Fies? Ja. Aber großartig.

Volker Zastrow zeigt am Beispiel der SPD in Hessen, warum Verschlossenheit kein gutes Zukunftsrezept ist

Als Volker Zastrows Buch Die Vier: Eine Intrige auf meinem Schreibtisch landete, begleitet von einem engagierten Empfehlungsschreiben seines Verlegers Alexander Fest, dachte ich: „Oh nein, bitte nicht.“ Bitte kein Heldengedenkbuch über Dagmar Metzger, bitte keins über Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts, jene vier hessischen SPD-Landtagsabgeordneten, die im November vergangenen Jahres die Wahl Andrea Ypsilantis zur hessischen Ministerpräsidentin verhinderten, weil sie in deren Bereitschaft, sich von der Linkspartei wählen zu lassen, den Bruch eines Wahlversprechens sahen. Womit sie Recht hatten.


Warum wollte ich so etwas nicht lesen? Zum einen, glaube ich, aus einer bei näherer Betrachtung etwas Besorgnis erregenden journalistischen deformation professionelle. Das war doch alles Monate her, erledigt, vergessen, ein Provinzdrama. Wer wollte da überhaupt noch mehr als 400 Seiten an Details wissen? Zum anderen wohl aus einer automatischen, wenig reflektierten SPD-Loyalität: Waren dieser Typ und diese drei Frauen nicht einfach undisziplinierte Egomanen, die sich auf Kosten der Partei profilierten, ihr in schwierigen Zeiten das einzige brauchbare Machtmodell ruinierten und sich dafür von Journalisten, nun auch von diesem, ausgiebig loben ließen?


Not so. Dieses Buch ist kein Lob. Es ist eine bewegend erzählte Geschichte über Zerrissenheit, über extreme Widersprüche, die ebenso sehr in einer einzigen Person wie in einer Partei toben und kämpfen können. Es ist der Beweis dafür, dass die Neuigkeitensucht des Medienbetriebes unendlich viel langweiligere Ergebnisse produziert als die tiefgehende Studie. Es ist überdies wunderbar geschrieben, bisweilen wahnsinnig komisch, wenn auch die Opfer der Komik darüber etwas gequält lächeln dürften. So heißt es etwa über den Frankfurter SPD-Vorsitzenden Gernot Grumbach, einen der Haupt-Gegenspieler des selbstdesignierten Parteirebellen Walter: „Grumbach hatte als Studienfach Germanistik gewählt und mit einer Arbeit über das Spätwerk Karl Mays abgeschlossen. Seine romantische Ader lebte er nun womöglich in der Politik aus, aber sichtbar wurde das nicht. ... Grumbach war so charismatisch wie ein gut durchgetrocknetes Scheit Fichtenholz und hatte jeden seiner Karriereschritte dem Leben gleichsam einzeln abgezwackt. ... Während Walter noch mit 40 einen jungenhaften Habitus pflegte, sich betont leger kleidete und auch bei offiziellen Anlässen bisweilen das Jackett mit baumelnden Ärmeln einfach über die Schultern hängte, verkörperte Grumbach mit seinem löwensenfbraunen Sakko über schwarzen Rollkragenpullovern aus untergegangenen Perlonarten und einem Gesichtsausdruck wie Löschpapier die Unsterblichkeit des sozialdemokratischen Nebenbeamtentums.“


Fies? Ja. Aber großartig! Und ein schöner Kontrast zu den vielen richtungslosen Texten des standpunktfreien Schönheitsjournalismus, der zwar auch von persönlichen Details überquillt – der Verkehrsminister schnallt sich für eine längere Autofahrt an, oh la la, was mag das jetzt bedeuten? –, aber mit diesen Details gar nichts auszudrücken weiß.


Die moralische Situation, die Volker Zastrow beschreibt, ist komplex: So sehr im Prinzip in einer Fraktion Mehrheitsentscheidungen gelten müssen (weil keiner der gewissensfreien Abgeordneten sein Mandat nur durch eigene Großartigkeit errungen hat), so sehr steht das zur Debatte, wenn es bei der fraglichen Entscheidung um den klaren Bruch eines Wahlversprechens geht. Sicher, schöner wäre es gewesen, wenn Metzger, Walter, Everts und Tesch ihre Absicht, Ypsilanti nicht mitzuwählen, auf dem regulären Vorwahl-Parteitag kundgetan hätten und nicht auf einer Pressekonferenz kurz vor der entscheidenden Landtagssitzung. Es ist aber gerade eine der großen Leistungen von Zastrows Buch, sichtbar zu machen, welch ungeheuren Druck die Ypsilanti-Anhänger auf jeden ausübten, der auch nur im Verdacht stand, den Linkskurs nicht 130-prozentig mitzutragen: Die Betroffenen „... hatten berichtet, dass der demokratische Prozeß in der Partei gestört, die Einigkeit unecht und die Geschlossenheit in Wirklichkeit Verschlossenheit war.“

„Teeren, federn, vierteilen“

Zumal Dagmar Metzger, die ihre Entscheidung gegen Ypsilantis Experiment bereits im März 2008 und also definitiv rechtzeitig öffentlich gemacht hatte, wurde in der hessischen SPD geschmäht und geächtet. Die anderen drei Abgeordneten wurden etwas später des Verrats, der Charakterlosigkeit, des psychosozialen Defektes geziehen; einzelne Genossinnen äußerten die Auffassung, es sei ein schöner Gedanke, dass man solche Leute im Mittelalter „geteert, gefedert und gevierteilt“ habe. Man kann nach Lektüre des Buches also einigermaßen verstehen, warum eine offene Parteitagsdiskussion keine ganz einfache Sache gewesen wäre.


Dieses Schließen der Reihen, dieser Hass auf Andersdenkende, diese Obrigkeitsliebe vieler SPD-Funktionäre, die oft lieber gehorchen und jubeln als selber denken wollen, ist übrigens kein Phänomen, das sich auf Hessen beschränkt. In einer ähnlich ungesunden Atmosphäre fand Anfang der neunziger Jahre die Aufarbeitung der SPD-Anteile an der Barschel-Affäre statt.


Die überraschende Pointe von Zastrows Buch – zwei der Akteure, Walter und Everts, hatten Ypsilanti offenbar erst in jenen zweiten Wahlanlauf getrieben, bei dem sie ihr dann gewissenstränenreich die Gefolgschaft verweigerten – nimmt man vor diesem Hintergrund interessiert als zusätzliche menschliche Arabeske zur Kenntnis. Aber sie erschüttert und bedrückt den Leser nicht so sehr wie die in Stresssituationen aufflackernde Bereitschaft einer Funktionärsschicht, Andersdenkende nach allen Regeln der Kunst platt zu machen. Regeln, Verhaltensweisen, die ja im Übrigen auch nicht verhindert haben, dass in einem so selbstverliebten, sich moralisch überlegen wähnenden Landesverband extrem schwankende Charaktere Fuß fassen und wichtig werden konnten. Verschlossenheit, Diskussionsverbot, entnehmen wir der Lektüre, sind keine Erfolg versprechenden Zukunftsrezepte für eine Partei in einem historischen Tief: weder im Bund, noch in Hessen. Oder in irgendeiner anderen Provinz.

Volker Zastrow, Die Vier: Eine Intrige, Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2009, 415 Seiten, 19,90 Euro

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