Finnland ist weit mehr als Pisa
Alles erinnert ein wenig an Brandenburg, doch wir sind in Mittelfinnland, genauer gesagt in Jyväskylä. Was macht Finnland, was macht eine Region wie Jyväskylä so interessant für Brandenburg? Gemeinsam haben beide die Erfahrung, dass nach jahrelanger relativer wirtschaftlicher Stabilität alles anders kommen kann. Dass die Wirtschaft mit unvorstellbarer Härte und Geschwindigkeit einbrechen kann und vormals richtig Geglaubtes falsch ist.
Das Beispiel Finnland lehrt aber auch, das wirtschaftlicher Aufbruch und Erfolg möglich sind. Die Arbeitslosigkeit ist heute nur noch halb so hoch wie Mitte der 1990er Jahre, Finnland gehört zu den wachstumsstärksten Ländern Europas, pro Kopf liegt das Bruttosozialprodukt mittlerweile höher als in Deutschland. Seit Mitte der 1990er Jahre wächst Finnland schneller als der EU-Durchschnitt. In der Wettbewerbsfähigkeit hat sich das Land laut Weltwirtschaftsforum von Platz 25 auf Platz 1 vorgearbeitet. Nokia ist der Inbegriff des finnischen Wunders und heute an jedermanns Ohr. Wer kannte vor zehn, zwanzig Jahren schon irgendein finnisches Produkt?
Jyväskylä - seit 20 Jahren Potsdams Partnerstadt - gehört heute zu den drei oder vier finnischen Boomregionen. Was haben die Finnen anders gemacht? Was lässt sich vom finnischen Beispiel lernen? Und vor allem: Was können Regionen tun, um in der globalen Wirtschaft mitzuhalten? Wie können sie Entwicklungen beeinflussen, die vermeintlich nicht oder kaum zu steuern sind? Manch einer hat von Finnland schon durch die Pisa-Studie gehört. Doch Finnland ist weit mehr als Pisa: Faszinierend ist, wie es dort gelingt, günstige Wechselwirkungen zwischen guter Bildung und Ausbildung, sozialer Sicherheit und hoher Familienorientierung einerseits sowie wirtschaftlicher und technologischer Innovation andererseits zu organisieren.
Zuerst fällt einem die positive Stimmung auf
Kommt man heute nach Jyväskylä, fällt einem als erstes die positive Grundstimmung auf. Die ganze Stadt ist in Bewegung. Jyväskylä ist für deutsche Verhältnisse eine junge Stadt: Erst 1837 wurde sie gegründet. Kurz danach kam die Universität dazu, die 1994 um eine Fachhochschule ergänzt wurde. Und Jyväskylä wächst. Mittlerweile hat die Stadt über 80.000 Einwohner, davon etwa 20.000 Studenten.
Ihr Bürgermeister ist für Schulen, für Kindergärten und die Gesundheitsversorgung verantwortlich. Und für regionale Wirtschaftsförderung. Jyväskylä hat sehr früh erkannt: Allein mit Holz - und davon gibt es wirklich reichlich - lässt sich die Zukunft nicht mehr gestalten. Die Stadt hat in ihren Studenten einen "Scheck" auf die Zukunft entdeckt. Die Universität wurde ausgebaut - Nanotechnologie, Physik und Psychologie gehören heute zu den wichtigsten Standbeinen des Hochschulbetriebes in Jyväskylä und machen die Universität zu einer der größten und begehrtesten in Finnland.
Doch damit nicht genug. Die Hochschulen sind aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft ausgezogen. Nichts repräsentiert dies so sehr wie Agora. Hinter dem griechischen Namen verbirgt sich ein modernes, lichtdurchflutetes Gebäude am Ufer des Sees von Jyväskylä. Links der Agora hat sich Nokia niedergelassen, im Rücken das alte Unigelände. Am anderen Ufer des Sees - durch eine Brücke verbunden - findet sich der neue Campus der Uni. Das Agora-Gebäude selbst besteht aus drei Teilen. In einem Komplex hat sich die psychologische Fakultät niedergelassen, im Mittelteil wird geforscht, und im dritten Gebäudekomplex haben sich die ersten Firmen niedergelassen. Kirsti Vilkuna, die Chefin der Firma Mobile Mirror liebt diese kurzen Wege. Sie gibt im Agora-Haus Vorlesungen, sie nimmt an Forschungsprojekten teil, und sie leitet ihr eigenes kleines Unternehmen. Sie profitiert von der Nähe und der Zusammenarbeit - und sie sucht sich in ihren Vorlesungen ihre Forschungsmitarbeiter und zukünftigen Angestellten heraus. Agora symbolisiert die Vision von Jyväskylä, die Human Technology City zu sein. Dahinter steht der Anspruch, menschliche Bedürfnisse mit moderner Informations- und Kommunikationstechnologie zu verknüpfen, Technik menschlich zu machen. Es geht darum, Autofahren sicherer zu machen, es geht um Lernen im jungen und fortgeschrittenen Alter. Auf diesen Anspruch der Human Technology City trifft man in Jyväskylä immer wieder.
Wie die Zukunft der Arbeit aussehen kann, lässt sich direkt neben Agora sehen. Nokia ist vor ein paar Jahren nach Jyväskylä gekommen. Fragt man Kauko Kiränen, den Chef von Nokia Jyväskylä, nach dem Grund für den Umzug in die mittelfinnische Stadt, sagt er unumwunden: "Uns war die Nähe zur Uni wichtig." 50 Kilometer zu Forschern, zu Experten, zu Hochschulen waren Nokia zu weit. Verschiedene Komponenten, die rund um den Globus erforscht und entworfen werden, entwickelt Nokia hier zu neuen Produkten. Fotohandys vor allem. Die meisten Arbeitsplätze der Nokia-Leute sehen unspektakulär aus: Bildschirm, Computer, Tastatur, Maus, Papier, Stifte. "Unser größtes Kapital ist, was unsere Leute im Kopf haben", sagt der Nokia-Chef. Der Druck, unter dem die Nokianer arbeiten, ist groß. Die Produktentwicklung dauert zwischen einem halben und anderthalb Jahren, verkaufen lassen sich die neuen Produkte etwa ein Jahr lang. Dann ist alles schon wieder veraltet. Produziert werden die neuen Geräte von Nokia übrigens nicht in Finnland - sondern in Brasilien und China. Auch hier also Arbeitsteilung. Aber Nokia ist sich sicher: "Die Entwicklung können wir am besten, deshalb machen wir sie hier." Und diese Arbeitsplätze, da ist man in Jyväskylä sehr selbstbewusst, werden so schnell nicht nach China oder Indien wandern.
Anlaufstelle für gute Ideen
Ein paar Minuten den See hinunter kommt man zum Jyväskylä Science Park. Der Science Park ist eine Erfindung der Stadt und der umliegenden Gemeinden. Für ihr Projekt konnten sie sowohl Banken und Versicherungen als auch einige große Unternehmen der Region gewinnen. Das Ziel war ganz einfach: möglichst viele der an den Hochschulen ausgebildeten Fachkräfte in der Region behalten und sie für die Wirtschaft der Region gewinnen. Diese Rechnung ist aufgegangen. Etwa 40 Prozent der Hochschulabsolventen der Uni bleiben in Jyväskylä, bei der Fachhochschule ist der Anteil sogar noch höher. Der Science Park hilft dabei. Er ist vor allem eine Anlaufstelle der guten Ideen. Ob Studenten, Absolventen, Doktoranten, Forscher oder Unternehmensmitarbeiter: Wer eine Geschäftsidee hat, kann sich an den Wissenschaftspark wenden. Gemeinsam wird untersucht, ob die Idee für ein Unternehmen gut genug ist. Wenn ja, dann wird der Business Incubator in Gang gesetzt. Das bedeutet Hilfe beim Aufbau des Unternehmens, Hilfe bei der Finanzierung und Hilfe bei Marketing und Management. Bis zu fünf Jahren dauert die Unterstützung durch den Science Park für die neu gegründeten Unternehmen. Pro Jahr landen ein paar Hundert Ideen beim Science Park, etwa 80 bis 100 werden verwirklicht. Und ihre Erfolgsrate kann sich sehen lassen: Vier von fünf schaffen es, sich im rauen Wind der Marktwirtschaft zu behaupten - das ist deutlich mehr als bei anderen Existenzgründern.
Selbständigkeit und Kooperation
Ein wichtiges Credo des Science Park auch hier: Selbständigkeit gepaart mit enger Kooperation, Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Wissenschaft, Hochschule und Forschungseinrichtungen. Das ist die Basis des Erfolgs. Beeindruckend ist aber auch das hohe Maß an Leidenschaft und Engagement für die Sache und für die Region. Die Leute vom Science Park können einen mitreißen, wenn sie über die vielen Projekte und kleinen Firmen reden, die mit ihrer Hilfe entstanden sind. Hier hat man verstanden: Kooperation, lückenlos und mit möglichst vielen Partnern, ist der Schlüssel zu immer neuen Produkten und Dienstleistungen. Von den jungen Projektmanagern stammt auch der Leitspruch: "If you can dream it, you can do it." Zweifel werden geprüft - sollen aber überwunden werden. Der Satz "Wenn du zweifelst, lass es lieber", ist im Science Park in die Mottenkiste der siebziger Jahre verbannt worden.
Zur Unterstützung neuer, kleiner und mittlerer Unternehmen hat Jyväskylä zusammen mit seinen Umlandregionen eine öffentlich-private Partnerschaft ins Leben gerufen: die Jykes Unternehmensförderungs GmbH. Die Leute von Jykes warten nicht auf ihre Kunden, sie gehen zu ihnen hin. Sie sprechen mit den kleinen und mittleren Unternehmen der Region, fragen nach Sorgen, bieten Hilfeleistung an. Dazu gehören Management- und Marketing-Erfahrung, aber eben auch Unterstützung bei der Erschließung neuer Märkte. Dazu hat Jykes sogar eine eigene Repräsentanz in St. Petersburg gegründet - in einer Stadt also, die allein so viele Einwohner wie ganz Finnland hat. Vertreter gibt es auch schon in Polen und Ungarn. Und eine Zusammenarbeit mit Brandenburg, die sich für unsere und die finnischen Unternehmen auszahlen wird, ist anvisiert.
Die Finnen vertrauen auf ihre Stärken
Hinter dem Engagement steht auch hier die Überzeugung, dass das, was den Unternehmen hilft, auch der Region und ihren Bewohnern nutzt. So versucht man frühzeitig, neue Märkte und neue Partner zu entdecken. Denn auch das wissen die Finnen: Allein auf Märkte lassen sich andere Länder nicht reduzieren, vielmehr gilt es, sie als Partner zu gewinnen. Ricardos Theorem der komparativen Kostenvorteile mag ein altes Konzept sein, falsch ist es deswegen noch lange nicht. Selbst für neue Entwicklungen, etwa Sport und Gesundheit mit moderner Kommunikationstechnologie zusammenzubringen, suchen die Finnen gleich zu Beginn Märkte und Partner. Dabei fällt auf: Die Finnen vertrauen auf ihre Stärken und entwickeln daraus Kraft, mutige Schritte zu gehen. Der neueste Zweig des Science Park, eben die Kombination aus Gesundheit und Kommunikation, ist gerade erst aus der Taufe gehoben worden - und schon auf den ersten Messen in China unterwegs.
Überhaupt: China. Daran lässt sich der Unterschied der finnischen Denkweise am besten illustrieren. Heute kommt jedes Gespräch über wirtschaftliche Fragestellungen spätestens nach 20 Minuten auf China - das ist in Deutschland so, aber auch in Finnland. Während die Deutschen vor allem die niedrigen Löhne und abwandernden Unternehmen sehen, fangen bei den Finnen die Augen an zu glitzern. Sie sehen China, aber auch andere Länder - selbst Deutschland - als Absatzmärkte. Aber eben auch als Partner - für Ausgliederungen, für Produktion, für zukünftige Entwicklungen. Kooperation und Fairness stehen im Mittelpunkt.
Ein Leitspruch wie "Connecting people" (Nokia) konnte nur in Finnland entstehen. Dieses Motiv zieht sich durch große Teile der finnischen Gesellschaft. Die Finnen haben bereits vor vielen Jahren erkannt, wo die Zukunft liegt. Und was es dafür braucht. Denn eine brummende Wirtschaft funktioniert auf die Dauer nicht ohne eine ausgeglichene Gesellschaft, ohne stabile Familien, gute Bildung - und das Vertrauen in die eigene Stärke. Alle Elemente bedingen einander - und ein aktiver und aktivierender Staat baut die nötigen Brücken zwischen ihnen.
Eine staatliche Schulaufsicht gibt es nicht
Schon vor vielen Jahren begann Finnland sein Bildungssystem umzugestalten: Die Mehrgliedrigkeit wurde durch eine neunjährige Gesamtschule ersetzt. Die Früchte kann das Land heute ernten. Die Gesamtschulen verfügen über große Eigenständigkeit, die Leitlinien für die gymnasiale Oberstufe passen in eine einfache Broschüre, eine staatliche Schulaufsicht gibt es nicht. Kinder mit Problemen werden frühzeitig betreut und gefördert - in Jyväskylä gibt es seit ein paar Jahren keine Sonderschulen mehr. Das Land kann es sich nicht erlauben, irgendjemanden zurück zu lassen.
Doch die Betreuung von Kindern - und Eltern - setzt schon Jahre vorher an. Neuvola heißt das System auf Finnisch. Werdende Mütter werden in Polikliniken während der Schwangerschaft betreut, untersucht und beraten. Zur Geburt bekommen die Eltern eine Grundausstattung mit Babysachen. Aber auch nach der Geburt sind die Neuvola-Tanten bei regelmäßigen Untersuchungen und Gesprächen für Kinder und Eltern da. Das Wohl des Kindes steht in Finnland im Mittelpunkt. Pflicht ist Neuvola nicht - doch nahezu alle finnischen Familien nehmen das Angebot an. Und der Erfolg schlägt sich unter anderem in einer höheren Schulfähigkeit der Kinder nieder. Die Beratung von Eltern und die Begleitung der Kinder übernehmen nach der Schuleinführung Schulpsychologen und Schulkrankenschwestern. All dies führt zu stabileren Familien, größerem Zusammenhalt - letztlich auch zu geringeren sozialen und gesellschaftlichen Kosten. Die Finnen sagen von sich selbst, dass das Land so klein ist, das sie sich gar nicht leisten können, jemanden zurückzulassen. "Kinder, vergesst nicht, der eigentliche Sinn des Lebens liegt im Miteinander", lautete das Lebensmotto Regine Hildebrandts. Es ist im Grunde genau dieses Prinzip, zeitgemäß erneuert für die dynamische Welt des 21. Jahrhunderts, an dem sich die Finnen heute orientieren.
Die langfristige Strategie ist aufgegangen
Finnland ist es in den vergangenen Jahren gelungen, sich aus einer schweren Wirtschaftskrise herauszuarbeiten und gleichzeitig die soziale Balance im Land zu wahren. Auch die finnische Regierung musste in den neunziger Jahren Einschnitte in das soziale Netz vornehmen. Doch sie hat gleichzeitig neue Türen und Chancen eröffnet. Die langfristig angelegte Strategie - Bildung, Forschung und Kinderbetreuung auszubauen - ist aufgegangen und hat zu einer beispiellosen Innovationsdynamik geführt. Finnland hat sich auf den Weg zur Bildungs- und Kommunikationsgesellschaft gemacht. Während in Deutschland die Forschungs- und Entwicklungsausgaben seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von knapp 3 auf unter 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesunken sind, stieg dieser Anteil in Finnland von 1,5 auf über 3,5 Prozent. Das ist nach Schweden der zweithöchste Anteil weltweit. Heute gibt es mehr wissenschaftliche Übersetzungen aus dem Finnischen ins Deutsche als umgekehrt.
Diese Dynamik ist nicht zuletzt durch Vertrauen in die Kreativität vor Ort entstanden. Für deutsche Verhältnisse wirken die Freiheiten, die Kommunen, Schulen oder Universitäten haben, fast ein wenig anarchisch. Sowohl Schulen als auch Unis suchen sich ihre Lehrkräfte und ihre Schüler oder Studenten selbst aus. Doch diese Freiheiten erziehen auch zu Verantwortung. So verbindet sich in Finnland auf eindrucksvolle Weise Heimatverbundenheit mit Offenheit und Internationalität.
In Finnland lässt sich ein Blick auf die Wirtschaft der Zukunft werfen. Die Arbeitsplätze der Zukunft sehen unspektakulär aus - Aufsehen erregende Einweihungen und Präsentationen groß dimensionierter Anlagen werden wohl der Vergangenheit angehören. Das eigentlich Spannende ist nämlich weder zu sehen noch anzufassen: Es ist die Zusammenarbeit zwischen vielen Beteiligten. Das ganze funktioniert nur mit modernen, flexiblen und unabhängigen Universitäten und Forschungslabors, die die Freiheit haben, sich die besten Leute auszusuchen und unkompliziert mit Unternehmen und anderen Einrichtungen zusammenarbeiten können. Das heißt auch, mehr Vertrauen in die Menschen vor Ort zu legen.
Denn regionale Entwicklungsstrategien gelingen, wenn sie von den Menschen vor Ort selbst gestaltet und als Chance begriffen werden. In diesem Vertrauen in lokale Verantwortung macht uns Finnland viel vor. Gerade am Beispiel Finnlands lässt sich sehen, dass damit gerade nicht der komplette Rückzug des Staates gemeint ist. An vielen Stellen bietet der Staat Hilfe an - deren Qualität so gut ist, dass die Menschen sie gerne annehmen. Finnland zeigt, dass soziale Balance im Land und eine erfolgreiche Ökonomie zusammen gehören. Hohe soziale Standards, ein hoher Lebensstandard und hohe Löhne können zwei Seiten derselben Medaille gehören. Wenn wir unser Land Brandenburg in den kommenden Jahrzehnten zu einer Erfolgsgeschichte machen wollen, werden wir kluge An- regungen aufgreifen müssen, wo immer wir sie finden. Das macht das finnische Beispiel für Brandenburg umso spannender.