Geheimnisse sind Lügen
Es ist der große Roman zur großen Debatte: Nachdem die Digitale Revolution bislang vor allem Diskussionsstoff für die Wissenschaft und die Fachwelt geboten hat, ist das Thema nun auch in der Literatur angekommen. Dave Eggers hat mit Der Circle einen hochpolitischen Bestseller vorgelegt. Seine Mahnung vor dem totalitären Potenzial der Digitalisierung verpackt er nicht in ein komplexes Fachbuch, sondern in einen sehr lesbaren Pageturner.
Herzstück der schönen neuen digitalen Welt, die Eggers entwirft, ist der „Circle“. Ein fiktiver kalifornischer Digitalkonzern, der mit allen Attributen der realen Silicon-Valley-Giganten ausgestattet ist: Exzentrische Firmengründer, eine scheinbar philanthropische Unternehmensphilosophie, gigantische finanzielle Mittel und ein unbegrenzter Wachstumshunger. Der Circle ist die hipste Firma der Welt – und die mächtigste.
Alles, was passiert, muss bekannt sein
In dieses Universum der Vernetzung schickt Eggers seine Protagonistin Mae. Eine junge Frau, deren bislang unspektakuläres Leben durch den Job beim „Circle“ eine radikale Wendung nimmt. Schnell wird durch die nahezu vollständige Überwachung und den massiven Sozialdruck aus der anfänglichen Zweiflerin eine Gläubige der Ideologie des sektenhaften Konzerns: „Alles, was passiert, muss bekannt sein.“ Das Ziel ist vollständige Transparenz. Um das zu erreichen, nutzt der Circle immer radikaler seine digitalen Möglichkeiten. Es geht darum, die Gesellschaft durch ihre vollständige Vernetzung zu „optimieren“. Die Agenda des Circle: Wenn jeder jeden kontrollieren kann und wenn alles geteilt wird, gibt es keinen Platz mehr für Kriminalität und Krankheit, Umweltzerstörung und menschliches Versagen. Das Mittel ist die totale digitale Transparenz, und deren Preis ist die Abschaffung des Privaten. „Geheimnisse sind Lügen, alles Private ist Diebstahl“ – die Crowd herrscht.
Stück für Stück monopolisiert das Unternehmen das Internet. Zunächst wird die Anonymität im Netz aufgelöst, um dann durch Millionen von Online-Kameras das weltweite Tracking jedweder Handlung für alle zu ermöglichen. Mae wird freiwillig zum transparenten Menschen, zur gläsernen Ikone des Circle. Jedes Wort, jede Bewegung von ihr wird in Echtzeit ins Netz übertragen. Lediglich beim Gang auf die Toilette wird für drei Minuten die Tonübertragung unterbrochen. Während Freunde und Familie angesichts des Transparenz-Terrors verloren gehen, verfolgen und kommentieren und Millionen fremder Menschen Maes Leben.
Auch das politische System macht der Circle zur „perfektionierten“ Demokratie: „Transparente“ Politiker mit umgehängten Online-Kameras, die nonstop Bild und Ton übertragen sowie ein System fast permanenter Meinungsumfragen im Internet zu jedem beliebigen politischen Thema, verwandeln die repräsentative Demokratie in eine Herrschaft des digitalen Mobs. Unaufhaltsam eignet sich der Konzern Aufgaben des Staates an. Kritische Politiker, die sich der totalitären Digitalisierung und ihrer eigenen Entmachtung entgegenstellen, werden millionenfach durch das Internet unter Druck gesetzt. Wo das nicht reicht, wird es kriminell: Allzu widerspenstige Abgeordnete bekommen belastendes Datenmaterial auf die Festplatte gespielt und die Staatsanwaltschaft erhält einen anonymen Hinweis. Im Anschluss sorgt die empörte Crowd für die entsprechenden sozialen Konsequenzen und das Ende der Karrieren.
Die digitale Machtergreifung
Schließlich setzt die Firma zur Vollendung des Kreises an: Während bei Kindern und Jugendlichen mittels eingepflanzter Chips Aufenthaltsort, Gesundheitsdaten und Schulnoten jederzeit sofort abrufbar gemacht werden, soll für alle Erwachsenen ein Circle-Account gesetzlich vorgeschrieben werden. Lebenslange Transparenz und Kontrolle für alle. Damit scheint die digitale Machtergreifung abgeschlossen.
Dave Eggers entwirft eine perfide Dystopie, in der kapitalistisches Profitstreben gepaart mit einer radikalen Ideologie der (Selbst-)Optimierung und den technischen Möglichkeiten von Big Data sowie dem Internet der Dinge die Freiheit abschaffen. Anders als im großen literarischen Vorbild 1984 von George Orwell ist es keine diktatorische Staatsform oder politische Partei, die eine totalitäre Kontrolle etabliert, sondern ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Diesem gelingt es, mithilfe des High-Tech-Glamours der Digitalisierung eine repressive soziale Kontrolle in neuer Dimension durchzusetzen. Dabei beschreibt Eggers’ Science-Fiction-Roman keine Jahrzehnte entfernte Zukunft, sondern ein Szenario, das beklemmend nahe zu liegen scheint.
Das Buch ist eine bisweilen satirische Polemik zur Vernetzung der Welt, die auf literarische Feinheiten weitgehend verzichtet. Der mehrfach preisgekrönte Analytiker des amerikanischen Zeitgeistes erzählt seinen originellen Stoff bemerkenswert konventionell, fast holzschnittartig und mit demonstrativer Parteinahme. Auch leuchtet Eggers in seinem Roman längst nicht jeden Aspekt der digitalen Debatte aus: weder die möglichen ökonomischen Verflechtungen der Digitalisierung, wie sie Jeremy Rifkin als „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ entworfen hat, noch die womöglich drastischen Auswirkungen auf die Arbeitswelt, die Andrew McAfee als „Zweites Maschinenzeitalter“ beschreibt.
Endlich beginnt die Debatte im Ernst
Aber diese stilistischen und fachlichen Defizite sind angesichts des entscheidenden Verdienstes dieses Buches zu vernachlässigen: Mit seinen Millionen Lesern verleiht Der Circle der Debatte um die Digitalisierung den dringend benötigten Schub, damit aus dem feuilletonistischen – mitunter durchaus elitären – Fachdiskurs von Experten endlich eine echte gesellschaftspolitische Debatte werden kann.
Das passt zur Kurswende in der Berliner Politik: Nachdem der digitale Wandel zunächst vielfach als Nischenthema von Nerds belächelt wurde und dann mit der Piraten-Partei bereits wieder verschwunden schien, ist die Digitalisierung längst the next big thing im Regierungsviertel. Hier allerdings herrscht Nachholbedarf. Mit Edward Snowdens Enthüllungen wurde das Risiko der digitalen Überwachung auf die Agenda gesetzt. Mittlerweile wird auch diskutiert, wie sich der technische Fortschritt auf die soziale Marktwirtschaft und die Arbeitswelt auswirkt. Dabei wird es maßgeblich auf die regierenden Volksparteien ankommen: Sie müssen die Rahmenbedingungen für den digitalen Wandel schaffen und dabei zugleich die slow adopters in den eigenen Reihen mitnehmen. Die SPD hat mittlerweile einen Programmprozess für die digitale Zukunft ins Leben gerufen, der die Partei – die ihre Wurzeln in der industriellen Revolution hat – bis 2015 fit machen soll für die digitale Revolution.
Dave Eggers lässt in seiner düsteren Vision nur zwei Optionen zu, wie mit dem technischen Fortschritt umzugehen wäre: entweder völlige Unterwerfung unter die digitale Diktatur – oder Flucht und Rückzug ins Analoge. Fest steht: So leicht wird es sich die Politik allerdings nicht machen können, und gewiss werden sich die Programmtexte nicht so spannend lesen wie Der Circle. Dennoch wird es höchste Zeit, dass sich Politik und technischer Fortschritt wieder auf Augenhöhe begegnen.
Dave Eggers, Der Circle, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, 560 Seiten, 22,99 Euro