Gegenpol zur Werberwelt
Stauss ist Werber durch und durch. Sympathisch und sozialdemokratisch. Früher fuhr er mit seinem Bonanzarad zur Schule – daran befestigt waren SPD-Wimpel. Seine Eltern wurden fröhlich, wenn Helmut Schmidt im Fernsehen auftauchte, aber SPD-Aufkleber ans Familienauto pappen durfte Frank trotzdem nicht. Er hat sie dann auf der Autobahn an die Heckscheibe gehalten und die Reaktionen beobachtet: „Mal wurde gewunken, mal gehupt – manchmal gab’s Ärger.“ Später engagierte er sich in der Schüler-Mitverwaltung. Das war in Wiesloch, einem kleinen Ort in Baden-Württemberg. Die heutige Bundestagsabgeordnete Ute Vogt war seine Klassenkameradin. Zusammen mit ihr rief er beim örtlichen SPD-Abgeordneten der SPD an, um eine Juso-AG zu gründen. Irgendwann vertrat Oskar Lafontaine die Position, eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich sei Quatsch. Stauss fand, dass er Recht hatte, und sagte das auch. Daraufhin wurde er als örtlicher Juso-Vorsitzender abgewählt.
Das Oberwasser betritt man durch eine blau gestrichene, etwas erhöhte Wohnungstür. Um hereinzukommen, muss man diese private Schwelle nehmen. Die Speisekarte ist eine tragbare Tafel, die im Raum steht und vergleichsweise umfangreich ausfällt – jedenfalls wenn man bedenkt, dass Wirtin Ursula Weigert normalerweise allein im Laden steht, Bier zapft, bedient und alle Gerichte zubereitet: „Ich kombiniere jedes Essen für jeden Gast neu. Und die Kräuter wachsen im Garten.“ Das Saltimbocca vom Huhn ist fantastisch (13,80 Euro). Es wird mit kleinen, ganzen Kartoffeln und frischen Pilzen serviert. Der Fond wird in einer Karaffe dazugestellt.
Ursula Weigert hat Spaß an der Arbeit und ihren Vertrag gerade verlängert. Dieses Jahr feiert sie ihr 15-jähriges Jubiläum. Man merkt ihr den Spaß an – und schmeckt ihn auch. Ende April finden an drei Tagen in der Woche kulturelle Veranstaltungen im Oberwasser statt – Lesungen, Jazzmusik, Klezmer. „Fast schon zuviel“, sagt die Wirtin. Das Publikum ist vornehmlich älteren Semesters, Frank Stauss wird persönlich begrüßt. „Du musst dich hier etablieren“, sagt er. Doch so schwer scheint das gar nicht zu sein, andere Gäste werden ebenfalls sehr freundlich begrüßt.
Beim Warten aufs Essen kommt Frank ins Erzählen. Bei Al Gore machte er ein Praktikum. Mit dessen Empfehlung konnte er im Wahlkampfteam von Bill Clinton einsteigen. Bottiche an Post gehörten im „Mailing Room“ der Wahlkampfzentrale zu seinen Aufgaben: Briefe an Bill, an Hillary, an Al, an dessen Frau, an die Kinder und an Socks, Bill Clintons Katze. Frank und seine Kollegen sortierten die Post nach „Unterstützer“, „Unentschiedene“ und „Hate Mail“. Beantwortet wurden nur die Briefe der „Unentschiedenen“. Es fehlte an Manpower, Zeit, Geld. Aber so war es effektiv. „Auf jede Frage gab es eine vorbereitete autorisierte Antwort“, berichtet Stauss. Und jeder Praktikant, jeder Student aus Deutschland konnte seine Ideen einbringen . „Es zählte nicht die Hierarchie. Wenn die Idee gut war, wurde sie genommen.“
Um diese Erfahrungen reicher, schrieb Stauss ein Papier, die „Anleitung zum Glücklichsein“, und schickte es dem SPD-Vorsitzenden Björn Engholm. Wenig später wurde er – vermittelt vom damaligen Bundesgeschäftsführer Karl-Heinz Blessing – von Werner Butter eingeladen. So wurde er Werber. Ein bisschen, so mein Eindruck, hat er amerikanischen Wahlkampf nach Deutschland gebracht.
Stauss bekommt seine Bratkartoffeln mit Spiegeleiern serviert (8,80 Euro), und wir unterhalten uns über die Bundestagswahl 2009. „Das war von Anfang an verkorkst, eine schlechte Ausgangslage.“ Wenn Kurt Beck am Schwielowsee die Hintertreppe nimmt, können Wahlkampagnen nur noch begrenzt helfen. „Eigentlich wurde in der Großen Koalition gute sozialdemokratische Politik gemacht, doch das kam bei den Leuten nicht an. Den Linksruck hat die SPD schon 2005 verbal vollzogen. Dann kamen noch ein paar schwierige Symbolthemen hinzu wie die Rente mit 67 und die Mehrwertsteuererhöhung. Und die Angst vor Schwarz-Gelb reichte alleine nicht mehr. Die Leute wussten nicht mehr, woran sie mit der SPD sind.“ Der Deutschland-Plan von Frank-Walter Steinmeier sei „richtig“ gewesen, eine „völlig unterschätzte Leistung“. Aber: „Die Journalisten wollten damals mit nach vorn gerichteten Programmen nicht umgehen.“ Und viele Menschen seien „wütend“ gewesen über die Ankündigung, vier Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen – weil sie sich fragten, warum die Regierung das dann nicht schon vorher in Angriff genommen hatte.
Wie Meinungsforschung wirklich funktioniert
Was Stauss hier sagt, beruht auf den Ergebnissen aus so genannten Fokus-Gruppen. Das geht so: In Wahlkampfzeiten stellt ein Meinungsforschungsinstitut Gruppen mit 8 bis 10 Personen zusammen. In Frankfurt, Dresden, Berlin und anderswo. Die Gruppe wird nach ihrer Meinung zur SPD befragt. Meistens moderiert ein Psychologe. Im Nebenraum sitzen die Werber und hören zu. Im Prinzip handelt es sich um stinknormale Marktforschung. Pro Ort werden jeweils zwei Gruppen gebildet: eine mit traditionellen sozialdemokratischen Wählern, die andere mit modernen SPD-Wählern. Für die dritte Gruppe, die Konservativen, fehlt meistens das Geld. Und die Leute in den Gruppen erzählen dann.
Eigentlich benötige man für eine gute Kampagne genügend Zeit, sagt Stauss, „so anderthalb Jahre“. Diese Zeit gab es 2009 nicht. „Du musst dich einstellen auf den oder die Kandidatin. Jeder hat so seinen Panzer, und es kann dauern, bis du den durchdringst.“ Gut laufe es derzeit in Nordrhein-Westfalen mit Hannelore Kraft. „Da haben wir eine sehr authentische, positive Linie entwickelt. Sehr weiblich. Eine fröhliche Kampagne, die Lust darauf machen soll, die SPD zu wählen.“ Werbung ist nicht immer auf Anhieb zu verstehen: Hannelore Kraft ist zwar Unternehmensberaterin und hat wahrscheinlich mehr Wirtschaftskompetenz als Jürgen Rüttgers, aber dieses Thema spielt in der SPD-Kampagne trotzdem kaum eine Rolle. „Wenn die Umfragewerte ihr eine hohe Kompetenz beim Thema Bildung zuweisen und das ein wichtiges Thema in NRW ist – dann müssen wir halt stärker in Bildung reingehen.“
Im Oberwasser steht die Küchentür offen. Wir bekommen unseren Nachtisch – Pelmeni für zwei – und lassen uns auf die Sofas sinken. Der Raum wirkt fast wie ein Wohnzimmer. Kein Mitte-Chic, dafür ein Klavier. Frank Stauss vergisst für den Augenblick mal den Wahlkampf und seine 120 Mitarbeiter. „Das Oberwasser ist mein Café Depressivo“, sagt er. Man merkt ihm an: Er meint das nicht despektierlich, sondern ganz liebevoll. Hier tankt er Energie für die nächste Kampagne.