Für einen positiven Jugendschutz

Unsere Gesellschaft muss die Augen offen halten, wenn Kinder und Jugendliche in gefährliche Parallelwelten abdriften. Nicht immer restriktivere Maßnahmen sind geboten, sondern mehr Anerkennung und bessere Zukunftsperspektiven

Gewaltverherrlichende Computerspiele, gesundheitsschädigendes Rauchen, exzessive Flatrate-Parties, frauenverachtende Rap-Konzerte – bei solchen Themen wird schnell nach einem schärferen Jugendschutz gerufen. Einigkeit besteht unter Fachleuten darin, dass der Staat Jugendliche vor Bedrohungen ihrer Gesundheit und Entwicklung schützen muss. Doch wie das geschehen soll, ist umstritten.

 

Der „Fall Marco“ und die viel diskutierten Haftbedingungen an der türkischen Riviera haben auch unser Sexualstrafrecht in den Blickpunkt gerückt. Wenn Jugendliche oder Erwachsene sexuelle Handlungen an unter 14-jährigen Kindern vornehmen, gilt dies in Deutschland ebenso als strafbarer Missbrauch wie in anderen Ländern. Dabei geht es gar nicht um Sexualmoral, sondern um die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern, denen trotz körperlicher Geschlechtsreife häufig die mentale Reife fehlt.

 

Derzeit wird das Strafgesetzbuch geändert, so dass künftig nicht nur die Abbildung sexuellen Missbrauchs, sondern auch das aufreizende Zurschaustellen von Kindern strafbar sein wird. Im Zuge der Anpassung an eine EU-Richtlinie weitet die Große Koalition außerdem das Verbot von Kinderpornografie auf die Jugendpornografie aus. Darüber hinaus wird der Missbrauch von 16- und 17-Jährigen durch „sexuelle Handlungen gegen Entgelt“ strafbar.

 

Was ist „jugendgefährdend“? Die Antworten auf diese Frage unterliegen einem ständigen kulturellen Wandel. Früher war der Jugendschutz noch einfach gestrickt, im Blickpunkt stand die Sexualmoral. „Ab 6“, „ab 12“, „ab 16“ und „ab 18“ hieß es damals wie heute an der Kinokasse. So wurde eindeutig festgelegt, für welche Altersgruppen ein nackter Frauenbusen akzeptabel ist. Ob zugleich beispielsweise ein reaktionäres Frauenbild transportiert wurde, war den Jugendschützern egal.

 

Mit den Eltern Pornos gucken

 

Heute diskutieren wir beim Jugendmedienschutz zumeist über Gewaltdarstellungen. Eine Debatte, die weniger um Moral, sondern um die in unserer Gesellschaft vertretenen Werte kreist. Gleichzeitig hat der Jugendschutz an Einfluss verloren. Denn im Internet lassen sich die entsprechenden Bestimmungen leicht umgehen. Hinzu kommt, dass immer mehr Eltern entweder nicht fähig oder unwillig sind, den Medienkonsum ihrer Kinder zu kontrollieren. Der Stern will sogar herausgefunden haben, dass viele Eltern gemeinsam mit ihren Kindern Pornos gucken.

 

Einerseits brauchen wir gesellschaftliche Werte und Regeln, die ausdrücken, welche Produkte für Kinder und Jugendliche akzeptabel sind. Andererseits nützt eine reine Prohibitionspolitik nichts. Selbst wenn Verbote bis zum 18. Geburtstag konsequent eingehalten würden, wären sie kontraproduktiv. Schrittweise müssen die Jugendlichen lernen, mit den vielen Verlockungen selbstständig und verantwortungsbewusst umzugehen.

 

Ein gutes Beispiel für fehlgeleitete Jugendschutzpolitik ist die Anhebung des Mindestalters für das Rauchen auf 18 Jahre. Die Maßnahme ist ein reines Placebo, mit dem die Gesundheitspolitiker des Bundes ihre Hilflosigkeit kaschieren wollen. Da sie aufgrund einer Vereinbarung der Großen Koalition das Arbeitsschutzrecht nicht verändern durften und die Gaststättenverordnung Ländersache ist, blieb ihnen nur das Jugendschutzgesetz als Handlungsfeld. Dabei sind gar nicht die 17-jährigen Raucherinnen und Raucher das Hauptproblem, sondern die 11- bis 13-Jährigen, die sich ohne Zigarette kaum eine Schulstunde lang konzentrieren können. Außerdem müssen wir unbedingt verhindern, dass Erwachsene in der Gegenwart von Kindern Zigaretten konsumieren. Schätzungen zufolge raucht etwa die Hälfte aller Kinder regelmäßig passiv. Verkehrte Welt: Wir verbieten 17-Jährigen das Rauchen und erlauben es in der Umgebung von Einjährigen.

 

Immerhin: Heute rauchen immer weniger Jugendliche im Alter zwischen 12 und 17 Jahren. Der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge ist der Anteil der Raucher in dieser Altersgruppe von 28 Prozent im Jahr 2001 auf derzeit 18 Prozent gesunken. Diesen Erfolg kann sich jedoch nicht allein der Gesetzgeber auf die Fahnen schreiben; auch wenn Restriktionen beim Automatenverkauf, eine höhere Tabaksteuer und Werbeeinschränkungen sicher ihren Teil zu diesem Erfolg beigetragen haben. Letztlich hat die öffentliche Debatte dazu geführt, dass Zigarettenkonsum inzwischen vielerorts als „uncool“ gilt:

 

Jetzt steigen die Zahlen wieder

 

Zugleich ist der Alkoholkonsum gestiegen. Nachdem die so genannten Alcopops mittels einer Sondersteuer – und eben nicht durch Verbote – sehr wirkungsvoll zurückgedrängt wurden, gab es im Jahr 2005 zunächst einen deutlichen Knick in der Statistik. Jetzt steigen die Zahlen wieder: Der Anteil der 12- bis 17-Jährigen, die mindestens einmal pro Woche Alkohol trinken, ist seit dem Jahr 2004 von 21 auf 22 Prozent gestiegen, die durchschnittlich konsumierte Gesamtalkoholmenge sogar von 44 auf 50 Gramm wöchentlich. An die Stelle der Alcopops sind Bier, vergleichsweise alkoholarme Biermixgetränke und harte Spirituosen getreten.

 

Im Rahmen der öffentlichen Diskussion über den Alkoholkonsum von Jugendlichen sind zudem die Flatrate-Parties in die Kritik geraten. Auch hier gilt: Neue Verbote helfen nicht. Schon heute darf ein Gastwirt an erkennbar betrunkene Menschen keinen Alkohol ausschenken – und zwar unabhängig vom Alter. Härtere Spirituosen darf er Jugendlichen sowieso nicht verkaufen. Das kommunale Ordnungsrecht schafft an dieser Stelle eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten.

 

Computerspiele machen dick und dumm!

 

Wir haben also kein Gesetzesdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit. Verschärfungen des Jugendschutzgesetzes sind grober Unfug, solange sie sich anschließend als Lachnummer herausstellen. Wer glaubt denn im Ernst, dass sich 17-Jährige von dem gesetzlichen Rauchverbot beeindrucken lassen? Letztlich erschwert das Gesetz Jugendheimleitern, Lehrern oder Betreuern nur die Arbeit.

 

Zum Konsum von „Killerspielen“ erhebt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung keine Zahlen. Dabei sind die Spiele schlecht für die Gesundheit: Sie machen dick, dumm und gewalttätig. Das Suchtpotenzial vieler Computerspiele ist enorm, egal ob sie Gewaltdarstellungen enthalten oder nicht. Dennoch gibt es zu diesem Thema erstaunlich wenig wissenschaftliche Erkenntnisse. Besonders gefährlich sind die virtuellen Welten von „World of Warcraft“ und „Second Life“. Für viele Menschen sind diese Spiele nichts anderes als eine Flucht vor sozialen Bindungen, eine Flucht in ein „zweites Leben“. Welche Antworten die Gesellschaft auf dieses Phänomen geben kann, ist noch völlig offen.

 

Dabei ist klar, dass Computerspiele nicht per se dumm machen. Es gibt pädagogisch wertvolle Lernspiele oder das erfolgreiche „Sims“, das das strategische Denken schult. Doch es hat psychische und soziale Folgen, wenn Spiele süchtig machen und einen Ausstieg aus dem realen Leben mit sich bringen. Nicht von ungefähr besteht zwischen Computerspielkonsum und schlechten Schulleistungen ein unmittelbarer Zusammenhang. Wer nachmittags stundenlang vor dem Bildschirm hockt, hat logischerweise keine Zeit zum Lernen. Das gilt grundsätzlich auch für das Fernsehen. Die emotionalen Erlebnisse während eines Computerspiels würden die Schulerlebnisse und Lernerfolge in den Schatten stellen, so der Kriminologe und Jugendforscher Christian Pfeiffer. Besonders bei Jungen sei eine regelrechte „Medienverwahrlosung“ festzustellen. Pfeiffer hat nachgewiesen, dass Kinder aus reichen süddeutschen Städten seltener ein eigenes Bildschirmgerät besitzen als Kinder in den Städten des Ruhrgebiets, wo besonders viele Empfänger von Arbeitslosengeld II leben. Bildungsarmut und hoher Fernseh- und Computerspielkonsum hängen also zusammen.

 

Viele Eltern können ihre Kinder nicht fördern

 

Diese Formen der Verwahrlosung werden wir mit restriktiven Jugendschutzregelungen kaum nachhaltig eindämmen können. Wichtiger wäre es, endlich flächendeckend Ganztagsschulen einzuführen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass viele Elternhäuser ihre Kinder längst nicht mehr so fördern können, wie es das Halbtagsschulsystem voraussetzt. Entgegen mancher Vorurteile existieren solche Defizite seltener in Familien, in denen beide Eltern erwerbstätig sind. Im Gegenteil, die „Medienverwahrlosung“ ist dort am häufigsten, wo kein Elternteil arbeiten geht. Viele arbeitslose Eltern schauen selbst exzessiv fern. Es gibt keine Alternative: Die Gesellschaft muss mehr Verantwortung für Kinder übernehmen.

 

Zwischen Computerspielen und Gewalt gibt es keinen eindeutigen Zusammenhang. Selbstverständlich sind nicht alle Konsumenten von Killerspielen gewalttätig. Es erkranken ja auch nicht alle Raucher an Lungenkrebs. Doch dass brutale Spiele und Gewalt überhaupt nicht miteinander zusammenhängen, behaupten nur noch einige Lobbyisten. Trotz statistischer Hinweise tut sich die Wissenschaft mit zweifelsfreien Belegen schwer. Unklar ist, wie sich Gewaltdarstellungen auf das Verhalten der Spieler in der Realität auswirken und ob bestimmte Spiele tatsächlich die Ursache von Aggressivität sind.

 

Das Hamburger Hans-Bredow-Institut kommt zu dem Ergebnis, dass die bisher vorgelegten Studien sehr uneindeutig, zum Teil sogar widersprüchlich sind. Dagegen heißt es im aktuellen Evaluationsbericht zum Jugendmedienschutz, verschiedene Analysen hätten einen Zusammenhang zwischen Gewaltspielen und abnehmender Empathie sowie asozialem Verhalten nachgewiesen.

 

Nahezu alle Studien bestätigen, dass die Spiele besonders bei denjenigen Jugendlichen, die ohnehin zu Gewalt neigen, zu gewalttätigem Verhalten führen können. Dennoch ist es reiner Populismus, deshalb ein Verbot sämtlicher Killerspiele zu fordern. Mit gutem Grund setzt unser Rechtssystem Eingriffen in die Kommunikations- und Kunstfreiheit enge Grenzen. Absolute Verbote sind nur auf wenige Bereiche wie nationalsozialistische Propaganda oder Kinderpornografie beschränkt. Auch würde uns ein Totalverbot in einer falschen Sicherheit wiegen. Per Gesetz lassen sich so tragische Vorfälle wie die in Erfurt oder Emsdetten nicht verhindern.

 

Der Jugendschutz muss durch eine Mischung aus gezielter Aufklärung und sinnvoller Altersbeschränkung deutlich machen, welche Grenzen und Werte in unserer Gesellschaft gültig sind. Er wird ständig Gegenstand der Diskussion sein. Immer wieder muss nachjustiert werden, sowohl beim Vollzug als auch bei den Normen. So gehört derzeit zum Beispiel die überkommene Altersabstufung auf den Prüfstand, die sich an den Moralvorstellungen der sechziger Jahre orientiert. Verändert werden muss auch die seit dem Jahr 2003 geltende Neuerung, dass Kinder unter 12 Jahren einen „ab 12“ freigegebenen Kinofilm gucken können, wenn sie in Begleitung ihrer Eltern sind. Dass die großen Kinoketten diese Filme seither mit „ab 6“ bewerben, war nicht Ziel der Reform.

 

Die Industrie fürchtet die Indizierung

 

Erfolg brachte die Einführung einer Altersklassifizierung bei Bildschirmspielen im Rahmen der letzten Jugendschutznovelle. Nun gibt es erstmals ein verbindliches Hinweissystem der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), an dem sich Eltern orientieren können. Doch das System hat einen Haken: Viele Jugendliche halten die Kennzeichen „ab 16“ und „ab 18“ für ein besonderes Qualitätsmerkmal. Hier liegt einiges im Argen, zumal laut Hans-Bredow-Institut drei Viertel aller Jugendlichen behaupten, Zugang zu nicht-altersgemäßen Spielen zu haben. Sie bekommen die Spiele von Freunden, im Internet und in Geschäften, die nur lasch kontrollieren. 18 Prozent von ihnen geben an, ihre Eltern würden ihnen die Spiele besorgen.

 

Ein großes Problem der Alterskennzeichnung durch eine freiwillige Selbstkontrolle ist, dass die betreffenden Titel nicht mehr von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien überprüft und gegebenenfalls indiziert werden. Das HBI nennt zwölf von der USK klassifizierte Spiele, die laut dem Kriminologischen Forschungsinstituts von Christian Pfeiffer die Indizierungskriterien erfüllen. Darunter sind auch Titel, die „ab 16“ freigegeben sind. Selbst die von der USK „ab 18“ freigegebenen Spiele sind im freien Verkauf erhältlich. Die Bundesprüfstelle hingegen hätte diese Titel aus dem Verkehr gezogen oder in Geschäftsräume verbannt, die für Jugendliche unzugänglich sind. Außerdem hätte sie ein Werbeverbot erlassen. Die Industrie fürchtet die Indizierung, die im Vergleich zur zahnlosen USK-Kennzeichnung härtere Konsequenzen nach sich zöge, etwa erhebliche Umsatzrückgänge.

 

Verschärfter Jugendschutz hilft nicht weiter

 

Bezüglich der Spielerbewertungen der USK sieht das Hans-Bredow-Institut „in Einzelfällen beobachtbare mögliche Schwachpunkte“. Ihre Gutachten seien von sehr „unterschiedlicher Struktur, Differenziertheit und Qualität“. Dass der Spiegel daraus folgert, der Jugendmedienschutz habe „deutliche Schwachpunkte“, ist schlicht falsch. Sicher könnte die Arbeit der USK noch verbessert werden. Doch das HBI stellt unmissverständlich fest, dass sich die Rahmenbedingungen für einen effektiven Jugendmedienschutz aufgrund der Reform im Jahr 2003, die endlich auch die Computerspiele erfasste, insgesamt verbessert haben.

 

Gesellschaftliche Fehlentwicklungen lassen sich durch Verschärfungen im Jugendschutz nicht aufhalten. Wenn ein Rapper zu Gewalt gegen Frauen aufruft, ist dies eine Straftat, die bestimmt nicht von der Kunstfreiheit gedeckt ist. Mit dem Jugendschutz hat das aber nichts zu.

 

Eine Gesellschaft muss die Augen offen halten, wenn Kinder und Jugendliche in gefährdende Parallelwelten abtauchen. Statt immer restriktivere Maßnahmen einzuführen, muss sie dafür sorgen, dass Jugendliche mehr Anerkennung und mehr Zukunftsperspektiven erhalten. Wir brauchen einen positiven Jugendschutz, der junge Menschen vor Bildungsarmut, Perspektivlosigkeit und Langeweile bewahrt.

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