Für eine Kultur des Lebens und der Freiheit
In Deutschland wird (erneut) über ein Gesetz diskutiert, das die organisierte Beihilfe zur Selbsttötung regulieren soll. Doch soll es ein solches Gesetz überhaupt geben? Und wenn ja, was soll und kann es regeln? Schnell weitete sich die Debatte auf die Rolle der Ärzte bei einer Suizid-assistenz, auf die Palliativmedizin und die Hospizbewegung aus. Später drang sie zu der grundlegenden Frage vor, wie Menschen in Deutschland eigentlich an ihrem Lebensende versorgt und begleitet werden sollten, wie sie sterben wollen und wie es unsere Gesellschaft mit Selbstbestimmung und der Wertschätzung des Lebens hält. Es ist gut, dass der Bundestag der so wichtigen, breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Fragen Zeit lässt.
Geschichten über das Sterben
Jeder von uns kann eine Geschichte über das Sterben erzählen. Die Geschichte der Großmutter, die mit 87 Jahren die Endlichkeit des Lebens akzeptiert und mit ihrer Familie alles Wesentliche besprochen hatte, irgendwann friedlich zu Hause einschlief und einfach nicht mehr aufwachte. Oder die Geschichte der Tochter, die einige Jahre lang mit aller Kraft gegen den viel zu früh ausgebrochenen Brustkrebs kämpfte und ihren Mann mit den drei Kindern schließlich doch allein zurücklassen musste. Oder die Geschichte des Vaters, der über Jahre unter einer unerbittlich fortschreitenden Demenz litt und seine Familie mit Aggressionen und merkwürdigsten Eigenwilligkeiten an die Grenze der Belastbarkeit führte, und manchmal auch darüber hinaus. Und vielleicht auch die Geschichte des Partners, der nach mehreren Schlaganfällen pflegebedürftig wurde und sich zwischendurch den Tod wünschte, weil er nichts mehr von dem tun konnte, was ihm immer wertvoll war. Solche Geschichten haben Einfluss auf unsere Angst. Unsere Angst davor zu sterben, Schmerzen zu haben, abhängig zu sein, den eigenen Verstand zu verlieren. Wir schöpfen aus ihnen Zuversicht oder Befürchtungen. Solche Geschichten sind auch Erfahrungen, die unseren Einstellungen zugrunde liegen. Sie geben unseren moralischen Bewertungen ihren biografischen Anker, ihre Farbe, ihren Klang. Aber dürfen sie auch unser ethisches Urteil prägen?
Jeder Mensch hat seine eigenen – mehr oder weniger bewusst reflektierten – Vorstellungen von einem gelingenden, einem guten Leben. Dazu gehört als Teil des Lebens auch das Sterben. Es sind höchstpersönliche Vorstellungen, die sich im Laufe des Lebens mit all seinen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Bedingtheiten bilden und die sich wandeln können. Wenn es zu diesen Vorstellungen gehört, das Leben auch mit schweren Leiden anzunehmen und die medizinischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung auszunutzen, steht uns darüber kein Urteil zu. Es steht uns ebenso wenig ein Urteil zu, wenn es zu diesen Vorstellungen gehört, ein Leben mit bestimmten Einschränkungen und Belastungen für sich selbst als nicht mehr sinnvoll zu empfinden und auf alle medizinischen Möglichkeiten der Lebenserhaltung zu verzichten, ja möglicherweise sogar auf irgendeine Weise den eigenen Tod herbeiführen zu wollen. Solche individuellen Vorstellungen haben und verwirklichen zu dürfen, gehört zur Selbstbestimmung des Menschen. Er bestimmt in ihnen und in seinen daraus folgenden Handlungen sein Selbst.
Wertschätzung als Normalität
Wenn ein Mensch solche Vorstellungen für sich selbst hat, besitzt er noch lange nicht das Recht, sie allen Menschen vorzuschreiben. Individuelle Wertüberzeugungen sind noch keine ausreichenden Gründe für universelle ethische Normen, die für jedermann verbindlich sind. Von einer überpersönlichen Perspektive aus lässt sich weder begründen, dass ein Leben gegen den Willen des Betreffenden auch um den Preis schweren Leidens besser zu erhalten ist, noch lässt sich begründen, dass Leiden auch um den Preis des Lebens zu vermeiden ist. Argumentieren lässt sich aber, dass das Leben als Voraussetzung dafür, sein Leben führen zu können, ein hohes ethisches Gut ist, dessen Wertschätzung auch unter den Bedingungen von Einschränkungen und Leiden gewährleistet sein muss: Wertschätzung zwischen den einzelnen Menschen und Wertschätzung als gesellschaftliche, auch institutionell verbürgte Normalität.
Es besteht ein komplexes Verhältnis der Wechselwirkung zwischen gelebten Üblichkeiten, moralischen Normen und rechtlichen Regeln. Von dem, was sich als üblich und normal erweist, gibt es angesichts komplizierter Einzelfallkonstellationen und außergewöhnlicher Umstände Ausnahmen. So ist es auch beim Umgang mit Menschen, die sich den eigenen Tod wünschen. Glücklicherweise ist es die Ausnahme, dass Menschen sich nach reiflicher Überlegung selbst töten wollen. Hinter dem Wunsch zu sterben verbergen sich erfahrungsgemäß oft andere Wünsche. Oft wechselt sich ein Todeswunsch mit dem Wunsch zu leben ab, oder beide Wünsche bestehen gleichzeitig.
Wenn man nun diesen Ausnahmen angesichts des unbestreitbaren moralischen und gesetzlichen Rechts auf Selbstbestimmung zumindest in bestimmten nachvollziehbaren Konstellationen Raum geben möchte, ist zunächst darauf zu achten, dass diese Ausnahmen nicht zum Normalen werden. Dabei kommt es nicht vorrangig auf die Häufigkeit an, sondern auf die Einstellung. Eine Gesellschaft sollte sorgsam darauf achten, dass sich jeder Mensch in ihr willkommen und aufgehoben fühlt – unabhängig davon, was er kann und welche Unterstützung er braucht. Niemand sollte den Weg in den Tod wählen, weil er den Eindruck hat, es sei für andere besser. Und auch wenn ein Mensch sich seinen Tod nicht mit Blick auf andere wünscht, sondern ausschließlich aus Gründen, die ihn selbst betreffen, sollte eine Gesellschaft dafür sorgen, dass er diesen Wunsch überdenkt und andere Wege in Betracht zieht.
Wenn kein anderer Ausweg mehr bleibt
Was aber, wenn ein Mensch auch nach langer und gründlicher Auseinandersetzung sein Leben beenden möchte? Ein solch ernsthafter und gründlich erwogener Entschluss, der nicht aus einer Krankheit heraus entsteht, sondern auf sie reagiert, wird wohl nur bei Menschen heranreifen, die zutiefst leiden und keinen anderen Ausweg daraus mehr erkennen können. Sie haben lange – wahrscheinlich immer mit ärztlicher Hilfe – gegen eine Krankheit gekämpft.
Die einseitige Berufung auf den Vorrang der Selbstbestimmung kann hier allzu schnell zur Banalisierung der schlechthin existenziellsten Entscheidung werden, der Entscheidung über den Tod. Die einseitige Berufung auf den Wert des Lebens kann hingegen die Missachtung der moralisch so bedeutsamen Vorstellung eines leidenden Menschen über sein Sterben bedeuten, dem Sterben als Teil des Lebens. Beide Facetten der Ignoranz sollten wir deutlich vor Augen haben, wenn unsere Gesellschaft in diesen Monaten um den besten Weg ringt, mit Menschen umzugehen, die sich nach reiflicher Überlegung ihren eigenen Tod wünschen.
Es gibt viele Wege, sich das Leben zu nehmen. Die Wege, die ein Mensch dazu ohne Hilfe gehen kann, sind beschwerlich, belastend, grausam – für den Betreffenden selbst und für die Menschen seiner Umgebung. Die meisten Wege entsprechen nicht dem, was man als Sterben unter würdevollen Umständen ansieht. Um das Sterben würdevoll durchleben zu können, bedarf es – schon ganz unabhängig von einem Todeswunsch – zumeist medizinischer Mittel, um belastende Symptome wie Schmerzen, Atemnot oder Unruhe zu beherrschen. So kann ein Arzt den Verzicht auf Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr – das so genannte Sterbefasten – je nach Bedarf leidensmindernd begleiten, oder er kann eine mehr oder weniger tiefe und lang andauernde Sedierung des Patienten herbeiführen.
Medizinische Mittel wie etwa das Natriumpentobarbital sind es auch, die für eine medikamentös bewirkte Selbsttötung unter würdevollen Umständen gebraucht werden. Es sind dieselben Mittel, die Ärzte üblicherweise für lebensorientierte Zwecke verwenden. Wollen wir, dass sie diese auch im Rahmen einer Beihilfe zur Selbsttötung zur Verfügung stellen dürfen? Oder sollen nichtärztliche Beihelfer Zugang zu solchen Mitteln haben? Oder soll der Zugang zu solchen Mitteln zum Zweck der Selbsttötung vollständig versperrt sein?
Wozu Organisationen sich nicht eignen
Wenn ein Mensch so schwer leidet, dass er aus diesem Leben scheiden möchte, und wenn es keinen anderen Weg mehr gibt, sein Leiden zu lindern, und wenn der Entschluss zur Selbsttötung über längere Zeit besteht und alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, einen auch noch bestehenden Lebenswillen zu entdecken und zu fördern, und wenn es einen Menschen an seiner Seite gibt, der bereit ist, ihm zu helfen, dann sollte eine Gesellschaft den Wunsch dieses Menschen respektieren und ihn nicht alleine lassen.
Organisationen scheinen mir für eine solche Hilfe allerdings ungeeignet zu sein. Sie befördern die zu vermeidende Vorstellung, dass die Selbsttötung etwas Normales sei. Zudem ist es – wenn überhaupt – ohne erheblichen regulatorischen und bürokratischen Aufwand nicht möglich zu kontrollieren, dass sie darauf achten, einem versteckt noch vorhandenen Lebenswunsch gerecht zu werden, und achtsam prüfen, ob die Entscheidung des Betreffenden in gründlicher Auseinandersetzung erfolgt und stabil ist.
Es geht um weit mehr als ein Gesetz
Bleibt noch der Arzt als möglicher Helfer, der Zugang zu den Mitteln hat und die Situation medizinisch einzuschätzen weiß. Eine Beihilfe zur Selbsttötung gehört nicht zu seinen Aufgaben, das steht zutreffend in den Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung der Bundesärztekammer. Gleichwohl ist er derjenige, der den Patienten in der Krankheit bis zu dem Punkt begleitet hat, an dem er sich den Tod als letzten Ausweg aus dem Leiden wünscht. Wenn der Arzt es unter den oben genannten Voraussetzungen und vielleicht unter Einbeziehung psychologischer Expertise in die Betreuung des Patienten mit seinem Gewissen vereinbaren kann, ihn auch auf diesem allerletzten Weg zu begleiten, und wenn diejenigen Landesärztekammern, die ärztliche Suizidbeihilfe derzeit untersagen, die Gewissensentscheidung anerkennen, dann wird das der ärztliche Berufsstand nach meiner Einschätzung ohne Verlust seiner Integrität und seines Ansehens in der Öffentlichkeit verkraften. So können Selbstbestimmung und Hilfe zusammen finden, und gleichzeitig kann eine Suizid-assistenz in der Intimität dieser existenziellen Situation den Charakter der tragischen Ausnahme bewahren.
Wenn wir eine solche Kultur des Lebens und der Freiheit wollen, meint das weit mehr als ein Gesetz zu verabschieden – sei es etwa im Straf- oder im Vereinsrecht oder als Änderung des Betäubungsmittelrechts. Eine solche Kultur erfordert gute Rahmenbedingungen für die Versorgung und Begleitung von Menschen, die schwer leiden, eine kraftvolle Förderung der stationären und ambulanten palliativmedizinischen Versorgung sowie der Pflege durch finanzielle Unterstützung und durch Wertschätzung, eine gute Forschung und nicht zuletzt eine Bewusstseinsbildung in der ganzen Gesellschaft.
Eine Kultur des Lebens und der Freiheit beruht auf einer gelebten gesellschaftlichen Praxis, an jedem Tag, an allen Orten, in jedem Herzen. Eine solche Kultur wünsche ich mir in dieser Gesellschaft.