Fünfzig Jahre Politikverdrossenheit
Der Bundestagspräsident sorgt sich um die Bilder aus dem Deutschen Bundestag. Norbert Lammert hat ein eigenes „Parlamentsfernsehen“ zur Debatte gestellt. Das ist ein ehrenwerter Vorschlag, der auf der Oberfläche des Problems gewiss noch für öffentliche Erregung, besonders bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten – Stichworte: „Meinungsfreiheit“, „Staatsferne“, „Programmauftrag“ – sorgen wird. Aber das Problem selbst gründet tiefer. Ein paar Merksätze vorab: „Die deutsche Demokratie ist ihrer selbst nicht genügend sicher.“ – „Um seiner Zukunft willen bedarf das Volk eines lebendigen Verhältnisses zwischen dem Staatsbürger und seinen politischen Organen.“ – „Die verbreitete Teilnahmslosigkeit des Volkes an den politischen Vorgängen und Aufgaben löst die Politik aus ihrem Ort im menschlichen Dasein. Sie erscheint dann dem Einzelnen als ein Sachvorgang, an dem er, als bloßes Objekt, nicht mitzuwirken hat.“ – „Dieser Zustand ist auch eine Folge der unzulänglichen politischen Bildung.“
Diese Sätze klingen aktuell, aber sie sind ein halbes Jahrhundert alt und stehen in der Denkschrift der ersten Grünwalder Arbeitstagung, als deren Ergebnis vor 50 Jahren die Politische Akademie Tutzing per Landesgesetz in Bayern errichtet wurde. Sie beschreiben ein Dauerthema: die Deutschen und ihre schwierige Liebe zur Demokratie.
Weil Demokratie sich nicht vererbt, sich nicht von selbst versteht, weil Demokratie zu leben die anspruchsvollste Lebensform einer Gesellschaft ist, wurden in den fünfziger Jahren Akademien und Landeszentralen für staatsbürgerliche und politische Bildung gegründet, die jetzt reihenweise ihre Jubiläen feiern.
„Die anspruchsvollste Lebensform“ – manches andere ist leichter. Wir haben es in Deutschland schon ausprobiert: Faschismus, Kommunismus. Doch die Geschichte ist schnell vergessen – trotz eines halben Jahrhunderts politischer Bildung. Und weil wir mit der Situation, wie sie heute ist, nicht zufrieden sein können, brauchen wir zusätzliche Anstrengungen.
Jeder Vierte will den Einparteienstaat
Vorausgeschickt: Es ist schon klar, dass der Aussagewert von Umfragen zuweilen begrenzt ist, dass in den Fragen oft schon die erwarteten Antworten mitschwingen. Wenn man kein Trottel sein will, was soll man dann sagen, wenn gefragt wird: „Vertrauen Sie Politikern?“ oder: „Sollte der Staat mehr Geld an die Parteien überweisen?“
Aber es ist nicht lustig, wenn über 50 Prozent der Bundesbürger auf Befragen angeben, sie seien „weniger bis gar nicht zufrieden“ mit den demokratischen Abläufen (ARD-Deutschlandtrend, November 2006). Es ist ein Alarmsignal, wenn nach einer anderen Studie (Universität Leipzig 2006) nur ein Viertel der Ostdeutschen meint, die Demokratie funktioniere „zufriedenstellend“. Das hieße im Umkehrschluss: Drei Viertel der Ostdeutschen meinen das nicht. Dann wundert man sich auch nicht mehr über die alles andere als marginale Zustimmung zu Bekenntnissätzen wie „Bei Hitler war nicht alles schlecht“ (25 Prozent) oder „Der Sozialismus ist eigentlich eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“.
Noch ein paar harte Sätze: „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“ Zustimmung: 26 Prozent. Das heißt, jeder vierte Deutsche würde einen Einparteienstaat dem Parteienpluralismus vorziehen (Universität Leipzig 2006). „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.“ 15 Prozent. „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.“ 18 Prozent.
Das war nicht die alarmierende Sinus-Studie zum Rechtsextremismus aus dem Jahr 1981. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2006. Die Werte sind sogar eher schlechter geworden. Vielleicht liegt es an der Einheit? Vielleicht fehlt die nahe, abschreckende Systemalternative? Dem soll jetzt hier nicht nachgegangen werden.
Auch andere wichtige Indikatoren weisen auf einen problematischen Langfristtrend hin: In allen Parteien ist die Zahl der Mitglieder rückläufig; die Wahlbeteiligung geht zurück, besonders bei Landtags- und Kommunalwahlen; zudem werden rechtsextreme Listen mittlerweise ziemlich ungeniert gewählt. Es ist schwierig, über diese Befunde eine vernünftige öffentliche Debatte zu führen. Hier werden aktuelle politische Aufregungen immer sehr schnell mit dem grundsätzlichen Problem verbunden. Oder Wähler fühlen sich beschimpft und schimpfen zurück.
„Es herrschen Filz und Korruption“
Anfang des vergangenen Jahres habe ich auf Spiegel-Online einen Essay unter dem Titel „Wider die Politikverachtung“ veröffentlicht. Dazu bekam ich innerhalb eines Tages dreißig E-Mails, überwiegend unfreundliche. Achtmal hieß es „Politiker sind unfähig“, zweimal „Politiker sind Lügner“, fünfmal „Politiker sind arrogant“, achtmal „Es herrschen Filz und Korruption“. Von den dreißig Mails hatten 29 einen männlichen Absender; geschrieben worden waren sie meist spätabends oder nachts. Damit muss man rechnen.
Wenn ich sage, wir brauchen zusätzliche Anstrengungen, damit unsere Demokratie nicht hohl wird oder eines Tages wieder kippt, dann ist dies gemeint im Sinne der Aufklärung: als Selbstaufklärung unserer Gesellschaft, deren Teil wir sind, über die Grundlagen unserer demokratischen Lebensform. Das ist ein großes Wort. Beinahe wohlfeil. Darauf kann man sich leicht einigen.
Aber wer ist dafür zuständig? Die Schule etwa mit ihren aktuellen Schulzeitverkürzungsprogrammen, den vollgepackten Stundentafeln und Lehrern am Rande der Überlastung, die nicht gerade nach neuen Aufgaben schreien? Sind die Medien zuständig, mit ihrem Trend zur Boulevardisierung, im privaten und im öffentlichen Rundfunk wie auch im Print? (Preisfrage: Zahlt sich Aufklärung aus?)
Theoretisches Ideal und böse Wirklichkeit
Bleiben wieder nur die bewährten Institutionen der politischen Erwachsenenbildung mit ihren wunderbaren Israel-Reisen, Betriebsräteseminaren und Windenergiewochenenden – wenn es dafür doch nur etwas mehr Geld gäbe! Oder soll es „die Politik“ am Besten alleine versuchen, sich gewissermaßen am eigenen Schopf aus dem Verdrossenheitssumpf ziehen – und dabei versuchen, elegant auszusehen und zum Mitmachen einzuladen?
Alle genannten Bereiche – Schule, Medien, politische Bildung und Politikbetrieb – tragen zu dem Bild bei, das Bürgerinnen und Bürger vom Funktionieren unseres demokratischen Gemeinwesens haben und für wie attraktiv sie ihr mögliches eigenes Mittun dabei halten. An diesem Bild, das auf die unterschiedlichste Weise vermittelt wird, ist gewiss vieles gut und richtig, vieles aber auch schief und krumm, manches bösartig, einiges rührend. Wir alle kennen die weit verbreiteten antipolitischen Klischees, Stereotypen und Vorurteile, und schlucken sie ein ums andere Mal.
Zuallererst: Die Demokratie als reine Form, als theoretisches Ideal, das leider von der bösen Wirklichkeit nie erreicht wird. Ich treffe seit vielen Jahren viele Schülergruppen, die in Berlin den Bundestag besuchen. Da kommt es gelegentlich vor, dass mir diese immer ein bisschen anklagende Ideal-und-Wirklichkeit-Gegeneinanderausspielerei begegnet. Und wenn man dann nach dem Ideal fragt – oh je!
Warum um alles in der Welt glauben so viele recht gutwillige politikvermittelnde Pädagogen, es sei in Deutschland verboten, einfach einmal zu beschreiben und zu erklären, wie zum Beispiel unsere parlamentarische Demokratie tatsächlich funktioniert? Dass Parteitagsbeschlüsse, Koalitionsverträge, Fraktionsdisziplin nicht eigentlich systemwidrig, sondern im Gegenteil systemnotwendig sind. Dass dieses demokratische System seit ein paar Jahrzehnten in Frieden, Freiheit und Wohlstand für Deutschland ganz gut funktioniert. Und dass es in anderen Ländern ähnlich funktioniert – oder eben auch ganz unterschiedlich.
Das Einzige, was man weltweit nirgendwo findet, ist das bei uns so beliebte esoterische Ideal einer Demokratie ohne Streit, einer Demokratie ohne Pluralismus, ohne Parteien, ohne Interessen, ohne Machtkämpfe, ohne menschliche Schwächen und Eitelkeiten. In diesem Ideal steckt die Sehnsucht nach etwas ganz anderem. Und dieses Andere wäre fürchterlich!
Staatsbürgerkunde mit der Maus
Helfen nun die Medien, ein realistisches Bild von den Spielregeln und dem tatsächlich stattfindenden demokratisch regulierten Spiel der Kräfte zu vermitteln? Manche ja. Mein Lieblingsbeispiel ist ein Fünf-Minuten-Film in der Sendung mit der Maus, der vollständig korrekt und umfassend für Siebenjährige das Wahlverfahren zum Deutschen Bundestag erklärte. Ich weiß das noch so gut, weil ich an dem Sonntag, als diese Sendung lief, zum ersten Mal in den Bundestag gewählt wurde. Da war meine Tochter sieben, und sie hat alles verstanden.
Aber manchmal ist es zum Verzweifeln. Beispiel Bild und Diäten, ein paar Wochen alt. Schlagzeile: „Diäten-Erhöhung! So voll war der Bundestag lange nicht“. Da kamen gleich mehrere Klischees zusammen: raffgierige Politiker, die sich selbst Geld in die Taschen stecken und normalerweise nicht gern arbeiten, sonst wäre das Plenum ja immer so voll ... Man kann sagen, das versendet sich, das müssen die Gewählten aushalten. Klar. Aber welches Bild wird den Wählern eingehämmert, durch diese Schlagzeile und die nächste: „Hier genehmigen sich die Abgeordneten eine Rente im Wert von 288.000 Euro.“ Und die nächste: „Charakter dringend gesucht“. Und immer „wir“ und „die“. Wir, der kleine Mann, wir, das Volk, alle eines Sinnes, vertreten von der Zeitung oder von RTL II oder Frontal 21. Und da „die Politiker“, die dem Volk fremd gegenüberstehen, die charakterlos lügen und betrügen und sich bereichern, oder im Gangsterjargon von Bild: „abzocken“.
Wenn man sich die Einrichtungen der politischen Erwachsenenbildung anschaut, dann ist man dort in freundlicher Runde von dieser populären Systemopposition oft ziemlich weit weg. Es kann ja kein Publikum gezwungen werden, sich weiterzubilden und selbst aufzuklären. Und wer hat schon Einfluss auf diese antiaufklärerischen Schlagzeilen, von denen sich ja niemand anbrüllen lassen muss?
Wenn Aufklärung im Minusbereich beginnt
Gut wäre ganz gewiss, wenn in Publikationen, Veranstaltungen und didaktischen Handreichungen aus den einschlägigen Akademien und Zentralen der landläufige Verdrossenheitsdiskurs viel stärker aufgegriffen werden könnte, das heißt, die scheinbar so selbstverständlichen Negativ-Bilder einer vom Pseudo-Ideal des starken einheitlichen Volkswillens abweichenden schwachen „Politiker“-Demokratie. Dazu müssen wir alle argumentationsfähig sein, im Schlaf, im Alltag. Immer dann, wenn wir denken, wir könnten bei Null anfangen, sollten wir uns lieber klarmachen, dass es besser ist, im Minusbereich zu beginnen: Die antipolitischen Klischees müssen thematisiert werden! Dort beginnt die Anstrengung der Aufklärung.
Und dann kommt erst in zweiter oder dritter Linie die kraftvolle Förderung der berühmten Kritikfähigkeit, die sonst gern so vordringlich erscheint. Politische Bildung hat nicht den Job als Schiedsrichter, der für die aktuelle performance Haltungsnoten verteilt. Sie steht nicht außerhalb des Spielfeldes, nicht über den Parteien oder Verfassungsorganen. Politische Bildung ist ein Teil, ein lebenswichtiger Teil des Reproduktionszusammenhanges unserer Demokratie.
Sagt niemals, es sei „nur parteipolitisch“!
Schließlich – ich bin noch einmal die Institutionen der Politikvermittlung durchgegangen – was können Gewählte, was können die so genannten „Politiker“ in ihrer öffentlichen Wahrnehmbarkeit anders, was sollten sie besser machen? Natürlich: zunächst einmal selbst die Spielregeln verstehen und erklären können. Abgeordnete und Regierende sollten alles meiden, was dem Verdrossenheitspopulismus Vorschub leisten könnte.
Der damalige Direktor des Deutschen Bundestages Wolfgang Zeh hat im Jahr 1992, als das Wort des Jahres „Politikverdrossenheit“ lautete, in der Frankfurter Allgemeinen in einem augenzwinkernden „Fürstenspiegel für Abgeordnete“ einige solche Punkte zusammengestellt: „Sagt niemals, es sei ja nur parteipolitisch, was der politische Gegner vorbringt!“ – „Schlagt niemals vor, man möge ein bestimmtes Thema aus dem Wahlkampf heraushalten!“ – „Lasst Euch in einer Bundestagsdebatte nicht dazu hinreißen, Zwischenrufe der gegnerischen Fraktion mit der Bemerkung zu quittieren, deren fehlenden Ernst in dieser Angelegenheit erkenne man ja schon an ihrer geringen Präsenz im Plenarsaal!“ – „Zu warnen ist auch davor, den politischen Gegner dauernd als ‚tief zerstritten‘, ‚führungslos‘ und ‚handlungsunfähig‘ zu bezeichnen.“
Weil all dies so ist, weil viele etwas tun müssten, noch dazu das Richtige, und es nicht hinreichend tun, habe ich vor einem Jahr eine zusätzliche Anstrengung vorgeschlagen, eine neue Institution, eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung, Man kann es auf den Begriff bringen: ein Institut für die Didaktik der Demokratie, am besten in Berlin.
Es geht um die Bilder in den Köpfen
Das Institut sollte das demokratische „Bürgerbewusstsein“ erforschen, sozusagen den Ist-Zustand, die Ausgangslage feststellen. Und es sollte Methoden und Maximen für die Vermittlung der demokratischen Grundlagen in Schulen, in Medien, in der politischen Bildung und in der Arena der Politik selbst prüfen, erarbeiten und weitergeben. Die Gespräche darüber haben begonnen, in der SPD-Bundestagsfraktion, in der Koalition, bei den Fachleuten aus Hochschulen und Bildungspraxis.
Weil Demokratie sich nicht vererbt, brauchen wir eine systematische und verbindliche Bildung und Erziehung zur Demokratie, zur Demokratie als Lebensform. Jeder und jede sollte die Spielregeln kennen, sollte sich zutrauen, selbst mitzureden, mitzuentscheiden, selbst Verantwortung zu übernehmen. Dies wäre ein gutes demokratisches Ideal.
Weitere politische und politikwissenschaftliche Unterstützung in dieser Angelegenheit kann beileibe nicht schaden! Die Bilder, um die es wirklich geht, sind nicht in erster Linie die Fernsehbilder aus dem Parlamentsplenum, sondern die Bilder in den Köpfen.