Stärke und Selbstkritik
Natürlich: Die deutsche Gesellschaft ist längst im Fluss. Die Republik des Jahres 2005 hat ein anderes Gesicht, ein anderes Tempo als noch vor zehn Jahren. Im Grunde sind die Veränderungen seither bemerkenswert, größer jedenfalls als die Leitinterpreten des Refrains von der „German Disease“ Tag für Tag verkünden. Seit bald einem Jahrzehnt steigen die Lohnkosten in Deutschland nicht einmal halb so stark wie im OECD-Durchschnitt. Fast ein Fünftel der Erwerbsarbeit findet hierzulande im Niedriglohnsektor statt. Die Staatsquote ist auf nur 46 Prozent gefallen. Die Last der Sozialbeiträge liegt – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – zwei Punkte niedriger als 1997. Die Einkommenssteuer ist beim Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent auf 15 Prozent gesunken, beim Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent. Die Körperschaftssteuer wurde von 45 Prozent auf nur noch 25 Prozent reduziert. Kurzum: An Reformen, die den deutschen Arbeitsmarkt stärken und Wirtschaftswachstum stimulieren sollten, hat es in sieben Jahren Rot-Grün nicht gefehlt.
Das Ergebnis der Reformen ist jedoch – zumindest bislang – ernüchternd. Mit steter Regelmäßigkeit korrigieren mittlerweile die großen Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Wachstumsprognosen nach unten. Die Arbeitslosigkeit verringert sich kaum. Unternehmen bauen weiterhin großflächig Arbeitsplätze ab. Die Reaktion auf diese enttäuschende Bilanz fiel in den Wahlkampfmonaten dieses Sommers höchst unterschiedlich aus: Noch härtere, noch schmerzhaftere Reformen, ein schonungsloses „Vorfahrt für Arbeit“ und den Rückzug eines überregulierenden Staates aus der Ökonomie postulierten die einen – und brachten sich so um längst sicher geglaubte schwarz-gelbe Mehrheiten. Die anderen forderten im Wahlmanifest „Spielregeln“ und „Leitplanken“ für die Marktwirtschaft und pochten auf das „Primat der Politik“.
Unter einer liberalen und deregulierungsfreundlichen Kanzlerin Merkel, einem christlich-sozialen Wirtschaftsminister Stoiber und einem sozialdemokratischen Vizekanzler könnte sich diese langwierige Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der staatlichen Gestaltung von Wirtschaftspolitik fortsetzen. Dabei brauchen wir beides: die selbstbewusste exekutive Gestaltung moderner Technologiepolitik auf der einen, staatliche Zurückhaltung hinsichtlich der administrativen Belastungen unserer Unternehmen auf der anderen Seite.
Was noch wichtiger ist als Lohnnebenkosten
Ein Feld, auf dem ein stärkeres und vor allem gezielter wirkendes staatliches Engagement unbedingt erforderlich ist, ist die Industriepolitik, besonders im Bereich der neuen Technologien. Ein Hochlohnland wie Deutschland kann im globalen Wettbewerb nur mithalten, wenn es gerade in den innovativen Wirtschaftszweigen Spitzenleistungen erbringt. Denn in diesen sehr produktiven Bereichen mit außergewöhnlich hoher Wertschöpfung sind klassische Wettbewerbsfaktoren wie Lohnnebenkosten oder Arbeitsschutzbestimmungen nahezu unerheblich. Investoren auf der Suche nach einem geeigneten Standort für ein forschungs- und entwicklungsintensives Unternehmen beobachten vielmehr, wo attraktive Märkte, eine geeignete Infrastruktur, hoch entwickelte Produktionsstrukturen, gesellschaftliche Akzeptanz für die entsprechende Technologie und exzellente Forschungsbedingungen zusammentreffen.
Mindestens ebenso wichtig wie die Entlastung des Faktors Arbeit ist für die deutsche Technologiepolitik folglich, wie es um die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung in unserem Land bestellt ist. Auf fünf Punkte kommt es deshalb in Zukunft an:
1. Wir brauchen die richtige Bildungsinfrastruktur. Derzeit fehlt es Deutschland an Studienanfängern in den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fachrichtungen. Bereits durch die Gestaltung der Lehrpläne an den Schulen muss die Politik das Interesse junger Menschen an naturwissenschaftlich-technischen Fragen wecken und unterstützen. In der beruflichen Bildung ist es zudem wichtig, dass Berufsprofile, die durch technologische Innovationen neu entstehen, schnell anerkannt und in das Angebot beruflicher Bildung und Weiterbildung integriert werden.
2. Wir brauchen gesetzliche Rahmenbedingungen, die zu Forschung und Innovation ermuntern. Forschungshemmende Regelungen wie etwa das Gentechnikgesetz müssen auf ihren Nutzen überprüft und, wo nötig, entschärft werden.
3. Wir brauchen verbesserte Wettbewerbsbedingungen für den Mittelstand und für Existenzgründer. Nur wenn ein Unternehmen bereits im Gründungsjahr entwickelt und forscht, stehen die Chancen gut, dass in dem Betrieb auch in den Folgejahren regelmäßige Forschung und Entwicklung stattfindet. Deshalb müssen mittelständische Unternehmen leichteren Zugang zu bereits existierenden Förderprogrammen erhalten und ausdrücklich zur Teilnahme am Forschungsprozess ermuntert werden.
4. Wir brauchen regionale Kompetenzzentren. Hier sollen Wirtschaft und Wissenschaft ihre örtlichen Stärken entdecken und forcieren und anschließend gemeinsam an der Umsetzung von Forschungsergebnissen in neue marktfähige Produkte arbeiten.
5. Wir brauchen mehr Ausgaben für Bildung und Forschung in unterschiedlichen Bereichen der neuen Technologien. Eine eindeutige Vorreiterrolle bei den forschungsintensiven Technologien nimmt Deutschland derzeit einzig in der Automobilindustrie und im Maschinenbau ein. Um nicht in eine fatale Abhängigkeit allein dieses einen technologischen Clusters zu geraten, sondern auch in anderen zukunftsweisenden Branchen wie etwa der Luft- und Raumfahrt, der Mikrosystemtechnik, der Nachrichtentechnik, der Gesundheitsforschung, der Bio- und Gentechnologie oder der Nano- und Umwelttechnologie konkurrenzfähig zu bleiben, müssen die Bundesmittel für Forschung und Entwicklung erhöht werden. In den aufstrebenden Schwellenländern wie China, Indien, Korea, Taiwan oder Singapur sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt um 180 Prozent gestiegen. In den skandinavischen Staaten um 80 Prozent, in den Vereinigten Staaten um 50 Prozent. Demgegenüber nimmt sich die 30-prozentige deutsche Ausgabensteigerung bislang recht mager aus.
Wie sich Bürokratiekosten einsparen lassen
Während auf dem Feld der Technologiepolitik dringend exekutive Gestaltung erforderlich ist, erlegt der Staat der Wirtschaft auf anderen Gebieten unnötige Belastungen auf. Wie bürokratische Bürden gesamtvolkswirtschaftlich gewinnbringend verringert werden können, zeigt ein Beispiel aus den Niederlanden. Dort zählt die Entlastung der Unternehmen von vermeidbaren Bürokratiekosten zu einem der drei Hauptprojekte der laufenden Legislaturperiode. Mit Hilfe des so genannten „Standartkostenmodells“ ist es den Niederlanden als erstem Staat der Welt gelungen, administrative Verpflichtungen, die den Unternehmen durch Informations- und Berichtspflichten gegenüber dem Staat entstehen, im Einzelnen zu quantifizieren. Zum Zeitpunkt der Messung im Jahr 2002 beliefen sich die Kosten für die betrieblichen Berichtspflichten auf über 16 Milliarden Euro, etwa 3,6 Prozent des niederländischen Bruttoinlandsproduktes. Bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2007 will die niederländische Regierung nun die administrativen Belastungen für Unternehmen um ein Viertel reduzieren und den Betrieben damit jährliche Einsparungen von etwa 4,1 Milliarden Euro ermöglichen. Selbst die Projektkosten mit eingerechnet, erwartet die niederländische Regierung hierdurch eine Stimulierung des Bruttoinlandproduktes um 1,5 Prozent.
Großbritannien und Schweden haben das niederländische Verfahren mittlerweile ausführlich geprüft und mit dem Standartkostenmodell eigene Kalkulationen zur Höhe der nationalen Bürokratiekosten durchgeführt. Dänemark ist bereits einen Schritt weiter und hat sich, ganz wie die Niederlande, auf Einsparungen von 25 Prozent der nationalen Bürokratiekosten verständigt.
Unterstellt man, dass die derzeitigen gesetzlichen Informations- und Berichtspflichten in Deutschland ein vergleichbares Ausmaß erreichen wie in den Niederlanden, dann betragen die administrativen Belastungen in der Bundesrepublik über 78 Milliarden Euro. Gelänge es in Deutschland durch intensive Gesetzesfolgenabschätzung, den bürokratischen Aufwand für Unternehmen ebenfalls um ein Viertel zu reduzieren, könnte sich also ein Einsparpotenzial von annähernd 20 Milliarden Euro jährlich ergeben – gehörige Summen, die die Unternehmen stattdessen in neue Arbeitskraft oder in Forschung und Entwicklung investieren könnten.
Wegen ihrer immensen volkswirtschaftlichen Bedeutung werden Technologiepolitik und Bürokratieabbau zwei Hauptarbeitsfelder zukünftiger Wirtschaftspolitik sein. Insofern brauchen wir einen Staat, der beides ist: stark und gestaltungsfähig im Bereich der Industriepolitik, zurückhaltend und selbstkritisch in der Frage der administrativen Belastungen. Vielleicht ist ein großkoalitionäres Bündnis der formativen sozialen Lager dieser Republik dafür keine schlechte Grundlage.