Jenseits von Westend und Charlottenburg
Dementsprechend gliedert sich das Buch 1968: Jugendrevolte und globaler Protest in eine „historische Reportage“ über den Mai 1968 in Paris, sowie Kapitel über die Ursprünge der Bewegung in den Vereinigten Staaten, den vermeintlichen deutschen Sonderweg in der Bundesrepublik, den Protest im Westen (Japan, Italien, Niederlande, Großbritannien) sowie die Bewegung im Osten (Tschechoslowakei, Polen, DDR). Schließlich wird in der Bilanz die bundesdeutsche Geschichte im internationalen Kontext verortet.
Gleichwohl betont der Autor auch die „historiografischen Tücken“ des Objektes „68“: In seiner Globalität und seiner Vielfalt bleibe das Phänomen nur schwer fassbar, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Protagonisten und Kritikern um die Deutungshoheit, zwischen den Wahrnehmungen der Zeitgenossen und den Beobachtungen der Nachgeborenen. In diesem Sinne sei „68“ auch stets das Ergebnis von Interpretation und Imagination auf einer geschichtspolitischen Folie gewesen: „Auch nach vier Jahrzehnten ist ‚68‘ nicht ausgedeutet, sondern weiter in Bewegung, noch immer eher Gegenwart als Geschichte.“ Darüber hinaus könne „68“ als historischer Gegenstand keineswegs auf das namensgebende Kalenderjahr beschränkt werden: Vielmehr stehe die Chiffre „68“ in allen untersuchten Ländern für den Höhepunkt einer Epoche, die meist Jahre früher eingesetzt habe und deren Nachwirkungen sich noch deutlich länger fortsetzten.
Es ging um eine bessere Welt
In diesem Zusammenhang arbeitet Frei in seiner vergleichenden Analyse gemeinsame, länderübergreifende Elemente heraus: So einte die Protestbewegung im Westen der Hintergrund einer scheinbar ungebrochenen wirtschaftlichen und technischen Fortschrittsentwicklung, zu dem die kulturelle und gesellschaftliche Stagnation in umso schärferen Kontrast stand und als zunehmend unerträglich empfunden wurde. Gleichzeitig erschienen somit auch auf diesen Gebieten Neuerungen nicht nur als zwingend notwendig, sondern auch als umso machbarer. Die scheinbar schier unbegrenzten Möglichkeiten, so Frei, bildeten im Westen den Ausgangspunkt für eine gemeinsame Mentalität, die den Zielen von Emanzipation, Partizipation und Transparenz einen nahezu romantischen Überschuss gaben: „Es ging um nichts Geringeres als eine bessere Welt.“
Das westliche Modernisierungsdefizit wurde an den Hochschulen mit ihren überforderten und antiquierten Strukturen besonders deutlich und machte die Studierenden überall zu den vielleicht prägendsten Trägern der Bewegung. Neben dem Protest gegen die universitären Missstände verband die Bewegung übergreifend zudem eine Kapitalismus- und Imperialismuskritik, die sich besonders im Protest gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam als „globaler Katalysator der Protestbewegung“ in zudem weltweit verblüffend ähnlichen Protestformen (Sit-ins, Teach-ins und so weiter) Ausdruck verschaffte.
Neben diesen unmittelbar politischen Beweggründen sieht Frei die (alltags-)kulturellen Phänomene der Zeit als einendes Moment von „68“: Ob Hippiekultur, Rockmusik oder neue Offenheit gegenüber Sexualität und Drogen – eine neue Form der counterculture verband den Protest in unterschiedlichen Nuancierungen über den ganzen Globus. Tradierte politische Autoritäten, gesellschaftliche Normen oder private Lebensstile wurden auf den Prüfstand und mitunter auch auf den Kopf gestellt. Unterstützt von den neuen technischen Möglichkeiten vor allem des Fernsehens, durch vielfältige transnationale Austauschbeziehungen und Netzwerke wurde „68“ so zum „Globalphänomen“ auch über die Blockgrenzen des Kalten Krieges hinweg.
Doch jenseits dieser markanten Parallelen hebt Frei auch die deutlichen Unterschiede und verschiedenen Ausprägungen des Protestes hervor: War in den Vereinigten Staaten der Kampf gegen die Rassendiskriminierung ein zentrales Motiv, so galt das in der Bundesrepublik – und in anderer Form auch in Italien und Japan – für die Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit und ihrer zeitgenössischen Kontinuitäten. In den Niederlanden und in Großbritannien artikulierte sich der Protest hingegen primär kulturell.
Freis These von der Epoche „68“ trägt auch durch die Analyse der Protestbewegung jenseits des Eisernen Vorhangs: Hier hatten die Unruhen der fünfziger Jahre in Ost-Berlin und Ungarn eine Entwicklung eingeläutet, die sich auch nach dem Ende der Achtundsechziger-Proteste bis 1989 ihren Weg bahnten. Das Aufbegehren gegen die Lebensumstände im realsozialistischen Mitteleuropa, anders als im Westen auch im ökonomisch-materiellen Sinn, das Eintreten für demokratische Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit (CSSR) und gegen kulturelle Bevormundung („Beat-Aufstand“ in der DDR) oder antisemitische Regierungspropaganda (Polen) fand auch nach der blutigen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ keineswegs ein Ende. Ebenso wie im Westen, so Frei, aber im weit stärkeren Maße, setzten sich die Entwicklungen auch nach ihrem Höhepunkt im Jahr 1968 in Subkulturen und Nischengesellschaften fort. Ihre Protagonisten (Michnik, Kuron, Havel) sollten auch die oppositionellen Gruppierungen (Charta 77, KOR) im Helsinki-Prozess der siebziger und achtziger Jahre prägen: „Nach ‚Prag‘ kam der kommunistische Machtblock nicht mehr zur Ruhe.“
Nach „68“ war nichts mehr so wie früher
Norbert Frei gelingt mit seinem Buch eine eindrucksvolle Analyse der Achtundsechziger-Bewegung in ihren transnationalen Zusammenhängen, obschon er den Anspruch, einen globalen Protest zu untersuchen, nur bedingt einlöst: Die anti-kolonialen Bewegungen in Afrika bleiben ebenso wie die Auflehnung gegen die diktatorischen Regime in Latein- und Südamerika (Mexiko, Brasilien) unerwähnt. Auch werden die Proteste gegen die Diktaturen in Spanien und Griechenland nur gestreift. Freis Schwerpunkt ist der Westen und in diesem Rahmen deutlich die Entwicklung in der Bundesrepublik. Trotzdem geht Frei über die vorherrschende bundesdeutsche Nabelschau hinaus und stellt die Bewegungen in Bezug zu einander, ohne sich auf allzu oberflächliche Parallelen zu fixieren. Stattdessen rückt er das Schlüsseljahr 1968 in einen historischen Kontext, in dem es gleichsam den Höhepunkt einer ganzen Epoche markiert: „1968 war nicht das Jahr, das alles verändert hat, dazu war viel zu viel bereits im Gang. Aber nach ‚68’ war fast nichts mehr so wie früher. Und in diesem Sinne war ‚68’ überall.“
Wer „68“ jenseits des ideologischen Getöses der (bundes-)deutschen Debatte nachvollziehen will, kommt somit an 1968: Jugendrevolte und globaler Protest nicht vorbei. Und darf zudem mit exzellenter geschichtswissenschaftlicher Prosa rechnen. Auch in dieser Hinsicht ist Freis Buch in der tobenden Debatte über „68“ eine ganz erfreuliche Ausnahme.
Norbert Frei, 1968: Jugendrevolte und globaler Protest, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008, 280 Seiten, 15 Euro