Förderschule für alle!
Im deutschen Schulsystem gilt das Prinzip, dass Schüler nach Begabung getrennt werden. In Wirklichkeit spielt die soziale Herkunft die größte Rolle. Mehr noch: Kinder mit einer Behinderung, mit Lernschwächen und sozialen Auffälligkeiten werden oft ausgegrenzt. Immerhin sechs Prozent aller Schüler haben einen „besonderen Förderbedarf“. Sie gelten als benachteiligt und werden stigmatisiert – obwohl sie besondere Rechte haben, um die diagnostizierten Nachteile auszugleichen. Ihr individueller Förderbedarf wird anhand von Gutachten zusammen mit den Eltern ermittelt. Dann erhalten sie besondere Lernhilfen und bekommen deutlich mehr Lehrerstunden zugewiesen. Die Schulaufsicht entscheidet über die Schule, die als geeigneter Förderort erscheint. Die meisten betroffenen Schüler besuchen eine „Förderschule“, wie die Sonderschulen inzwischen heißen.
Der Geist der Sonderschule lebt noch
Wenn ein Inspektor der Vereinten Nationen durch Deutschland reist und die Förderschulen als Verstoß gegen die Behindertenkonvention seiner Organisation anprangert, ist die Aufregung groß. Was die Konvention angeht, halten Behindertenverbände schon die deutsche Übersetzung des englischsprachigen Originals für problematisch. In der Übertragung ist von der „Integration“ der Betroffenen die Rede, gemeint sei aber eine umfassender verstandene soziale „Inklusion“. Doch durchdachte politische Konzepte für eine inklusive Schule sind Mangelware. Ein Etikettenwechsel reicht nun einmal nicht aus. Die Umbenennung der Sonderschulen in Förderschulen hat auch keine substanziellen Veränderungen bewirkt.
Das Problem liegt auf der Hand: Wir haben in Deutschland ein hoch selektives Schulwesen. Nach dem vierten Schuljahr werden die Kinder in den meisten Bundesländern auf die unterschiedlichen Schulformen aufgeteilt.Wie soll Inklusion funktionieren in einem System, das auf homogene Lerngruppen ausgerichtet ist und in dem Schüler mit schwächeren Leistungen „abgeschult“ werden?
Bildungsferne Kinder unter sich
Lange galten Sonderschulen als fortschrittlich. Als sie in den sechziger Jahren eingeführt wurden, konnten erstmals alle Kinder in die Schulpflicht einbezogen werden. Anfangs arbeiteten in diesen Schulen ausschließlich so genannte Fachlehrer, die sich etwa nach einer hauswirtschaftlichen oder handwerklichen Ausbildung sonderpädagogisch weiterqualifiziert hatten. Noch heute spielen die Fachlehrer an einigen Förderschulen eine wichtige Rolle, etwa bei pflegerischen Tätigkeiten und der praktischen Anleitung. Doch inzwischen machen Lehrer für Sonderpädagogik den Großteil des Personals aus. Sie hatten im Studium den höchsten Pädagogik-Anteil aller Lehramtsstudenten zu absolvieren und sind in ihrem Eingangsgehalt den Lehrern der Sekundarstufe II gleichgestellt. Da die Lerngruppen an den Förderschulen klein sind und oft in Zwei-Personen-Teams unterrichtet werden, ist die personelle Ausstattung besser als an jeder anderen Schule.
Wie gesagt: Ohne ein spezifisches sonderpädagogisches Gutachten wird niemand an eine Förderschule geschickt. Dennoch sind Kinder aus bildungsfernen Familien und Schüler mit Migrationshintergrund deutlich überrepräsentiert. Die Gründe dafür sind vielfältig. Oft fehlte den betroffenen Kindern die frühe Förderung im Kleinkindalter, etwa logopädische oder bewegungspädagogische Angebote. Die Gesundheitsversorgung war nicht optimal. Auch Fälle von Blutsverwandtschaft der Eltern kommen vor. Hinzu kommt, dass vermeintlich objektive diagnostische Intelligenztests teilweise kulturbasiert oder sprachabhängig sind. Nicht zuletzt vermögen es engagierte und gutsituierte Familien eher, für ihr behindertes Kind einen Platz in schon bestehenden integrativen Kindergärten und Schulen zu bekommen.
Wer eine Förderschule besucht, bei dem wurde der Förderbedarf häufig zu spät festgestellt. Gerade verhaltensauffällige Kinder werden nicht selten schon früh mit einem Kindergartenverbot belegt, ohne dass gezielte Hilfemaßnahmen ergriffen werden. Anschließend schleppen engagierte Grundschullehrerinnen die Schüler ein paar Jahre durch. Die Hilfe von qualifizierten Sonderpädagogen wird meist viel zu spät gesucht.
Schulen für „Lernbehinderte“ gibt es in anderen europäischen Ländern nicht
Allerdings lassen sich nicht alle Förderschulen über einen Kamm scheren. Allein das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, welche Vielzahl unterschiedlicher Einrichtungen nebeneinander besteht:
- - Die meisten Kinder und Jugendlichen besuchen Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“. Früher sprach man von „Lernbehinderten“. Im rechtlichen Sinne sind diese Kinder und Jugendlichen aber nicht behindert, sie haben zum Beispiel keinen Anspruch auf einen Behindertenausweis. Damit ist fraglich, ob sie überhaupt unter die UN-Behindertenkonvention fallen. In vielen anderen europäischen Ländern gibt es diese Form der sonderschulischen Förderung jedenfalls nicht.
- - An den Förderschulen mit dem Schwerpunkt „emotionale und soziale Entwicklung“ (die frühere Sonderschule für Erziehungshilfe) werden diejenigen unterrichtet, denen häufig unterstellt wird, nicht integrationsfähig zu sein. Teilweise sind sie auch delinquent. Eine Minderheit gilt als „seelisch behindert“.
- - Die frühere Sonderschule für Sprachbehinderte heißt jetzt „Förderschule Sprache“, zum Teil versucht man sie mit den Förderschwerpunkten „Lernen“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ zusammenzulegen zu „Förderzentren für milieubedingte Schädigungen“. Schon der Begriff erstickt jede Akzeptanz bei Eltern wie auch potenziellen Lehrern.
- - Die beiden Förderschulen mit den Schwerpunkten „Hören“ und „Sehen“ besuchen Kinder mit Sinneseinschränkungen.
- - Die Förderschule mit dem Schwerpunkt „geistige Entwicklung“ hieß früher Sonderschule für geistig Behinderte. Wer sie besucht, hat anschließend den Anspruch auf einen Arbeitsplatz in einer Werkstatt für Menschen mit einer Behinderung. Es gibt also eine Beschäftigungsperspektive, die anderen Förder- und oft auch Hauptschülern fehlt.
- - Die frühere Sonderschule für Körperbehinderte wurde in Förderschule für „körperliche und motorische Entwicklung“ umbenannt. Viele der dortigen Schüler sind schwerst mehrfachbehindert und benötigen intensive Pflege.
- - Außerdem gibt es noch die „Schule für Kranke“, die zwar offiziell keine Förderschule ist, aber diese Funktion teilweise mit übernimmt. Diese Schulen sind an psychiatrischen Kliniken angesiedelt; die Lehrer unterrichten diese häufig äußerst schwierigen Schüler für die Zeit des stationären Aufenthalts.
In der Bevölkerung gibt es eine bemerkenswerte Akzeptanz für die Inklusion
behinderter Kinder in Form eines gemeinsamen Unterrichts. Integrative Kindergärten und Grundschulen existieren schon lange und erfreuen sich einer Nachfrage auch von Eltern nichtbehinderter Kinder. Doch diese Akzeptanz wird auf eine harte Probe gestellt, sobald ein Kind mit dem Förderschwerpunkt „soziale und emotionale Entwicklung“ in die Einrichtung kommt. Dass soziales Verhalten nur in sozialen Situationen und Gruppen gelernt, geübt und gefördert werden kann, leuchtet zwar ein. Eine Belastung für die Gruppe muss dennoch sensibel beobachtet und begrenzt werden.
Anderswo funktioniert die Sache längst
Was die Inklusion betrifft, sind nicht jene Kinder die Herausforderung, die im Rollstuhl sitzen oder Rheuma haben, im Übrigen aber dem Unterricht problemlos folgen können. Diese kleine Schülergruppe hat zwar noch immer erhebliche Schwierigkeiten zu bewältigen, etwa weil es zu wenig barrierefreie Schulgebäude oder Probleme mit dem pflegerischen Bedarf gibt. Sehr oft gehen diese Kinder in integrative Klassen, zum Teil sogar ohne viel Verwaltungsaufwand im Sinne einer so genannten grauen Integration, etwa wenn ein Unfall zu einer Behinderung geführt hat und das Kind die Schule trotzdem weiter besucht.
Besondere schulpolitische Anforderungen betreffen zwei Schülergruppen. Zum einen handelt es sich um verhaltensauffällige Schüler, denen jede Gruppenfähigkeit fehlt (hier wächst der Förderbedarf besonders auch für Schülerinnen). Ein gemeinsamer Unterricht wird oft wegen möglicher Gefahren für Mitschüler abgelehnt, zum Teil werden Einzel- oder Hausunterricht verfügt. Zum anderen stellen Schwerstmehrfachbehinderte die Schulpolitik vor große Herausforderungen. Während die genetische Diagnostik zur Abtreibung von immer mehr behinderten Föten führt, sorgt der medizinische Fortschritt auf der anderen Seite für das Überleben von Kindern, die mit einer nicht-genetisch bedingten, sehr intensiven Behinderung aufwachsen. Sie in eine gemeinsame Schule mit gesunden Kindern zu stecken ist sehr schwierig, solange nicht einmal an allen Förderschulen akzeptable technische, räumliche und pflegerische Bedingungen geschaffen worden sind.
Inklusiver Unterricht ist möglich – und muss ermöglicht werden. Viele Beispiele aus dem In- und Ausland, in denen sonderpädagogische Arbeit im gemeinsamen Unterricht stattfindet, zeigen das. Es gibt keine Notwendigkeit, das entsprechend geschulte Personal an Förderschulen arbeiten zu lassen – sie können auch dezentral in anderen Schulen eingesetzt werden. Das funktioniert schon jetzt gut, wo wohnortnah und „prä-selektiv“ unterrichtet wird, also in erster Linie an Grundschulen, und dort vor allem in den ersten Klassenstufen. Doch was geschieht, wenn die Kinder in die unterschiedlichen Schulformen aufgeteilt werden? Wie soll Inklusion im Hinblick auf Kinder mit einer Behinderung funktionieren, wenn wir Schule grundsätzlich nie integrativ betrachten? Unsere Schulen sind selektiv, wer nicht mitkommt, wird nach unten durchgereicht. Bis zur Hauptschule oder sogar zur Förderschule.
In den Förderschulen werden kaum brauchbare Abschlüsse erreicht
In welcher Schulform sollte Inklusion also stattfinden? Wer Inklusion im gegliederten Schulsystem verwirklichen will, wird dafür vor allem der Haupt- und den Gesamtschulen die Verantwortung übertragen müssen. Schließlich haben wir an den Förderschulen (mit Ausnahme der Schulen für Seh- und Hörbehinderte) eher leistungsschwache Kinder, die in aller Regel noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss erreichen, sondern die Schule mit einem Förderschulabschluss verlassen.
Der gute Wille ist groß in dieser Debatte; niemand möchte bei dem Thema Fehler begehen. Im Düsseldorfer Landtag hat die CDU unlängst sogar einem von der rot-grünen Regierungskoalition vorgelegten Antrag zugestimmt, der den Eltern behinderter Kinder nahezu uneingeschränkte Freiheiten bei der Auswahl der Schulform zugesteht. Einer solchen Forderung würden konservative Bildungspolitiker niemals zustimmen, wenn es um nicht-behinderte Kinder ginge.
Nicht alle Lehrer sind begeistert
Die ungeklärte Frage, wie man in unserem extrem differenzierten und selektiven Bildungssystem Inklusion ermöglichen könnte, macht es den Gegnern dieses Ansatzes leicht. Sie verweisen auf die mangelnde Gruppenfähigkeit vieler verhaltensauffälliger Kinder und auf den hohen Aufwand etwa an den Schulen für Sinnesbeschädigte oder Körperbehinderte, deren Träger in Nordrhein-Westfalen die Landschaftsverbände sind. Obwohl vor allem auch der rheinische Landschaftsverband beträchtliche Gelder für inklusive Maßnahmen ausgibt, ist er nicht vor dem Vorwurf der Besitzstandswahrung gefeit. So hat er für eine sechsstellige Summe bei einem inklusionsskeptischen sonderpädagogischen Lehrstuhl in Würzburg eine Studie in Auftrag gegeben – wohlwissend, dass er eine seiner zentralen Aufgaben und Einrichtungen verlöre, sollten seine Schulen aufgelöst werden.
Für die Lehrer an den Förderschulen würde das Inklusionskonzept erhebliche Veränderungen bedeuten. Sie müssten ihren gewohnten Arbeitsplatz mit Tätigkeiten in anderen Schulen tauschen. Nicht alle Lehrer sind davon begeistert. Auch die Eltern behinderter Kinder sind von dem Ansatz nicht immer angetan. Deshalb müssen sie die Wahlfreiheit haben. Für sie ist ihr Leben mit einem behinderten Kind normal – wenn sie nicht täglich auf die Besonderheiten ihres von Nichtbehinderten umgebenen Kindes gestoßen würden. Viele erleben den Austausch mit Eltern, die in einer vergleichbaren Situation sind, als Bereicherung.
Warum die „Förderschule Lernen“ aufgelöst werden muss
Einige inklusionsskeptische Argumente sind nicht von der Hand zu weisen; so erscheint eine Auflösung der Förderschulen per Federstrich wenig erstrebenswert. Eine Aushöhlung der Schulpflicht, um sich der allergrößten Problemfälle zu entledigen, muss unbedingt vermieden werden. Wir halten folgende Forderungen für die richtigen Schritte:
- - Erstens: Die Förderschule mit dem Schwerpunkt „Lernen“ muss aufgelöst werden. Diese Schule steht für die Viergliedrigkeit unseres differenzierenden Bildungssystems. Stattdessen sind die entsprechenden Förderschullehrer an den Grund-, Haupt-, Gemeinschafts- oder Gesamtschulen einzusetzen. Die Diagnostik könnte man sich dann sparen, gefördert wird jedes Kind. Entscheidend ist die frühe Förderung: Investitionen in frühkindliche Bildung, besonders in sozialen Brennpunkten, zahlen sich für die Kinder und die Allgemeinheit aus. Dies muss zentraler Anspruch einer vorsorgenden Sozialpolitik sein.
- - Zweitens: Um der steigenden Zahl von Schülern mit „sozialem und emotionalem“ Förderbedarf gerecht zu werden, brauchen wir neue Konzepte – von Familienhebammen über Kooperationen mit der Jugendhilfe schon im Kindergartenalter bis hin zu ganz früh ansetzenden sonderpädagogischen Maßnahmen.
- - Drittens: Integrative Grundschulen und Kindergärten müssen weiter ausgebaut werden.
- - Viertens: Bei der Genehmigung und Konzeption neuer Gemeinschaftsschulen – als einheitlicher Schultyp besonders für den ländlichen Raum – muss das Thema Inklusion mitgedacht werden.
Unsere zentrale Idee für mehr Inklusion lautet, andersherum zu denken. Wir wollen die Öffnung von Förderschulen für nichtbehinderte Kinder, vor allem was Förderschulen für Geistig- und Körperbehinderte sowie Sinnesbeeinträchtigte angeht. Dabei streben wir überhaupt nicht die zielgleiche Unterrichtung aller Schüler an, sondern halten es für unproblematisch, wenn Kinder einer Klasse unterschiedliche Abschlüsse anstreben. Wir möchten nichtbehinderten Kindern anbieten, von dem besonders qualifizierten Personal an den Förderschulen, den kleinen Lerngruppen und der anregenden Umgebung zu profitieren. So kann Inklusion in die Praxis umgesetzt werden. «