Geschlossene Gesellschaft!
Dass Parteien ihre Organisationen an eine sich verändernde Umwelt anpassen, wird oftmals erst in der Rückschau deutlich. Anpassungsprozesse sind keine Naturgesetze. Parteien werden nicht vermeintlich moderner, weil die Gesellschaften moderner werden, in denen sie agieren. Organisationsreformen sind das Ergebnis externer Schocks, wie es Angelo Panebianco 1988 formulierte. Aber diese Schocks müssen auch von den Parteieliten und -mitgliedern antizipiert werden. Mit anderen Worten: Organisationsreformen sind ebenso wie Parteiprogramme an die Selbstbeschreibung der Partei gekoppelt. Sie sind nicht denkbar, ohne dass die Mitglieder ihre politischen Grundhaltungen darin gespiegelt sehen wollen – keine Parteiorganisation ohne Parteiideologie! Es verwundert daher nicht, dass die Union nach wie vor etwas föderaler organisiert ist als die SPD, dass die Linkspartei ihren Pluralismus auch in ihren Führungsgremien zum Ausdruck bringen muss, und dass die Grünen für Urabstimmungen offener sind als andere. Dies hat neben vielen anderen Gründen damit zu tun, dass die verschiedenen Klientelgruppen der einzelnen Parteien auch unterschiedliche Ansprüche an den Legitimationsprozess von Politik haben.
Differenz und Exklusivität
Parteien leben einerseits von Differenz, andererseits von Exklusivität – also von dem, wofür sie jeweils unverwechselbar stehen und dem, was sie ihren Mitgliedern vorbehalten. So wie Parteien programmatisch eben nicht davon leben, dass sie es allen recht machen, so müssen ihre Organisationsstrukturen ein Stück weit ebenfalls exklusiv bleiben.
Immer wieder haben Strukturreformen das Gesicht der sozialdemokratischen Partei verändert. In den fünfziger Jahren wagte die SPD einen Schritt weg vom zentralistischen „Apparat“ hin zu einer stärkeren Föderalisierung, ab Mitte der neunziger Jahre tauchten weitere Vorschläge zur Parteireform auf, etwa in Form der „Netzwerkpartei“ oder unter dem Label „SPD 2000“. Mit seinem Amtsantritt Ende 2009 kündigte der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel mehr Basisbeteiligung an, was nicht immer Konsequenzen nach sich zog: Die Bestimmung des Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl war das Ergebnis einer Einigung an höchster Stelle. Die Peinlichkeit bestand hier übrigens nicht darin, dass sich drei Männer im Geheimen einigten, sondern dass das vermeintlich Geheime öffentlich sichtbar war.
Mit der Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2009 gewann die Debatte um die Reform der Partei erneut an Fahrt. Viel entscheidender ist aber der massive Verlust an Mitgliedern: Die SPD wird zunehmend männlicher, akademischer, älter. Ihr gehen Frauen, Arbeiter, Arbeitslose und Jugendliche verloren. Es ist also – hier schließt sich der Kreis zwischen Struktur und Programm – kein Wunder, dass eine auf bestimmte Teile der Bevölkerung verengte Mitgliedschaft auch andere Beschlüsse trifft als eine, die den Querschnitt repräsentiert. Auf der anderen Seite können sich beispielsweise junge, berufstätige Eltern oder Freiberufler die Mitarbeit in einer Partei schlichtweg nicht leisten. Das ist natürlich kein alleiniges Problem der SPD. Es trifft sie aber in ihrem Selbstverständnis als Volkspartei, die den gesellschaftlichen Durchschnitt repräsentieren will, besonders hart.
In den letzten Jahren wurden allerlei Reformvorschläge diskutiert, um diesem Missstand beizukommen. Seither ist viel von der „Öffnung“ der Parteistrukturen die Rede. Dem Umstand, dass die Bürger zwar nicht unpolitischer geworden sind, aber weniger Zeit in die Parteiarbeit investieren wollen und können, will man begegnen, indem man beispielsweise auch Nichtmitglieder an Entscheidungen über Programm und Personal beteiligt. Ein populäres, immer wieder diskutiertes Beispiel sind Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild: Dort entscheiden auch Nichtmitglieder über die Wahlkreis- oder sogar die Spitzenkandidaten.
Verblüffenderweise erzeugen solche Vorschläge nicht das positive Echo, das man erwarten würde. In der aktuellen Studie Demokratie ohne Wähler?, die ich zusammen mit Frank Decker und Marcel Solar in Nordrhein-Westfalen durchgeführt habe, äußern sich die Bürger nicht so euphorisch, wie es die Debatte Glauben macht. Zwar standen gerade diejenigen Befragten mit formal niedrigerem Bildungsgrad einer Öffnung positiver gegenüber, aber insgesamt findet man keine Grundstimmung vor, die eine solche Reform rechtfertigen würde: Alle Fragen, die auf die Beteiligung von Nichtmitgliedern abzielen, sei es beim Parteiprogramm oder in Form von passivem oder aktivem Wahlrecht bei Kandidaturen für Mandate, erreichen keine oder nur eine sehr knappe Mehrheit. Umgekehrt ist die Zustimmung zu Verfahren, die die Parteimitglieder stärker beteiligen, in allen Kohorten hoch. Man könnte also schlussfolgern: Zumindest im bevölkerungsreichsten Bundesland gesteht man den Parteien ihre Vorrechte nach wie vor zu – aber die Mitgliedschaft selbst muss sich lohnen. Dazu passt, dass an den offenen Primaries der Grünen zur Nominierung ihrer Spitzenkandidaten für die Europawahl nur eine verschwindend geringe Zahl von Interessierten teilgenommen hat.
Abkehr vom Prinzip Ortsverein
Würde man aus diesen Befunden Leitlinien für eine Reform der Parteiorganisation ableiten, so hieße die erste: Souveränität über das Zeitbudget. Das mag zunächst wenig einleuchtend klingen, denn in der Tat sucht sich jedes Mitglied selbst aus, wie viel Zeit es in die Parteiarbeit investiert. Dennoch besteht, was Vernetzung und Mitgestaltung angeht, ein Gefälle zwischen „Mitgliedern in Teilzeit“ und solchen, die ihre gesamte Freizeit der Parteiarbeit opfern, auf jeder Vorstandssitzung anwesend sind und auch noch das letzte Hintergrundgespräch im Brauhaus wahrnehmen. Es muss sich ändern, dass diejenigen politisch im Vorteil sind, die berufs- oder familienbedingt mehr Lebenszeit opfern können. Jedem Mitglied sollte es ermöglicht werden, Beruf, Familienleben und Partei miteinander zu verbinden, ohne befürchten zu müssen, im innerparteilichen Entscheidungsprozess ins Hintertreffen zu geraten – kurzum: souverän zu sein. Gewiss leben Organisationen auch vom beständigen Engagement ihrer Mitglieder und von verlässlichen Absprachen. Oft genug trifft man gerade auf lokaler Ebene Vorstände an, bei denen nur die Hälfte der gewählten Mitglieder regelmäßig an Sitzungen teilnimmt. Das hat neben anderen Faktoren auch damit zu tun, dass die Vorstandsarbeit sich mit moderner Lebenszeiteinteilung oft schlecht verträgt. Andererseits sind es vor Ort gerade die Vorstandsgremien, in denen sich Impulse für politische Entscheidungen einbringen lassen. Aber wer nur einmal im Jahr auf der Hauptversammlung des Ortsvereins auftaucht, hat momentan kaum eine Chance, eine eigene Idee in die Tat umzusetzen.
Damit verbunden wäre also eine zweite, radikalere Reform-Leitlinie: Abkehr vom Ortsvereinsprinzip. Wer sich beteiligen will, muss dies bislang häufig in den örtlichen Strukturen tun. Das dürfte viele Interessierte abschrecken, weil es beständiges Mitmachen und einen hohen Zeitaufwand voraussetzt. Es ist weder wünschenswert noch naheliegend, politische Vorhaben, die die Kommune betreffen, von den Parteiorganisationen vor Ort gänzlich abzukoppeln. Es wäre aber durchaus möglich, die Strukturen von vornherein stärker auf die einzelnen Mitglieder auszurichten. Ein Vorbild hierfür könnten Bürgerhaushalte sein: In vielen Kommunen reichen Bürger Vorschläge zur Verwendung öffentlicher Gelder ein, über die dann alle Bürger abstimmen können. Es spricht nichts dagegen, ähnliche Verfahren auch in Kreisverbänden oder Unterbezirken von Parteien zu implementieren.
Macht den Parteibeitritt attraktiver!
Eine dritte Leitlinie könnte lauten: Entschlackung des Regelwerks. Formale Regeln sind notwendig, um Transparenz und Gleichheit herzustellen. In Parteien werden aber, selbst (oder gerade) in lokalen Strukturen, die inhaltlichen Diskussionen häufig von Fragen der Geschäftsordnung dominiert. Parteien sollten sich hier mehr Offenheit zugestehen. Die vierte Leitlinie ist dann gewissermaßen eine Konsequenz aus dem Vorangegangenen: Mehr Urabstimmungen! Nach Sigmar Gabriels Ankündigung, alle Mitglieder über den Koalitionsvertrag entscheiden zu lassen, traten tausende Bürger der SPD bei. Der Zusammenhang ist nicht bewiesen, aber plausibel. Diese neuen Mitglieder müssen auch dadurch gehalten werden, dass die Urabstimmung kein einmaliges Verfahren bleibt, sondern fest in der Satzung der SPD verankert wird. Dazu gehört auch, dass das Ergebnis eines Basisentscheides in keinem Zusammenhang mit dem Verbleib der Parteiführung in ihren Ämtern stehen sollte. Eine solche Erwartung lässt sich in Zukunft dadurch vermeiden, dass die Parteispitze in Fragen, die durch Mitgliederentscheide geklärt werden sollen, selbst keine Position einnimmt und keine Empfehlungen abgibt. Die Qualität einer Organisation wird nämlich nicht nur über ihre formale Gestalt bestimmt, sondern auch über die Prozesse, in denen sich Entscheidungen vollziehen. Wenn etwa, wie im Falle des Koalitionsvertrages, am Ende die Bestätigung faktischen Regierungshandelns gegen die Beschädigung der Parteiführung abgewogen werden muss, so ist die Urabstimmung nichts als die Ausweitung der „Basta“-Politik mit anderen Mitteln.
Ein auf solchen Leitlinien beruhendes Konzept würde explizit nicht auf die Öffnung der Strukturen nach außen setzen, sondern auf die Attraktivität des Beitritts. Schotten sich Parteien nämlich nicht nach außen ab, geht der Sinn einer Partei verloren. Gerade die Sozialdemokratie sollte sich verbitten, auf den Zug der Parteienverachtung aufzuspringen. Im Gegenteil: Die SPD sollte es – wie jede andere Partei auch – dabei belassen, dass die formale Mitgliedschaft die Voraussetzung dafür ist, Politik mitgestalten zu können. Die Mitgliedschaft selbst muss jedoch so reizvoll sein, dass diese Exklusivität nicht abschreckt, sondern anzieht.