Gewonnen haben die Nichtwähler
Das Ergebnis der Europawahlen in Deutschland weist im europäischen Vergleich mindestens zwei untypische Aspekten auf: Die Regierungsparteien erlebten am Wahlabend kein Desaster, sondern wurden stärkste (Union) und zweitstärkste (SPD) Kraft. Außerdem stieg die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2009 spürbar an. Mit 48,1 Prozent lag sie in Deutschland so hoch wie seit 1999 nicht mehr und damit deutlich über dem EU-Durchschnitt.
Die Verluste der Unionsparteien gehen beinahe vollständig auf das Konto der CSU. Deren schwaches Abschneiden steht zumindest teilweise mit der vergleichsweise geringen Wahlbeteiligung in Bayern in Zusammenhang; offenbar konnte das Wählerpotenzial nicht ausreichend mobilisiert werden. Der CSU hat wohl geschadet, dass sie sich in der Wahrnehmung einer Bevölkerungsmehrheit (64 Prozent) europapolitisch stark von der CDU abgesetzt hat. Zudem gilt die CSU 41 Prozent der Deutschen als Partei, die im Europaparlament keine allzu große Rolle spielt.
Angela Merkel als Stimmenmagnet
Hingegen kann die CDU ihr Ergebnis von 2009 annähernd verteidigen. Dabei muss die Fokussierung der Wahlkampagne auf Angela Merkel als wichtigster Erfolgsfaktor gesehen werden. Die Kanzlerin galt bereits vor der Wahl für zwei Drittel ihrer Anhänger als wichtigstes Argument, die Union zu wählen (65 Prozent) und entfaltet bei der Stimmabgabe eine stärkere Anziehungskraft als der europäische Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker. Eine deutliche Mehrheit aller Wahlberechtigten – und nahezu unisono alle Unionsanhänger – halten ihr zugute, dass sie „sich im Kreis der Staats- und Regierungschefs durchsetzen kann“ (83 beziehungsweise 96 Prozent) und dafür gesorgt habe, „dass es den Deutschen trotz der Krise gut geht“ (68 beziehungsweise 89 Prozent). Hier bildet sich eine ähnliche Motivlage wie schon bei der letzten Bundestagswahl ab: Weil die Deutschen die wirtschaftliche Lage verhältnismäßig positiv einschätzen und sich durch Angela Merkel gut regiert fühlen, wählen sie auch in Europa Sicherheit und Stabilität – die in der Wahrnehmung vieler von Angela Merkel verkörpert werden.
Dass die Sozialdemokraten bei der Europawahl prozentual an Stimmen gewonnen haben, ist im Wesentlichen das Resultat zweier Faktoren: Zunächst einmal gelang es ihnen offenbar deutlich besser als bei der letzten Europawahl, ihre Anhänger zu mobilisieren. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete Martin Schulz als Kandidat für den Posten des Kommissionspräsidenten. Unter den SPD-Anhängern erfuhr er ein hohes Maß an Rückendeckung: 79 Prozent hielten ihn für den besten Kandidaten. Unter den Unionswählern sagten das über Jean-Claude Juncker lediglich 52 Prozent.
Hinzu kommt als begünstigender Faktor, dass anders als 2009 das bisherige Agieren der SPD in der Großen Koalition auf Bundesebene von ihren Anhängern offenbar positiv zur Kenntnis genommen wurde. Immerhin bescheinigen ihr mehr als sieben von zehn SPD-Wählern, dass sie in der Bundesregierung erfolgreich sozialdemokratische Positionen in die Tat umsetzt (72 Prozent) und Politiker an der Spitze hat, denen man vertrauen kann (73 Prozent). Zudem überzeugte der Einsatz für sozialdemokratische Herzensanliegen wie den Mindestlohn und Rentengerechtigkeit eine Mehrheit ihrer Anhänger davon, dass die SPD ihre Wahlversprechen auch verwirklicht (56 Prozent). Die SPD wurde also vor der Wahl verhältnismäßig positiv wahrgenommen und konnte dadurch Zuwächse erzielen. Dennoch bleibt auch sie im Hinblick auf die Binnenmobilisierung weit hinter der Bundestagswahl zurück. Mehr als jeder vierte Wähler, der im Herbst 2013 SPD gewählt hatte, blieb bei der Europawahl der Urne fern (27 Prozent). Seit der Bundestagswahl hat die SPD damit prozentual zwar weniger Stimmen an das Nichtwählerlager verloren als etwa die Union, die Linkspartei oder die FDP. Sie hatte aber auch bei den Wahlen zuvor stets mit Mobilisierungsproblemen zu kämpfen. Insgesamt hat sie die Verluste, die ihr durch das Wegbleiben vieler Wähler seit Anfang des Jahrtausends entstanden sind, noch nicht wieder aufholen können.
Als Erklärungen für den Anstieg der Wahlbeteiligung kommen auch inhaltliche Bedeutungszuwächse der europäischen Politik in Betracht: Denkbar ist, dass die Debatte um die Rolle der EU im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine das Bewusstsein für die sicherheitspolitische Relevanz europäischer Akteure geschärft hat. Wahrscheinlich ist zudem, dass die zurückliegenden Jahre der Krise die wirtschaftlichen Implikationen europäischer Politik auch für Deutschland verdeutlicht haben. Und nicht zuletzt hat die Aufstellung von Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten den Wahlkampf greifbarer werden lassen und möglicherweise zur Mobilisierung beigetragen.
Allerdings stellen diese Faktoren mit Blick auf Deutschland keine Alleinstellungsmerkmale dar und sind in ihrer Auswirkung auch nicht unmittelbar zu belegen: Die Zustimmung zu der Aussage, dass im Europaparlament Entscheidungen fallen, die „für mich persönlich wichtig“ sind, ist mit 66 Prozent zwar mehrheitsfähig, jedoch gab es in den vergangenen zehn Jahren bei diesem Wert kaum Veränderungen. Noch immer gelten Entscheidungen des Bundestags (88 Prozent) sowie der Landtage (82 Prozent) und sogar der Gemeinderäte (78 Prozent) als deutlich relevanter. Eher als inhaltliche Gründe dürfte somit ein organisatorischer Umstand zu der erhöhten Wahlbeteiligung beigetragen haben: In zehn Bundesländern fanden am Tag der Europawahl zugleich flächendeckend Kommunalwahlen statt, in Niedersachsen wurden zudem vielerorts Bürgermeister gewählt, in Berlin wurde zeitgleich über die Zukunft des Tempel-hofer Feldes abgestimmt. Diese Termindopplung führte in einigen Bundesländern zu einem besonders starken Anstieg der Wahlbeteiligung, beispielsweise in Brandenburg (um 16,8 Prozentpunkte), Berlin (um 11,5 Punkte) und Nordrhein-Westfalen (um 10,5 Punkte). Allerdings stieg auch in Ländern ohne gleichzeitige Kommunalwahl teilweise die Beteiligungsquote an, zum Beispiel in Schleswig-Holstein (um 6,9 Punkte).
Orientierungslosigkeit, Frustration, Verzweiflung
Trotz der höheren Beteiligung haben auch dieses Mal alle Parteien zusammengenommen weniger Stimmen erhalten als das „Nichtwählerlager“. Besonders im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 hat keine Partei ihre damaligen Wähler auch nur annähernd vollzählig wieder zum Wählen motivieren können. Der Abstrom ins Nichtwählerlager stellt in der Wählerwanderungsbilanz aller Parteien ausnahmslos den größten Posten dar.
Die Ursache für den hohen Anteil an Nichtwählern ist – neben der bereits erwähnten Wahrnehmung von Europawahlen als Nebenwahlen ohne wirkliche Relevanz – häufig ein Gefühl der Orientierungslosigkeit: Mehr als zwei Drittel der Nichtwähler können die europapolitischen Positionen der Parteien kaum unterscheiden (68 Prozent), und knapp die Hälfte ist sich nicht sicher, wofür die EU überhaupt steht (46 Prozent). Des Weiteren spielt Frustration oder Enttäuschung eine Rolle – durchaus auch mit Bezug zur Bundespolitik: So äußern sich 65 Prozent der Nichtwähler enttäuscht über die Politik in Brüssel und Berlin, 61 Prozent sind der Ansicht, dass ihre Interessen ohnehin von keiner Partei vertreten werden. Hinzu kommt das Europawahl-spezifische Argument, durch die Wahlenthaltung die Unzufriedenheit mit der EU an sich zum Ausdruck bringen zu wollen (44 Prozent).
Interessanterweise hat es auch die AfD nicht leicht, die eigenen Wähler von der Bundestagswahl bis zur Europawahl bei der Stange zu halten und zur erneuten Stimmabgabe zu motivieren. Ihr relativ erfolgreiches Abschneiden zählt zu den viel debattierten Ergebnissen der Europawahl. Zwar hat die AfD als einzige Partei an absoluten Stimmen hinzugewonnen und konnte als „Stimmenstaubsauger“ von allen anderen Parteien Zuströme verbuchen: Sie gewann eine halbe Million Wähler, die bei der Bundestagswahl noch für die Union gestimmt hatten, ebenso insgesamt 320 000 Wähler aus dem linken Lager von SPD, Linkspartei und Grünen und noch einmal 60 000 Wähler von der FDP.
AfD-Wähler bangen um ihr Erspartes
Allerdings stehen diesen knapp 900 000 von anderen Parteien abgeworbenen Wählern etwa ebenso viele (910 000) ehemalige AfD-Wähler gegenüber, die der Urne diesmal fernblieben. Die absolute Zahl derjenigen, die das Kreuz bei der AfD machten, erhöhte sich deshalb nur um 0,4 Prozent. Es ist der im Vergleich zur Bundestagswahl geringeren Wahlbeteiligung geschuldet, dass ihr Anteil an den Gesamtstimmen dennoch deutlich höher ausfiel. Grundlegend für diesen Erfolg war das bei Europawahlen traditionell besonders ausgeprägte Protestwahlverhalten: Sechs von zehn derzeitigen AfD-Wählern drückten mit ihrem Stimmverhalten weniger ihre Überzeugung für diese Partei, als ihre Enttäuschung über das sonstige politische Angebot aus. Hinzu kommt eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Krisenmanagement der EU und der europäischen Integration generell.
Diese Sorgen, für die die AfD eine Projektionsfläche bietet, zeigen sich mit Blick auf die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise darin, dass AfD-Wähler besonders häufig um ihr Erspartes bangen (67 Prozent) und befürchten, dass der schlimmste Teil der Krise noch bevorsteht (76 Prozent) – unter allen Wählern teilen diese Ansicht nur noch 42 Prozent. Mit Blick auf die europäische Integration sehen AfD-Wähler besonders oft den eigenen Wohlstand durch die offenen Grenzen bedroht (52 Prozent) und fordern für die nächsten Jahre weniger Kooperation der EU-Mitglieder (67 Prozent). Die Wahrnehmung, die EU-Mitgliedschaft bringe Deutschland in erster Linie Nachteile, ist unter den Wählern der AfD mit 45 Prozent weit überdurchschnittlich ausgeprägt.
Es ist somit klar, dass die AfD mit ihrer euroskeptischen Positionierung den Nerv bestimmter Wählergruppen trifft. Doch ihr relativer Erfolg bei der Europawahl beruht hauptsächlich darauf, dass sie die Abströme ins Nichtwählerlager durch Zugewinne aus dem Klientel der anderen Parteien ausgleichen konnte, besonders aus dem Lager der Unionsparteien. Ob diese Zugewinne, bei denen Protestwahlverhalten und Nebenwahl-effekte durchaus eine Rolle gespielt haben dürften, über die Europawahl hinaus Bestand haben, werden die Landtagswahlen im Herbst zeigen.