörungsphantasien und Bombenrezepte verbreitet, was gewiss nicht im Sinne der Erfinder ist. Dank ausgefeilter Überwachungskameras in Ver-bindung mit Computern mausern sich die Bewohner der Städte zu unfreiwilligen Darstellern in endlosen Big Brother Videos - eine Entwicklung, die Georg Orwell voraussah.

Fortschrittsoptimismus wirkt heute naiv

Wie privilegiert doch die Menschen in den fünfziger und sechziger Jahren waren! Damals konnten sie noch schwelgen im ungebrochenen Glauben daran, Wissenschaft und Technologie würden tatsächlich eine "Schöne Neue Welt" schaffen. Von Amerika aus verbreitete sich unbändige Zuversicht. Der Optimismus jener Jahrzehnte, den mit dem glühenden Bekenntnis zur friedlichen Nutzung der Kernenergie auch das Godesberger Programm der SPD atmet, wirkt heute beinah rührend in seiner Naivität: Städte sind klimagesteuert und mit rollenden Bürgersteigen ausgestattet. Autos gleiten lautlos und garantiert kollisionsfrei dahin, weil fehlerfreie Computer über den Verkehr wachen. Roboter verrichten alle lästige Hausarbeit. Kühlschränke, Herde und Videogeräte reagieren auf Zuruf. Im Garten stehen private Fluggeräte, durch die sich alle Stauprobleme erledigen. Und natürlich kann sich, wer will, eine Wohnung in einer der zahllosen Unterwasserstädte beziehen oder sich gar auf dem Mond eine Bleibe suchen.

Dieser rosarote Blick in die Zukunft stammt von der Nasa, der amerikanischen Weltraumbehörde. Im Brustton der Überzeugung verkündete sie 1964, spätestens in 2000 werde es nicht nur bemannte, feste Raumstationen auf Mond und Mars geben sondern dazu noch ganze Städte und Tourismuskomplexe. Eine Prognose, die die enormen Schwierigkeiten der Nasa, auch nur unbemannte Sonden auf dem roten Planeten zu landen, umso peinlicher erscheinen lässt.
Viele haben sich geirrt - Wissenschaftler, Ingenieure, Futurologen und Technikenthusiasten, häufig solche mit Namen, angesichts derer wir vor Ehrfurcht erstarren. Erstaunlich oft wurde menschlicher Erfindungsreichtum unterschätzt. Albert Einstein räumte 1932 der Atomenergie nicht die geringsten Aussichten ein. Thomas Edison, Erfinder des Plattenspielers und der Glühbirne, beschied 1922, die Radiomanie werde verebben, das Medium habe keine Chance. Und Bill Gates erklärte 1981, ein Computergedächtnis von 640 Kilobytes werde für jedermann ausreichend sein - womit er sich um dem Faktor 100 irrte. Arthur C. Clarke, der große alte Mann der Science Fiction, hatte allerdings Recht, als er 1945 prophezeite, binnen weniger Jahrzehnte würden Satelliten die Erde umkreisen.

Nebeneffekte, chronisch unterschätzt

Doch eines sticht in der Fülle von Voraussagen hervor: Die schädlichen Nebeneffekte wissenschaftlicher Durchbrüche wurden zumeist übersehen oder maßlos unterschätzt, deren Nutzen für die Menschheit hingegen zumeist gewaltig überschätzt. Ein besonders drastisches Beispiel ist die Arbeitszeitverkürzung, die uns der Vormarsch der Technologie bringen sollte. Gerade mal zwei bis drei Stunden pro Tag seien noch vonnöten, sagten die Futurologen in den sechziger Jahren, und natürlich werde das Büro völlig papierlos sein. Das erzähle man einmal den Knechten des cyberage, die 50 Stunden pro Woche in Callzentren, Büros oder vor Bildschirmen hocken, gehetzt von Voicemail, E-Mail, Telefon und Fax, und dennoch unter Papierbergen ersticken!

Man sollte meinen, Experten und Ingenieure seien angesichts solcher Enttäuschungen inzwischen womöglich zurückhaltender geworden. Doch weit gefehlt: Ihr Glaube an die Allmacht technologischer Neuerung erweist sich als unerschütterlich. Ja, sie werden noch kühner. Unsere Helfer, die allgegenwärtigen Roboter, die uns eigentlich längst umhegen sollten, kommen nun eben ein paar Jahre später, so etwa ab 2005, und bald danach wird auch das Holodeck im Wohnzimmer zur Grundausstattung zählen, das schlagartig, im Stil von Startrek, eine völlig neue Umgebung zu schaffen vermag. Wer wünschte sich nicht solch ein Medium, mit dem man dem langweilig-vertrauten Wohnzimmer gelegentlich entfliehen könnte? Unternehmen werden im Kundendienst schon in ein paar Jahren nur noch stets freundliche synthetische Persönlichkeiten mit angenehmen Stimmen einsetzen, die wir als Roboter nur dann zu erkennen vermögen, wenn wir versuchen, sie ärgerlich zu machen. Der Futurologe Lee Silvas von der Princeton University in den Vereinigten Staaten, dem wir diesen Ausblick verdanken, geht noch weiter: Genetisches Engeneering werde bald schon eine Superrasse von Menschen hervorbringen: klüger, langlebiger, vor allem gesünder als die Normalverbraucher, die entweder nicht wollen oder sich eine genetische Aufmöbelung nicht leisten können. Silvas muss seinen Huxley gelesen haben.

Werden die Maschinen schlauer sein als wir?

Doch es passt zur skeptischen Grundstimmung nach der Jahrtausendwende, dass mittlerweile selbst Futurologen zu dunkel eingefärbten Schlüssen gelangen. Etwa im Blick auf die künstliche Intelligenz, die in ein paar Jahren schon unserer Gesellschaften prägen und - selbstverständlich - verbessern soll. Artificial intelligence könnte sich für unsere Spezies als durchaus zweischneidige Angelegenheit erweisen, sagt Nick Burton von der London School of Economics. Selbst wenn sich Homo Sapiens, was ihm natürlich dringend angeraten wird, Mikroprozessoren ins Gehirn einpflanzen lässt, um mit superschlauen Robotern mithalten zu können - womöglich wird es trotzdem nicht reichen. Die künstlichen Intelligenzbestien könnten uns, meint Burton, entweder ignorieren, als zu schlicht und unterbelichtet. Oder sie werden sich entschließen, uns kurzerhand auszumerzen, wegen mangelnder Effizienz.

Hoffen wir das Beste. Hoffen wir darauf, dass sich die Zukunftsforscher irren mögen - wie so häufig in der Vergangenheit. Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Wir könnten uns dazu durchringen, die Anfälligkeit der modernen Risikogesellschaft zu verringern. Mehr Überlegung, auch die Bereitschaft, eine langsamere Gangart einzuschlagen angesichts ehrgeiziger Projekte und Innovationen, die uns Technikenthusiasten in den Unternehmen im Namen von Wohlstand, Wachstum oder leichterem Leben dringend ans Herz legen. Die Neue Mitte hat hier noch einen Lernprozess zu absolvieren. Tony Blair und Gerhard Schröder erwecken gelegentlich den Eindruck, sie seien allzu leicht beeindruckbar von Wissenschaftlern und Topmanagern, die unter Berufung auf Wachstumschancen und Fortschritt eine neue Flasche entkorken möchten, um den Geist entweichen zu lassen. Man mache sich nur einmal die Mühe, die euphorischen Vorworte von Publikatio-nen über Internet, E-Kommerz und den Segen von Computern zu studieren.

Schon jetzt lässt sich eines mit Gewissheit voraussagen: Die Konflikte über so genannte sanfte Themen wie das Klonen, die Stammzellenforschung oder genetisch veränderte Nahrungsmittel werden in Zukunft an Bedeutung und Schärfe gewinnen und zu neuen politischen Allianzen jenseits von links wie rechts führen. Unter diesem Vorzeichen kann verantwortungsbewusste politische Führung auch etwas anderes bedeuten, als immer nur bereitwillig jenen den Weg zu ebnen, die neue Segnungen für die Menschheit versprechen, aber allzu oft nichts über Risiken und Nebenwirkungen sagen. Manchmal lohnt es sich, nein zu sagen oder zumindest auf die gründliche Prüfung und Debatte zu pochen, um negative Folgen zu erkennen und moralische Implikationen auszuloten. Sonst finden wir uns eines Tages in einer gar nicht so schönen neuen Welt wieder, wie wir sie eigentlich keineswegs gewollt haben.

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