Flexibilismus als Ideologie
BASF ist Heimat. Aus dem Jahresbericht 2000 lacht uns der achtköpfige Vorstand entgegen. Neben Alter, Ausbildung und Funktion steht da unter den Fotos der Chemiegewaltigen immer auch eine Zeile, die an Klassenverrat grenzt: Jür-gen Strube, Vorstandsvorsitzender - "32 Jahre BASF". Seine Kollegen Kley und Voscherau sind ebenfalls seit 32 Jahren bei der Firma, gefolgt von den Vorständen Becks ("29 Jahre BASF"), Hambrecht (25), Oakley (24), Marcinowski (22), und - abgeschlagen - Feldmann ("13 Jahre BASF"). Irgendwie klingt das nach Betriebstreue, Jubiläumsgeld und Beamtenkarriere - nicht nach global player, shareholder value und flexiblem Kapitalismus. Trotzdem ist die Badische Anilin- und Soda-Fabrik seit Jahrzehnten ein Weltmarktgigant.
Zerstören, auflösen, verdampfen, entweihen, verdrängen und vernichten - das ist die Arbeit der Bourgeoisie. So steht es im Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels, zuerst veröffentlicht 1848. Begeistert beschreiben die Autoren, wie das Bürgertum durch die Zertrümmerung aller "feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse" und durch das Zerreißen aller Bande zwischen Mensch und Mensch selbst erst die Voraussetzungen für den Kapitalismus und damit schließlich die Befreiung der Proletarier schafft. "Die Bourgeoisie kann nicht existieren", schreiben sie, ohne "sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren."
Der Zwang, sich anzupassen, mobil und flexibel zu sein, nicht zu rasten, nicht zu rosten, sich zu bewegen, schnell, sofort, immer - das ist modern. Peter Sloterdijk formuliert in Eurotaoismus (1989) die "Formel der Modernisierungsprozesse": "Fort-schritt ist Bewegung zur Bewegung, Bewegung zur Mehrbewegung, Bewegung zur gesteigerten Bewegungsfähigkeit. Nur weil dies gilt, kann in der Moderne aus der Kinetik unmittelbar die Ethik hervorgehen. Es gibt keine ethischen Imperative modernen Typs mehr, die nicht zugleich kinetische Impulse wären. Der kategorische Impuls der Moderne lautet: Um uns anhaltend als Fort-schrittswesen zu betätigen, sollen wir alle Zustände überwinden, in denen der Mensch ein bewegungsgehemmtes, ein in sich angehaltenes, ein erbarmungswürdig festgestelltes Wesen ist."
Das sind neue Erscheinungen, sagte Ulbricht
Die extremste Bewegung im Leben unserer Eltern- oder Großelterngeneration war die Flucht, bei noch älteren der Angriffskrieg, der Rückzug, die Heimkehr aus der Gefangenschaft, das Exil. Aber dann möglichst ganz nah zurück an das alte Zuhause. Ich bin aufgewachsen zwei Straßen entfernt von dem Haus, in dem meine Großeltern fünf Tage vor Kriegsende ausgebombt wurden.
1968 wusste Walter Ulbricht, was Karl Marx wusste - und was die Flexibilisierer heute wissen. Auf die Frage einer FDJ-Delegation, wie junge Sozialisten sich auf die Zukunft gut vorbereiten könnten, antwortete der greise SED-Generalsekretär: "Normalerweise wird ein Mensch in den siebziger, achziger Jahren nicht mit einem Beruf auskommen. Da die verschiedenen Wissenschaftszweige sehr eng miteinander verbunden sind, wird man schon sein Wissen so bereichern müssen, dass man zwei oder drei Berufe - wenigstens in den wesentlichen Zügen - kennt. Das sind neue Erscheinungen, auf die ihr euch jetzt schon einrichten müsst."
Aber Zugehörigkeit zahlt sich aus
Bei Besuchen in den Industriebetrieben meines Wahlkreises frage ich die Gesprächspartner, wie lange sie schon im Unternehmen arbeiten. Zum Beispiel in einem Elektronikbetrieb der Rüstungsbranche: Die Mitglieder der Geschäftsführung sind zwischen 19 und 26 Jahre dabei, die Betriebsräte zwischen 10 und 32 Jahre. Allerdings hat das Unternehmen seit 1970 sieben Mal den Namen und fünf Mal den Besitzer gewechselt. Aber Zugehörigkeit zahlt sich aus. Bei der lokalen Siemens-Niederlassung zeigt mir der Geschäftsführer eine Firmenzeitschrift mit Fotos von 40-jährigen Dienstjubilaren. Er selbst ist vor 32 Jahre in das Unternehmen eingetreten, der Betriebsratsvorsitzende noch zwei Jahre früher. Allerdings hat sich in den letzten 25 Jahren die Belegschaft auf ein Drittel reduziert. Da wurden langjährige Zugehörigkeiten flexibel beendet. Das war nicht immer schön.
Ankommen, dabei sein, sich gewöhnen, sich zurechtfinden, sich auskennen, zu Hause und ganz bei sich sein, im Garten sitzen und Würste grillen, die Nachbarn kennen, beim Schulfest helfen, drei Stunden die Woche Übungsleiter spielen, in Ruhe gelassen werden und sehen, was sich ändert - das ist nicht modern. Aber die vormodernen Menschenbedürfnisse nach Sicherheit und affektiver Gemeinschaft, nach Lebenswurzeln außerhalb aller Nützlichkeits- und Tauschbeziehungen sind nicht auszurotten. Denn nur wenn wir festen Boden unter den Füßen haben, können wir auch alles andere. Eine soziale Heimat ist nicht der Feind aller Flexibilisier-ung. Sie ist ihre Voraussetzung.