Grundgesetz und Europa

Die deutsche Verfassung hat die europäische Integration in den vergangenen 60 Jahren begleitet und gefördert - zum Vorteil unseres Landes. Ein Rückfall in die Verhaltensmuster nationalstaatlicher Interessenpolitik wäre ein fataler Irrweg

Das Grundgesetz ist von Anbeginn eine europafreundliche Verfassung gewesen. Laut Präambel hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt das Grundgesetz gegeben, "von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Heute formuliert neben der Präambel auch Artikel 23 des Grundgesetzes das Staatsziel eines vereinten Europas, zu dessen Verwirklichung die Bundesrepublik Deutschland "bei der Entwicklung der Europäischen Union" mitwirkt.

Diese weitgehende Offenheit des Grundgesetzes, die sich mit einer solchen Emphase in anderen Mitgliedsstaaten nicht findet, erklärt sich aus der deutschen Geschichte: drei verheerende Kriege zwischen Frankreich und Deutschland seit 1871, davon zwei Weltkriege, der letzte mit der unfassbaren Zahl von 55 Millionen Toten. Die europäische Integration war zuvörderst der Versuch, dem gescheiterten Modell des souveränen Nationalstaats des 19. Jahrhunderts eine Alternative entgegenzusetzen und nationale Egoismen dauerhaft zu überwinden.

Allerdings sind der Verwirklichung eines vereinten Europa aus Sicht des Grundgesetzes Grenzen gesetzt. Die deutsche Verfassung enthält in Artikel 23 zweierlei Schranken für die Beteiligung Deutschlands an der europäischen Integration. Erstens muss nach Artikel 23 (1) eine EU, an der Deutschland sich beteiligt, "demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet" sein und einen "diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz" gewährleisten. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich hier vor allem die für die Bundesrepublik formulierten Strukturvorgaben aus Artikel 20 widerspiegeln, wonach Deutschland ein sozialer, demokratischer, rechtsstaatlicher Bundesstaat ist. Das Grundgesetz schafft sich gewissermaßen eine Europäische Union nach eigenem Bilde.

Das europäische Recht genügt diesen Anforderungen; besonders Artikel 6 des EU-Vertrages erfüllt die Vorgaben. Dort heißt es: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. ... Die Union achtet die Grundrechte..."

Europa und die Ewigkeit

Die zweite Schranke ergibt sich ebenfalls aus Artikel 23 (1), aber in Verbindung mit dem dortigen Verweis auf die so genannte Ewigkeitsgarantie aus Artikel 79 (3). Diese bestimmt, welche Veränderungen die europäische Integration äußerstenfalls für das hiesige Gemeinwesen bewirken darf. Denn was einer Verfassungsänderung entzogen ist, darf auch nicht über die europäische Integration verloren gehen. Wegen der Ewigkeitsgarantie dürfen die Grundsätze des Artikels 20 durch die Mitwirkung an der europäischen Integration nicht berührt werden. Mit anderen Worten: Die europäische Integration darf die Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit Deutschlands in ihrem unabänderlichen Kern ebenso wenig beeinträchtigen wie das Demokratieprinzip und das republikanische Prinzip.

Ein etwas versteckter Aspekt dabei ist, dass über den Verweis von Artikel 79 (3) auf Artikel 20 möglicherweise auch die Staatlichkeit Deutschlands nicht verloren gehen darf. Immerhin heißt es in Artikel 20: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat". Es kommt darauf an, ob man darunter eine Staatlichkeit versteht, wie sie auch den Ländern in der Bundesrepublik zugemessen wird, oder ob es sich darüber hinaus um eine souveräne Staatlichkeit handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage noch nicht eindeutig entschieden.

Im Übrigen hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die genannten Vorgaben der Verfassung nicht nur ergänzt, sondern sie liegt diesen Bestimmungen teilweise sogar voraus. Schließlich wurde Artikel 23, der spezielle "Europa-Artikel" des Grundgesetzes, erst 1992 in das Grundgesetz aufgenommen und hat dort " in dieser Symbolik durchaus beabsichtigt " den alten Artikel 23 abgelöst, über den 1990 die deutsche Wiedervereinigung vollzogen worden war. Bis dahin war für die Beteiligung der relativ unbestimmte Artikel 24 maßgeblich, der seit 1949 die Übertragung von Hochheitsrechten auf zwischenstaaatliche Einrichtungen vorsah.

Das Verfassungsgericht hat den damaligen EWG-Vertrag schon sehr früh eingestuft als "gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft" und das Gemeinschaftsrecht als "eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedsstaaten sind". Dabei deutete das Gericht die Möglichkeit verfassungsrechtlicher Kontrollvorbehalte bereits an. Die maßgeblichen Entscheidungen der Karlsruher Richter gruppieren sich im Wesentlichen um zwei Themenfelder: die Grundrechte und die europäischen Kompetenzen.

Mit der "Solange I-Entscheidung" vom 29. Mai 1974 setzte das Bundesverfassungsgericht dem Vorrang von Gemeinschaftsrecht verfassungsrechtliche Grenzen und legte einen entsprechenden verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt fest. Mit der "Solange II-Entscheidung" vom 22. Oktober 1986 bekräftigte Karlsruhe, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegt. Das Gericht hielt jedoch fest: Solange auf europäischer Ebene ein wirksamer Schutz der Grundrechte gewährleistet sei, der dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes im Wesentlichen entspricht und den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, werde das Gericht "seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben". Diesen Grundrechtsschutz sah das Bundesverfassungsgericht schon im Jahr 1986 auf europäischer Ebene als ausreichend an, also lange vor der Proklamation der Grundrechte-Charta im Jahr 2000, die mit dem Vertrag von Lissabon auch rechtsverbindlich werden soll. Die Solange-Formel aus dem Jahr 1986 ist heute in Artikel 23 des Grundgesetzes kodifiziert.

Das Grundgesetz hat die Integration flankiert

Mit dem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 begründete das höchste deutsche Gericht einen verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt für die Kompetenzausübung der EU beziehungsweise der EG: Demnach prüft es, ob Rechtsakte der europäischen Ebene aus den Grenzen der eingeräumten Hoheitsrechte ausbrechen. Offen bleibt in der Entscheidung, wo genau das deutsche Gericht im Einzelfall die Grenze zwischen (erlaubter) richterlicher Rechtsfortbildung und Auslegung einerseits und (unzulässiger) Vertragserweiterung andererseits beziehungsweise wesentlichen und unwesentlichen Änderungen der Kompetenzbestimmungen ziehen will " und wie diese Grenze im Einzelfall zu bestimmen ist.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die europäische Rechtsgemeinschaft heute aus deutscher Sicht im Grundsatz verfassungsrechtlich abgesichert und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt ist. In den ersten 60 Jahren seines Bestehens hat das Grundgesetz die europäische Integration also flankiert, und letztlich hat auch das Bundesverfassungsgericht die europäische Integration mehr gestützt als behindert. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Ausgangsbedingungen für die Mitwirkung an einem supranationalen Projekt über lange Jahrzehnte in Deutschland besonders günstig waren, schließlich war unser Land bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 nicht souverän. Und vielleicht ist es einfacher, auf Souveränitätsrechte zu verzichten, wenn die volle Souveränität gar nicht besteht.

Uneindeutige Signale aus Karlsruhe

So gesehen muss Deutschland, seit es die volle staatliche Souveränität wiedergewonnen hat, erst noch zeigen, wie ernst die Selbstverpflichtung aus der Präambel gemeint ist. Die Signale des Verfassungsgerichts sind hierzu bisher nicht eindeutig. In der "Görgülü-Entscheidung" vom 14. Oktober 2004 zur Bindung an Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg wird Souveränität als Beanspruchung eines "letzten Wortes der deutschen Verfassung" konzeptualisiert. Dies soll es Deutschland möglicherweise auch auf dem Gebiet der europäischen Integration gestatten, sich rechtlichen Bindungen, die Deutschland durch die Gründungsverträge zur EG und EU eingegangen ist, zu entwinden.

In seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon wird das Bundesverfassungsgericht 2009 möglicherweise deutlicher erkennen lassen, ob die Offenheit gegenüber der europäischen Integration auch für die nächsten Jahrzehnte Grundlage unserer Verfassung bleibt oder ob sich mit der zurückgewonnenen Souveränität früher oder später auch eine Relativierung des Staatsziels des vereinten Europas ergibt?

Vielleicht würde dies nur gewisse allgemeine gesellschaftliche Trends abbilden, die gar nicht auf Deutschland beschränkt sind. Zu nennen sind nicht nur die Referenden gegen den Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden im Jahr 2005 sowie das fehlgeschlagene irische Referendum 2008. Auch die europaskeptische Selbstinszenierung der Linkspartei und die zunehmende, teilweise diffuse, teilweise sachlich nicht begründete Europadistanz in vielen Medien und Diskursen sind Indizien dafür, dass das europäische Projekt verstärkt begründungsbedürftig ist.

Die Kategorie "Souveränität" greift zu kurz

In Wirklichkeit greift es in einer zunehmend globalisierten und interdependenten Welt aber zu kurz, sich an dem Begriff der Souveränität zu orientieren und in nationalen Kategorien zu denken. Denn in der " zumindest vordergründig " rationalen und objektiven Herrschaft des Rechts in den Beziehungen zwischen den europäischen Staaten, die durch supranationale Institutionen gewahrt wird, liegt nach wie vor der entscheidende zivilisatorische Fortschritt der europäischen Integration. Wo frühere Generationen auf die Schlachtfelder geschickt wurden, ringen heute Staats- und Regierungschefs bis zum Morgengrauen miteinander, und Staaten müssen sich vor dem Europäischen Gerichtshof oder der Kommission rechtfertigen.

Aber: Die europäische Integration nivelliert gegensätzliche nationale Interessen (noch) nicht, und die Motive für den EU-Beitritt sind wahrscheinlich von Anfang an vielschichtiger gewesen als nur die Friedenssicherung. Schon bei der Gründung der EU verbanden die Staaten mit der europäischen Integration sehr unterschiedliche Machtinteressen, sie positionierten sich beispielsweise angesichts der sich abzeichnenden Teilung der Welt in Ost und West. Für Deutschland ging es auch ganz generell um die Wiederaufnahme in den Kreis der zivilisierten Staaten.

Die Frage nach dem spezifischen Langzeitinteresse der verschiedenen Mitgliedsstaaten an der europäischen Integration macht deutlich, warum ausgerechnet Deutschland " unabhängig von Souveränität oder Nicht-Souveränität " gut beraten ist, eine europafreundliche und supranational ausgerichtete Politik zu verfolgen, die im Dienste des friedlichen Zusammenlebens in Europa steht. Dies gilt auch dann, wenn diese Politik angesichts der Größe und des ökonomischen Gewichts unseres Landes eigentlich unplausibel erscheint: Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert ist es Deutschland auf absehbare Zeit kaum möglich, nationale Interessen in intergouvernementalen, nationalstaatsorientierten Bahnen offen zu betonen und zu verfolgen.

Intergouvernementale Politik argumentiert stets mit einem bestimmten nationalen Interesse oder macht dieses jedenfalls sehr sichtbar. Im deutschen Fall würde sie in anderen europäischen Staaten nach wie vor unweigerlich auf historisch motivierte Widerstände stoßen. Die sichtbare Durchsetzung deutscher Interessen wird noch auf absehbare Zeit die Erinnerungen an die deutsche Schuld im 20. Jahrhundert wachrufen. Schon deswegen liegt es gerade im deutschen Interesse, dass europäische Politik nicht in den Bahnen nationalstaatlicher Auseinandersetzungen verläuft.

Fazit: Die europäische Integration hat zu mehr als 60 Jahren Frieden und Wohlstand in Europa maßgeblich beigetragen. Insofern war die Idee der Rechtsgemeinschaft, der Friedenssicherung durch Recht, erfolgreich. Das Grundgesetz hat diese Entwicklung gefördert und begleitet. In einer globalisierten und interdependenten Welt bietet die Ausrichtung auf ein vereintes Europa gerade heute Halt und Perspektive. Es wird sich zeigen, ob in Europa das Friedensmotiv dann noch Strahlkraft aufweist und in Anbetracht eines von vielen für immer selbstverständlicher gehaltenen Friedens attraktiv bleibt, wenn der Schock der Weltkriege längst verflogen und die politische Teilung Europas auch faktisch überwunden ist.

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