Religion im 500. Jahr der Reformation
Im kommenden Jahr feiern wir den 500. Jahrestag der Reformation – in Europa und darüber hinaus. Der Geschichtstruck „Europäischer Stationenweg“ wurde bereits am 3. November in Genf eröffnet und wird auf seiner Reise nach Wittenberg in 67 europäischen Städten zu Gast sein. Unter dem Titel „Here I stand“ widmen sich in den Vereinigten Staaten gleich drei Ausstellungen dem Leben und Wirken Martin Luthers.
Wittenberg, die kleine Stadt in Sachsen-Anhalt, ist regelrecht aufgeblüht und wird im „Reformationssommer“ Ort zahlreicher Kunstprojekte und Events sein, die schließlich am 28. Mai 2017 im wohl größten Kirchentagsgottesdienst münden werden, den es je gab. Von der Martin-Luther-Playmobil-Figur bis hin zum Luther-Quiz: auch das spielerische Angebot ist vielfältig – darunter auch das Brettspiel „Mea Culpa“, das die Spieler in das Jahr 1517 zurückversetzt. Dort gehen sie in der Rolle von Papst, Kaiser oder Händler gerne auch mal ins Freudenhaus und legen dafür Strafchips in den Sündenpfuhl der Wollust. Doch egal, was der Spieler auf dem Kerbholz hat und wie nah er der Hölle ist: Für den Sieg ist es entscheidend, wie viele Ablassbriefe er kaufen konnte.
Entscheidend bleibt der Wunsch nach Freiheit
Auch wenn das Spiel ein wenig überzeichnet ist, erinnert es an einen wichtigen Auslöser der Reformation: den Wunsch nach Freiheit. Wie auch die anderen Reformatoren stellte Luther die Freiheit des Menschen von der Willkür der kirchlichen Obrigkeit in den Mittelpunkt. Mit der Forderung, man könne sich nur freiwillig an das christliche Evangelium binden, wurde vor 500 Jahren die Grundlage für die Glaubens- und Gewissensfreiheit gelegt, wie wir sie heute kennen. „Im Zweifel für die Freiheit!“, sagte Willy Brandt in seiner Abschiedsrede als SPD-Vorsitzender und machte damit deutlich, dass die Freiheit – neben dem Frieden – wichtiger als alles andere ist.
Die Reformationsgeschichte ist aber nicht nur eine Geschichte der Freiheit, sondern auch der Gnade. Luther, der sich Zeit seines Lebens mit Ängsten plagte und mit dem Teufel haderte, predigte einen gnädigen Gott. Denn allein aus Gnade sei der Mensch angenommen, nicht erst dann, wenn er kräftig an den Klerus zahlt – ein wichtiger Schritt in Richtung einer modernen und menschenfreundlichen Theologie.
Doch das Reformationsjahr ist weit mehr als ein Kirchenjubiläum. Die Reformation hat unsere Geschichte und Kultur geprägt, wobei diese Geschichte wahrlich nicht ohne Widersprüche ist. Die hemmungslose Judenfeindschaft und Hetze, die in Luthers späteren Schriften deutlich zutage treten, wussten sich die Nazis zu Nutze zu machen. Starke Kräfte in der evangelischen Kirche haben die NS-Herrschaft und den Antisemitismus aktiv unterstützt. Auch dies gehört zur Geschichte der Reformation und wird im Jubiläumsjahr nicht ausgeblendet.
Genau diese Widersprüchlichkeit macht die Feierlichkeiten zu einer derart anspruchsvollen Angelegenheit. Einfacher wäre es, einem revolutionären Mythos zu huldigen, wie es die DDR einst versucht hatte. Doch dazu taugt Martin Luther nun wahrlich nicht, will man sein gesamtes Wirken berücksichtigen.
Folglich ist ein differenzierter Blick nötig. „Reformation heißt, die Welt zu hinterfragen“ lautet der Slogan des Reformationsjubiläums und -gedenkens. Jeder Christ steht allein vor Gott, und kein Priester steht dazwischen. Jeder ist seinem Gewissen selbst verantwortlich, und so wird die Reformation zu einer Grundlage des späteren Verlangens nach demokratischer Teilhabe. Die Zukunft ist offen, sie ist nicht vorbestimmt.
Dass die Reformationsidee überhaupt eine solche Sprengkraft entwickeln konnte, hängt auch mit dem Buchdruck zusammen: Erst der Buchdruck ermöglichte es, dass sich die Idee der Bildung für alle, die mit Luthers Wirken untrennbar verknüpft ist, verbreiten konnte. Luther war der Meinung, das Evangelium dürfe kein Herrschaftswissen sein, sondern jeder Mensch solle in der Lage sein, die Bibel in seiner eigenen Sprache zu lesen. Luthers Übersetzung der Bibel ins Deutsche war sein vermutlich revolutionärster Akt, zumindest eine bildungsreformerische Großtat. Die Entwicklung von Sprache und Kultur wäre ohne die Reformation sicherlich anders verlaufen, ebenso wie die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die durch die protestantische Ethik eine wichtige Prägung erhielt.
Was die arabische Migration verändert hat
Der Ablasshandel ist mittlerweile abgeschafft, die Folgen der Reformation haben auch die katholische Kirche einem Wandel unterzogen. Im Jubiläumsjahr werden protestantische und katholische Christen die Reformationsfeierlichkeiten zum ersten Mal gemeinsam begehen. In den Gemeinden vor Ort ist Ökumene gelebte Praxis. Aus Sicht der Kirchenspitzen sind die ökumenischen Ereignisse die Highlights des Reformationsjubiläums.
Tatsache ist aber: Die wahren Herausforderungen, vor denen wir derzeit stehen, drehen sich längst nicht mehr um die Verständigung zwischen katholischer und protestantischer Kirche. Denn: Die Gesellschaft wird zunehmend säkularer und zugleich vielfältiger.
Deutschland ist ein säkularer Staat, es gilt die Trennung von Staat und Kirche. Aber wir sind kein laizistischer Staat, wie es bei unseren französischen Nachbarn der Fall ist. Frankreich ist zwar kein explizit antireligiöses Land, dennoch ist der dortige Staat sehr darum bemüht, religiöse Symbole aus der Öffentlichkeit und dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. Deutschland hat in dieser Hinsicht eine andere Tradition, was gerade mit Blick auf die Integration von Muslimen ein wesentlicher Vorteil ist. Bei uns haben Kirchen und Religionsgemeinschaften weitreichende Freiheiten, sich im öffentlichen Raum zu entfalten.
Die vom Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit betrifft sowohl den Einzelnen als auch die Öffentlichkeit. Religiöse Praktiken müssen in Deutschland nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden, sondern sind Teil der Öffentlichkeit: in Kirchen, Synagogen und Moscheen, im Alltag unserer Städte und Gemeinden. Der säkulare und neutrale Staat fördert Religionsgemeinschaften und ihre Aktivitäten ebenso wie viele andere zivilgesellschaftliche Organisationen.
Als in den fünfziger und sechziger Jahren die „Gastarbeiter“ und später die Balkan-Flüchtlinge nach Deutschland kamen, spielte ihre Religion keine Rolle. Dies hat sich mit den Migrationsbewegungen aus den arabischen Ländern grundlegend geändert: Heute dreht sich die öffentliche Debatte vor allem um die Frage, inwieweit Muslime integrierbar seien. Zur Integration gehört dabei nicht nur das Kennenlernen des anderen, sondern auch das Wissen um die eigene Tradition und Geschichte. Gerade deshalb ist jetzt Zeit für mehr religiöse Bildung.
Nur wer seine Wurzeln kennt, kann integrieren
Es ist offensichtlich ein Problem, dass die christlichen Wurzeln unserer Gesellschaft kaum mehr bekannt sind. Denn ausgerechnet unter den kirchenfernen Bevölkerungsgruppen in den neuen Bundesländern finden sich die meisten Anhänger eines vermeintlich gefährdeten „christlichen Abendlandes“. Die Angst vor dem Islam greift besonders dort um sich, wo man gar keine Muslime kennt, wo die religiösen Wurzeln fehlen oder das Wissen darüber beklagenswert mangelhaft ist. Akzeptanz und Toleranz sind nur möglich, wenn man sein Gegenüber kennenlernt und sich zugleich seiner eigenen Wurzeln bewusst ist. Nur so können wir eigene Traditionen und Werte im Dialog vertreten und andere Positionen begreifen.
Die Integration des Islam in unsere Gesellschaft ist die wichtigste religionspolitische Herausforderung unserer Zeit. Notwendig ist, dass an allen Schulen mit muslimischen Kindern auch islamischer Religionsunterricht angeboten wird, genauso wie es evangelischen, katholischen und jüdischen Unterricht gibt. Glücklicherweise haben die ersten Bundesländer Wege gefunden, dieses Angebot einzurichten. Und deutsche Universitäten haben bereits mit der Ausbildung von entsprechendem Personal begonnen. Dass man nach wie vor einen „Shitstorm“ erntet, wenn man flächendeckenden Islamunterricht fordert, zeigt vor allem, wie notwendig Bildungsarbeit auf diesem Gebiet ist.
Zur religionspolitischen Integration gehört die fordernde und fördernde Auseinandersetzung mit islamischen Verbänden. Der Islam ist eine Religion, aber keine Kirche. Obwohl besonders der türkische Islam die Tradition einer behördlichen Struktur kennt, wird er sich nicht nach den Regeln von Bistümern oder Landeskirchen organisieren. Zur Zeit ihrer Gründung hatten die wichtigsten Organisationen den Charakter von Migrantenvereinen. Auch heute ist die Mehrheit der Muslime in Deutschland in keinem der Verbände Mitglied, die sich im Koordinierungsrat der Muslime zusammengeschlossen haben. Diese einfach als herkunftsorientierte Kulturvereine abzutun, wie es die Grünen tun, hilft an dieser Stelle jedoch nicht weiter.
Deutschland hat die Wahl: Wollen wir Parallelgesellschaften oder Integration? Wir sind für Integration. Deshalb setzen wir Kriterien, sprechen mit den Verbänden und arbeiten mit ihnen zusammen, damit auch sie ihre Religion entsprechend unserer Grundwerte ausüben können. In den vergangenen Monaten haben sich viele Menschen für Flüchtlinge engagiert, es entstand eine Art neue soziale Bewegung. Die Mitglieder der Kirchengemeinden haben mit ihrem Engagement viele Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft mitgezogen. Bereits heute stehen die Kirchen im regelmäßigen Austausch mit muslimischen, aber auch mit jüdischen, christlich-aramäischen und orthodoxen Gemeinden, deren Wurzeln im Nahen Osten liegen. Auf diese Erfahrungen im interreligiösen Dialog sollten wir setzen und als Staat die Hand ausstrecken, damit alle Religionsgemeinschaften in Deutschland die gleichen vom Grundgesetz verbürgten Rechte genießen.