Freiheit statt Schuldenspirale

Wenn europäische Staaten und deutsche Bundesländer ihre Entscheidungsfreiheit behalten wollen, müssen sie darum kämpfen. Aber wenn sie kämpfen, dann verdienen sie auch Unterstützung und Vertrauen

Kaum etwas ist schwieriger, als Politik ohne Schulden zu machen. Seit Jahrzehnten dient das Ventil der Neuverschuldung dazu, den Druck zwischen den hohen Erwartungen von Bürgern und Unternehmen an den Staat und ihrer deutlich geringeren Finanzierungsbereitschaft auszugleichen. Mit geborgtem Geld werden politische Vorhaben verwirklicht, die nicht solide finanziert werden können, weil die große Mehrheit der Bevölkerung schon seit Jahrzehnten keine höheren Belastungen mehr akzeptiert und die Unternehmen seit dem Beginn der Globalisierung mit Abwanderung drohen. In Deutschland hat das zu einem Schuldenberg von mehr als zwei Billionen Euro geführt.

Weltweit hat die Verschuldung inzwischen ein Ausmaß erreicht, das Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit gefährdet. Hohe Schulden schränken die Entscheidungsfreiheit von Politik ein. Sie schwächen die Kraft, Finanzmärkte zu regulieren und machen die Politik abhängig von Ratingagenturen. Gleichzeitig begrenzen zu hohe Schulden die politischen Möglichkeiten, vernünftige materielle Voraussetzungen für echte Entscheidungsfreiheit der Bürger zu schaffen. Sowohl die Lebenschancen als auch die Einkommens- und Vermögensverteilung driften immer weiter auseinander. Längst bilden sie nicht mehr die wahre Verteilung von Fähigkeiten und Anstrengungen ab. Damit nicht genug: Übermäßig hohe Schulden untergraben die Bereitschaft, sich gegenseitig solidarisch zu helfen. Wer wie die Griechen in der Vergangenheit hohe Schulden gemacht hat, versetzt diejenigen, die helfen sollen, in die Angst, ausgenutzt zu werden. Europäische Solidarität hat heute keine Konjunktur – das hat die Bundeskanzlerin erkannt.

Erstmals seit 500 Jahren könnte Europa an den Rand der globalen Entwicklung geraten

Also besser keine Solidarität? Wer kein Vertrauen schenkt, kann nicht enttäuscht werden. Aber – das ist die Kehrseite –, wer nicht vertraut, nimmt sich auch Möglichkeiten. Wie weit werden wir Deutschen wohl kommen in der Globalisierung ohne eine starke Europäische Union? Europa muss gehörig aufpassen, dass es den Zug nicht verpasst, der in diesem Jahrhundert nach Asien fährt. Zum ersten Mal seit mehr als 500 Jahren könnte unser Kontinent an den Rand der Entwicklung geraten – mit allen negativen Auswirkungen auf unseren Wohlstand. Auch könnten unsere Möglichkeiten künftig beschränkt sein, international verbindliche Regeln und Verhaltensweisen mitzugestalten.

Seltsam: Merkel wird für eine Politik gelobt, die Griechenland jede Chance nimmt

Wer heutzutage seine Entscheidungsfreiheit erhalten will, muss darum kämpfen. Das gilt für Sachsen-Anhalt ebenso wie für Griechenland oder sogar die Vereinigten Staaten. Konsolidierungsländer wie Griechenland haben ihren finanzpolitischen Entscheidungsspielraum vollständig eingebüßt. Damit das Land seine kleine Chance wahrt, den Bankrott abzuwenden, müssen Staatsbedienstete Einkommenskürzungen von 20 Prozent und mehr hinnehmen. Im öffentlichen Sektor werden zehntausende Stellen abgebaut. Und der Staat kürzt die Renten um bis zu 20 Prozent. Das ist sozialer Sprengstoff. Die Griechen müssen ein vom Internationalen Währungsfonds und von der EU initiiertes Sparprogramm über sich ergehen lassen, um überhaupt noch Kredite zu bekommen. In Jahresschritten sollen sie die über Jahrzehnte begangenen Fehler und Versäumnisse korrigieren. Aber wie soll Konsolidierung ohne Wachstum funktionieren? Niemand muss sich wundern, dass die griechische Volkswirtschaft mit dieser bitteren Medizin in eine tiefe Rezession geschickt wurde.

Jetzt droht den Griechen der Staatsbankrott und der Europäischen Union ein gefährlicher Dominoeffekt. Es ist schon ziemlich erstaunlich, dass es politische Beobachter gibt, die Bundeskanzlerin Merkel für diese Politik loben und meinen, mehr sei nicht möglich gewesen, wenn am Ende eine europäische Fiskalunion stehen soll. Wir sind der Meinung, weniger wäre kaum möglich gewesen. Was da inzwischen gelobt wird, ist Teil des Problems. Merkels innenpolitisch motiviertes Zögern (aus Rücksicht auf die marode FDP und wegen wichtiger Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg) hat die europäische Krise ständig größer gemacht. Wäre frühzeitig gehandelt worden, hätten die Europäer die Dimension der Krise deutlich begrenzen können. Jetzt muss Deutschland mit gut 250 Milliarden Euro für den Zusammenhalt der Währungsunion geradestehen, mit dem geplanten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) kommen in wenigen Monaten noch einmal rund 190 Milliarden Euro hinzu – und eine Fiskalunion gibt es noch nicht einmal auf dem Papier. Ohne das Wagnis von Solidarität werden wir in Europa keine gute Zukunft vor uns haben. Straffe Regeln, gründliche Kontrolle und automatische Sanktionen sind dafür Grundvoraussetzung. Das reicht jedoch nicht. Ebenso unverzichtbar sind Vertrauen und Verständnis – wie das Beispiel Sachsen-Anhalt zeigt. Auch das kleine aber geschichtsträchtige Lutherland, das Land der erneuerbaren Energien mit seinen wunderbaren Gartenträumen, dem weltweit bekannten Dessauer Bauhaus und seiner wiedererstarkten chemischen Industrie hat in der Vergangenheit gesündigt. Die bedrückende Bilanz: über 20 Milliarden Euro Schulden in zwanzig Jahren. Trotzdem ist Sachsen-Anhalt gerettet worden – durch die Solidarität von Bund und Ländern und durch den eigenen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Im Wesentlichen über den Länderfinanzausgleich und den Solidarpakt hat unser Land die Zeit geschenkt bekommen, die notwendig ist, um auf eigenen Füßen stehen zu können. Daran hat die Landesregierung in den vergangenen Jahren und Monaten gearbeitet: Sofern die deutsche Wirtschaft in keine Rezession abgleitet, werden wir ab diesem Jahr keine neuen Schulden aufnehmen müssen (wie schon einmal vor der Krise zwischen 2007 und 2009). Soweit es die Weltwirtschaft zulässt, tilgen wir ab 2013 die ersten Schulden. Wir sorgen vor, um für konjunkturelle Abschwünge und den demografischen Wandel gewappnet zu sein. Und wir investieren so viel wir können. In dieser Legislaturperiode sollen alle Schulen und Kitas energetisch saniert und mit moderner Informationstechnik ausgestattet werden. Dafür unterstützen wir die Kommunen im Land mit dem größten Investitionsprogramm der nächsten fünf Jahre und helfen ihnen mit einem umfassenden Programm zur Teil-entschuldung beim Schuldenabbau. Gleichzeitig werden wir den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle Kinder bis sechs Jahren finanzieren. Die Botschaft sollte klar sein: Junge Menschen, kommt nach Sachsen-Anhalt! Hier habt ihr die Freiheit, Euer Leben so zu gestalten, wie ihr wollt – wir helfen Euch dabei.

Warum Sachsen-Anhalt das Urteil der New Yorker Rating-Agenturen fürchten muss

Ohne harte Sparanstrengungen geht das alles nicht. Nicht zuletzt wegen des konsequenten Personalabbaus droht Sachsen-Anhalt keine Haushaltsnotlage. In diesem Jahrzehnt werden wir mit 14.000 weiteren Stellen rund 25 Prozent aller Stellen im Landesdienst streichen. Seit Jahren sorgen wir mit einem Pensionsfonds vor. Ständig vergleichen wir uns mit anderen Bundesländern, versuchen zu lernen, wo Politik mit geringerem Ressourceneinsatz erfolgreich organisiert wird. Gleichzeitig planen wir mindestens bis zum Ende des Solidarpakts im Jahr 2020, um die Anpassungslasten auf einen längeren Zeitraum erträglich verteilen zu können. Ergänzt wird unser Steuerungssystem durch moderne Haushaltsverfahren wie das so genannte Top-down-Verfahren, mit dem die Haushaltsspielregeln so verändert werden, dass alle Ressorts ein finanzielles Interesse an einem möglichst effizienten Mitteleinsatz haben. Schließlich versuchen wir, unseren Politikstil zu verändern, indem wir Reformen wie etwa den kommunalen Finanzausgleich schon in der konzeptionellen Phase breit mit den Betroffenen diskutieren und nach gemeinsamen Wegen suchen.

Zusammen mit vier weiteren Ländern steht Sachsen-Anhalt unter strenger Beobachtung des Stabilitätsrates, der im Zuge der grundgesetzlichen Verankerung der Schuldenbremse geschaffen wurde. Wir sind froh, dass unser Land als einziges der fünf Länder im vergangenen Jahr keinen blauen Brief des Rates bekommen hat. Somit müssen wir keine Vorgaben aus Berlin fürchten. Aber New York könnte unsere Entscheidungsfreiheit einschränken: Wer mehr als 20 Milliarden Euro Schulden hat, auf die er jedes Jahr 700 bis 900 Millionen Euro Zinsen zahlt, muss das Urteil der Ratingagenturen fürchten.

Die Macht der Rating-Agenturen ist das Ergebnis viel zu hoher öffentlicher Verschuldung

Glücklicherweise haben sich in unserem Land nicht nur zahlreiche innovative Unternehmen in Zukunftsbranchen niedergelassen, werden bessere Löhne gezahlt und immer mehr Studierende von dem ausgezeichneten Angebot der Hochschulen angezogen – sondern auch die Ratingagenturen bewerten unsere Finanzpolitik zunehmend positiv. Noch 2010 hat Standard & Poor’s unser Land gleich um zwei Stufen aufgewertet, von AA- auf AA+. Nach Ansicht der Ratingagentur stehen wir damit besser da als Nordrhein-Westfalen, Hessen oder Hamburg. Bekäme Sachsen-Anhalt jedoch wieder ein Rating wie Nordrhein-Westfalen – also zwei Stufen schlechter –, müssten wir in wenigen Jahren auf die gleiche Schuldensumme wie heute rund 30 Millionen Euro mehr Zinsen pro Jahr zahlen. Das entspricht genau der Summe, die wir benötigen, um den angestrebten Anspruch auf Ganztagsbetreuung zu verwirklichen. So viel Macht haben Ratingagenturen heute. Selbstkritisch müssen wir sagen: Diese Macht haben sie von den öffentlichen Händen bekommen, weil diese seit Jahrzehnten immer mehr Schulden gemacht haben und riesige Schuldenberge entstanden sind.

Wenn Italien oder Spanien von den Agenturen auf eine Stufe mit Entwicklungsländern gestellt werden und, wie im August letzten Jahres geschehen, sogar die Vereinigten Staaten herabgestuft werden können, dann kann sich kein Staat und kein Bundesland sicher fühlen vor der negativen Macht der Agenturen. Wer nicht von Ratingagenturen, Banken oder von dem Stabilitätsrat regiert werden will, der wird in Zukunft noch sehr viel mehr auf die Entwicklung der Schulden achten müssen als bisher. Gut, dass es die Schuldenbremse im Grundgesetz gibt.

Schluss mit der Subventionsmentalität, wir wollen selbstbestimmt agieren

Sachsen-Anhalt hat es geschafft, die rote Laterne abzugeben und sich langsam aus dem tiefen Tal herauszuarbeiten. Dabei befinden wir uns gerade im Osten in guter Gesellschaft. Neben dem Klassenprimus Sachsen werden in diesem Jahr voraussichtlich auch Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen keine neuen Schulden machen. Das schaffen sonst nur noch Baden-Württemberg und Bayern. Zur Erinnerung: Es war Bayern, das in der alten Bundesrepublik jahrzehntelang vom Länderfinanzausgleich profitiert hat, bevor es selbst zum Geberland wurde. Die Bayern haben etwas aus der Solidarität gemacht, die sie all die Jahre genossen haben. Gut so, ihr Lohn sind Entscheidungsfreiheit und Respekt.

Statt einer selbstmitleidigen Subventionsmentalität, die immer nur auf Hilfe von außen oder oben setzt, wollen wir selbstbestimmt agieren. Das ist unser Anspruch, und dafür tun wir alles. Unseren Dank schulden wir denjenigen, die uns gegenüber seit Jahrzehnten Solidarität üben und die Ergebnisse natürlich kontrollieren. Alleine hätten wir keine Chance. Nur etwas mehr als 50 Prozent der Landesausgaben sind durch Steuereinnahmen gedeckt. Der Rest kommt vom Bund, der EU und den finanzstarken Bundesländern. Ohne diese solidarische Hilfe wären wir dem demografischen Wandel und der Abwanderung aus unserem schönen Land, das mehr UNESCO-Weltkulturerbestätten beherbergt als jedes andere, hilflos ausgeliefert. Aber wir machen etwas daraus – natürlich auch, weil wir die Sanktionen vermeiden wollen, aber eben nicht nur aus diesem Grund.

    Vor wenigen Wochen haben wir diesen Zusammenhang in der Zeit beschrieben. In den Online-Kommentaren dazu war zu spüren, wie die alten Neidreflexe zwischen Ost und West immer noch funktionieren, wie brüchig die Solidarität auch in Deutschland ist. Nicht Wenige wollten wissen, wieso wir uns trauen, bei einer so hohen Abhängigkeit von anderen überhaupt den Mund aufzumachen. Gerade so, als ob die so genannten Geberländer nicht selbst Nehmerländer wären – und zwar Nehmerländer von Hunderttausenden gut ausgebildeter, junger Menschen, allein aus Sachsen-Anhalt deutlich über 500.000 in 20 Jahren, bei einer Einwohnerzahl von noch rund 2,3 Millionen Menschen. Wir sind dankbar für die uns entgegengebrachte Solidarität. Sie ist aber keine Einbahnstraße. Und: Sie enthebt uns weder von der Pflicht, daraus etwas zu machen, noch nimmt sie uns das Recht, selbstbewusst auf die eigenen Anstrengungen zu verweisen.

Wenn die Griechen, die Italiener und andere glaubhaft eine vergleichbare Haltung einnehmen und wenn das Sanktionsschwert der EU wie geplant geschärft wird, sollte es keinen Grund geben, ihnen nicht zu helfen. Über ihr Schicksal hinaus steht für Europa viel auf dem Spiel. So oder so, bei uns Deutschen liegt der Schlüssel für eine gute Zukunft Europas. Nach all dem deutschen Gräuel im 20. Jahrhundert bekommen wir Deutschen zum ersten Mal wieder die Chance, Europa positiv mitzugestalten. Das sollten wir nicht kleinmütig verstolpern, aus Angst, ausgenutzt zu werden. Vertrauen ist ein Wagnis, aber wenn wir nicht vertrauen, werden wir Europa verlieren und mehr Entscheidungsfreiheit einbüßen, als sich das viele heute vorstellen können.


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