Gepokert wird in Deutschland pausenlos
Andreas ist kein Star und sieht auch nicht so aus. Sein hellblaues Jackett ist riesig und überall zu weit. Seine Haut ist nicht in Topzustand. Unternehmensberater sei er, sagt Andreas, aus Hamburg. Heute ist er einer von 40 Spielern. „Jeder spielt für sich alleine, Poker hat den Vorteil des Individualismus“, sagt Andreas. Bei Doppelkopf oder Skat spiele man mit anderen, und von deren Klasse sei man abhängig.
Um Toni und Andreas klirren Gläser, klappern Chips. In einer Ecke des großen Chef-Saals der Spielbank Berlin haben sich die 38 Männer und zwei Frauen zur Pokermeisterschaft versammelt. In den anderen Ecken geht der reguläre Black Jack- und Roulette-Betrieb weiter.
Eigentlich wird in Deutschland pausenlos gepokert. Vor allem in der Politik. Immer pokert irgendjemand hoch, blufft oder setzt alles auf eine Karte. Gesundheitsreform, Wahlkreismandat, Ortsumgehung: Wer hat die besten Karten? Wer lässt sich nicht in die Karten gucken? Wann legen die anderen ihre Karten offen? Überall wimmelt es von Poker-Begriffen. Das sagt viel aus über das Verständnis von Politik, vielleicht auch über ihr Selbstverständnis. Aber so richtig Poker gespielt hat bislang kaum jemand.
Denn das Spiel boomt in Deutschland erst seit kurzem, es gibt noch keine Strukturen, keinen richtigen Verband, nur immer mehr Spieler. Die Deutsche Pokermeisterschaft 2006 veranstalteten vier norddeutsche Casinos. Der eine Teil der Plätze wurde vorab über Ausscheidungsturniere – „Satellites“ – vergeben, der andere Teil gegen ein „Buy In“ von 440 Euro. 200 Spieler sind nach Berlin gekommen. 40 von ihnen haben sich für diesen finalen Turnierabend qualifiziert. An vier Tischen wird um den Titel gespielt.
Schmuddelig! Semikriminell! Amerikanisch!
Die Organisation hinkt dem Hype hinterher, finden viele der Spieler. Turnierleiter Günther Fess ist ein bisschen aufgeregt. Kein Wunder, bei dem Andrang. Die freien Plätze waren in 15 Minuten ausgebucht, sagt er. Viele Spieler haben keinen Platz mehr bekommen und sind sehr schlecht gelaunt. Andere finden, dass das Turnier zu lahm läuft. „Manche Dealer schaffen doch nur drei Spiele in einer halben Stunde“, sagt einer. Das ist ziemlich gemein, denn das wäre an der Grenze zur Arbeitsverweigerung. „Beschwerden gibt’s immer“, sagt Fess schnell. „Aber für schlechte Karten sind wir nun wirklich nicht zuständig.“ Und eilt zum nächsten Problem.
Poker galt in Deutschland lange als schmuddelig, semikriminell, sogar amerikanisch. Es gibt schließlich genug anständige deutsche Kartenspiele: Skat, Doppelkopf, Mau-Mau. Spielspaß für die Familie statt knallharter Kapitalismus mit Karten. Aber seit einigen Monaten wird Poker immer populärer. Das Spiel ist geeignet für die Medien Internet und Fernsehen. Poker ist Show. Und Poker ist Adrenalin: Es geht schnell um mehr als einen Tacken. „Ich kann abschalten. Ich habe Erfolgserlebnisse. Ein bisschen wie ein Ego-Shooter ohne Waffen“, sagt Rolf, der gerade ausgeschieden ist.
Pokersendungen laufen seit geraumer Zeit spätnachts oder frühmorgens auf DSF, Eurosport oder Das Vierte, aber sie laufen immerhin und sie laufen gut. Beim DSF gucken regelmäßig 300.000 Menschen zu. Sogar der Spiegel berichtete über den Poker-Boom. Vor allem aber boomt weltweit der Online-Poker. Rund um die Uhr. In der Poker-Community gibt es deswegen eine Art generation gap: Junge Online-Spieler gegen Hinterzimmer-Veteranen. Auch heute Abend: Ipod spielt gegen Zigarre.
Über Poker gibt es viele Missverständnisse. Poker ist mehr als ein Glücksspiel, es ist vor allem ein Erfahrungs- und Berechnungsspiel. Bei der populärsten Variante „Texas Hold’em“ bekommt jeder Spieler zwei Karten auf die Hand. Fünf Gemeinschaftskarten werden für alle sichtbar auf dem Tisch ausgebreitet. Zwischendurch setzen die Spieler, gehen einen Einsatz mit oder steigen aus. Die Regeln sind einfach. Das beste Blatt gewinnt. Es kommt weniger auf Psychologie an als alte Westernfilme und der neue Bond glauben machen wollen. Es geht um Wahrscheinlichkeiten und um Disziplin. Das hat wenig mit verrauchten Hinterzimmern zu tun: Nichts im Chef-Saal der Berliner Spielbank am Potsdamer Platz ist verrucht. Weder die goldene Decke. Noch die kneifenden Jacketts. Noch die Schnurrbärte.
Der neue Poker-Boom hat eigene Stars hervorgebracht. US-Größen wie Chris Moneymaker, Chris „Jesus“ Ferguson oder TJ Hooker. Aber auch deutsche Stars wie Katja Thater. Die ist jung, blond, sieht gut aus und ist eine Frau. Und weil diese Merkmale sonst auf wenige Pokerspieler zutreffen, ist sie in Deutschlands Poker-Community ein wahr gewordener Hinterzimmer-Traum.
Jetzt sitzt sie neben Unternehmensberater Andreas und geht „All-In“ – sie setzt all ihr Geld, was ein riskantes und beeindruckendes Manöver ist, zumal so früh im Spiel. Alle halten den Atem an. Nur Andreas nicht. Andreas geht auch All-In. Katja hat zwei Damen. Andreas hat zwei Asse, Andreas gewinnt. Katja verliert ihr Geld und ist ausgeschieden, als drittletzte. „Nichts Besonderes“, sagt Andreas später. Katja Thater kenne er aus Pokerrunden in Hamburg. „Mal gewinnt der eine, mal der andere.“
Irgendwann spielen nur noch Florian und Toni
Am Nebentisch thront Toni. Er liebt die Show. Toni sitzt an einem Tisch mit Florian. Der ist 23 Jahre alt, studiert Informatik und sieht aus wie ein netter Zivi. Seine Mutter hat Angst, dass er spielsüchtig wird, sagt er später. Wenn vor ihm nicht diese Chip-Türme immer weiter wüchsen, man könnte ihn für Kanonenfutter halten. Toni dagegen nimmt Florian ernst. Er ist Profi und hält niemanden für Kanonenfutter, dessen Türme höher wachsen als seine eigenen.
Irgendwann spielen an diesem Tisch nur noch Florian und Toni, Eins gegen Eins. Showdown. Florian macht seinen Einsatz, All-In, und starrt vor sich auf den Tisch. Pokerface. Toni starrt Florian an. Verrät sein Gesicht etwas über sein Blatt? Florian starrt den Tisch an. Toni klackert mit seinen Chips und starrt wieder Florian an. Minutenlang: Starren, Klackern, Starren, Klackern. Keine Reaktion. Toni passt. Florian hat geblufft – Tonis Karten waren viel besser.
Um halb eins versammeln sich die besten zehn Spieler am Finaltisch. Toni und Florian sind dabei. Toni geht mit den meisten Chips an den Tisch. Damit ist er Favorit. Aber Florians Türme wachsen immer höher, ein Finalspieler nach dem anderen muss gehen. Toni als drittletzter. Florian bleibt. Kurz vor vier Uhr nachts gewinnt Florian. Das Turnier und 38.500 Euro. Anerkennende Kommentare der um den Tisch versammelten alten Hasen. Später sagt er dem Poker Magazin, von dem Gewinn wolle er seine Freunde nach Las Vegas einladen. Oder seiner Schwester das Fettabsaugen bezahlen. Jetzt ist er eben auch ein junger Star.
SPIELBANK BERLIN – Casino – Marlene-Dietrich-Platz 1