Für ein Ministerium der Lebenschancen
Die Qualifikation der Arbeitnehmer in Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. Immer mehr junge Menschen besuchen weiterführende Bildungseinrichtungen, erwerben mittlere oder höhere Bildungsabschlüsse und verweilen länger als früher im Bildungssystem.
So ist zwischen 1960 und 1980 der Anteil der Jugendlichen, die nicht einmal einen Hauptschulabschluss vorweisen können, erheblich gesunken. Bedenklich stimmt hingegen, dass seit den achtziger Jahren relativ konstant etwa ein Zehntel jedes Jahrgangs ohne ausreichende schulische Grundqualifikation bleibt. Unter ausländischen Jugendlichen liegt der Prozentsatz von Schulabgängern ohne Abschluss sogar bei über 22 Prozent. Dass in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen jeder Fünfte nicht einmal eine grundlegende Ausbildung genießt, darf sozialdemokratische Politik nicht ignorieren. Denn Bildung ist bekanntermaßen ein wesentliches, mehr noch: das entscheidende Kriterium für die Verteilung von Lebenschancen in unserer Gesellschaft. Berufliche Position und Erwerbseinkommen stehen in engem Zusammenhang mit dem Bildungsabschluss. Mehr als 50 Prozent der Sozialhilfeempfänger verfügen über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Ungelernte fallen etwa fünfmal häufiger unter die Armutsgrenze als Hochschulabsolventen. Die Wahrscheinlichkeit des Arbeitsplatzverlustes war im vergangenen Vierteljahrhundert für Personen ohne Berufsabschluss durchgängig drei- bis sechsmal höher als bei Akademikern.
Diese Entwicklung ist umso Besorgnis erregender, als Bildungsferne in der Regel ein hartnäckiges Phänomen ist und dazu tendiert, sich über mehrere Generationen hinweg zu reproduzieren. Wegen der mangelnden Ressourcen ihrer Eltern sind die Kinder der meist nur gering verdienenden Ungelernten bereits von Geburt an benachteiligt. Sie wachsen in sozial schwachen und infrastrukturell unterentwickelten Wohnquartieren auf, in denen es an geeigneten Freizeitangeboten und Jugendzentren fehlt. Geld für Bücher, für Nachhilfe- und Musikunterricht, für Sportkurse oder Ferienreisen steht in den etwa 12 Prozent der Familien, die in Deutschland in relativer Einkommensarmut leben, ebenfalls kaum zu Verfügung. In manchen Fällen werden die knapp bemessenen finanziellen Ressourcen zudem schlecht eingesetzt und für Videospiele statt Bilderbücher, für Fastfood statt Vollwertkost ausgegeben. So bleibt bis heute für Jugendliche, deren Eltern keinen Schulabschluss besitzen, die Hauptschule die Regelschule. Nur elf Prozent der Söhne und Töchter von Geringqualifizierten besuchen das Gymnasium, dagegen sieben Prozent eine Sonderschule. „Die Frage der Schichtzugehörigkeit und der ungleich verteilten Risikolagen wird wieder relevant“, resümiert folgerichtig das Familienministerium in seinem Bericht über die Lebenssituation junger Menschen aus dem Jahre 2002.
Schon die Kleinsten könnten schlau sein
Dabei ist Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung nicht allein ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Eine umfassende Bildung und Ausbildung möglichst breiter Bevölkerungsschichten sollte unserer Gesellschaft auch aus zwei weiteren Gründen am Herzen liegen:
Erstens verlangt der wissensintensive moderne Arbeitsmarkt den Beschäftigten immer anspruchsvollere Fertigkeiten ab. Zumal in Zeiten, in denen industrielle Arbeiten, die im vergangenen Jahrhundert noch in Deutschland verrichtet wurden, massenweise ins Ausland abwandern, hängt die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes immer stärker von der Bildung und Ausbildung seiner Arbeitnehmer ab. Nie zuvor war unsere Gesellschaft deshalb so sehr auf den Standortvorteil Bildung angewiesen. Um wenigstens im Bereich des viel beschworenen „Humankapitals“ dauerhaft konkurrenzfähig zu bleiben, gilt es somit zu überlegen, wie gerade auch Jugendliche aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien frühzeitig und nachhaltig gefördert werden können.
Wenn man zweitens annimmt, dass schlecht ausgebildete Jugendliche anschließend mit größeren Problemen beim Übergang in den Arbeitsmarkt konfrontiert sind und im Laufe ihres Arbeitslebens häufiger und länger als Hochqualifizierte ohne feste Anstellung bleiben, so muss diese Entwicklung auch angesichts der demografischen Misere unseres Landes bedenklich stimmen. Die Gruppe der Über-60-Jährigen wird sich in Deutschland in den kommenden fünfzig Jahren mehr als verdoppeln. Dann werden 100 Menschen in erwerbsfähigem Alter annähernd 80 Ruheständler gegenüber stehen. Wenn also in Kürze nur noch 1,25 Arbeitsfähige für einen Rentner aufkommen müssen – derzeit liegt das Verhältnis noch bei 2,3 zu 1 – wird es umso bedeutsamer sein, wie fachkundig und somit auch wie produktiv und wirtschaftlich rentabel diese Arbeitnehmer sind.
Nachhaltige und intelligente Bildungspolitik ist, kurzum, eine fundamentale Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft und unserer Sozialsysteme. Angesichts der zuvor geschilderten typischen Bildungsbiografien von Jugendlichen ohne Schul- oder Berufsabschluss wird nun schnell deutlich, dass die Nachwuchsförderung in Deutschland nicht erst im schulpflichtigen Alter beginnen darf und auch nicht auf den schulischen Raum begrenzt bleiben sollte. Untersuchungen deuten vielmehr darauf hin, dass der Grundstein für die späteren kognitiven Kompetenzen eines Menschen in den ersten sechs Lebensjahren gelegt wird. Gerade diese kognitiven Fähigkeiten stellen die Voraussetzung für die Empfänglichkeit für spätere Weiterbildungsmaßnahmen dar und schaffen damit Möglichkeiten, das Herkunftsmilieu zu verlassen, sich wirtschaftlich zu verbessern und auf diese Weise auch dem eigenen Nachwuchs wieder bessere Bildungschancen zu eröffnen. Eine effektive Förderung von Kindern beginnt folglich mit den Vorsorgeuntersuchungen nach der Geburt, sie berührt die Frage der Sicherstellung einer qualifizierten Betreuung in Kindergarten und Schule und betrifft auch das Problem zusätzlicher Bildungsangebote und des Wohnumfeldes. Benachteiligte Sozialräume wie etwa strukturschwache ländliche Gebiete oder auch städtische Ballungszentren mit hohem Migrationsanteil können nur durch Kultur- und Freizeitzentren, durch neue Beschäftigungsinitiativen, durch verbesserten Personennahverkehr und durch Umweltentlastungen vom Trend zur Ghettobildung bewahrt bleiben.
Nicht mehr bloß Geld umverteilen
Bildungspolitik kann aus diesem Grund zukünftig nur gelingen, wenn sie nicht isoliert betrachtet, sondern zugleich als umfassende Sozialpolitik verstanden wird. Sozialpolitik wiederum darf sich nicht länger auf die bloße Umverteilung von Geldmitteln beschränken. Sie muss vielmehr frühzeitige Förderungs- und Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche jeder Altersklasse initiieren, intensives Quartiersmanagement betreiben, überforderten Familien Erziehungshilfen bereitstellen und Eltern in Beratungsgesprächen aufzeigen, wie sie effektiv in die Zukunft ihrer Söhne und Töchter investieren können, damit möglichst viele Menschen gar nicht erst in die Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungsleistungen geraten.
Endlich Sozialpolitik aus einem Guss!
Ohne Zweifel sind bereits in der Vergangenheit zahlreiche Maßnahmen in allen diesen Bereichen ergriffen worden. Eine tatsächlich kohärente Politik zur Verbesserung der Lern- und Lebensbedingungen unseres Nachwuchses scheitert bislang indes noch an den höchst unterschiedlich verteilten Kompetenzen auf diesem Gebiet. Während sich das Familienministerium um die Integration und Förderung ausländischer Jugendlicher und um familiäre Probleme unserer Kinder kümmert, liegt die Infrastrukturpolitik im Verantwortungsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Wohnungswesen. Fiskalische Unterstützungsleistungen verteilt das Sozialministerium. Für die Bildungspolitik schließlich ist zu großen Teilen nicht einmal eine Bundesbehörde zuständig. Im Fall der Schulen zeichnen die Länder, im Fall der vorschulischen Betreuung die Kommunen verantwortlich. „Nirgends gibt es für erfolgreiche Familienpolitik eine bundesweite politische Erfolgskontrolle“, beklagt Ulrich Deupmann in seinem Buch Die Macht der Kinder.
Genau an diesem Punkt muss moderne Sozialpolitik zukünftig ansetzen. Eine Reorganisation der Bundesregierung in der kommenden Legislaturperiode wäre ein Schritt in die richtige Richtung und ein bedeutsames Signal für die Familien im Land. Ein Ministerium mit umfassenden Zuständigkeiten in Sozial-, Familien-, Bildungs- und Wohnungsbaupolitik könnte die Bedeutung von Chancengleichheit beim Zugang von Bildung unterstreichen und endlich Sozialpolitik aus einem Guss produzieren. Der Wirtschaftsstandort und der soziale Wohlfahrtsstaat Deutschland sowie die 27 Prozent unserer Kinder, die derzeit in prekären sozialen Situationen aufwachsen, würden es uns danken.